Wie weiter in der Reform der Schweizer Altersvorsorge? Lehren aus Erfahrungen in der Schweiz und Europa

Die Schweizer Stimmbevölkerung hat am 24. September 2017 die Vorlagen zur Reform der Altersvorsorge 2020 verworfen. An der Urne haben Vorbehalte von rechts wie links zu einem knappen Scheitern der Vorlage geführt. Die Reform der Altersvorsorge gibt auch in der schweizerischen Politikwissenschaft reichlich Anlass zur Diskussion. Eine Debatte in der Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft greift diese Diskussion auf und widmet sich Fragen zur Erklärung und zur Bewältigung dieser Problemstellung.

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Der Urnenentscheid vom 24. September 2017 reiht sich in eine Serie von Niederlagen in den Bemühungen zur Reform  der Altersvorsorge ein. Seit 1997 gelang es in der Schweiz nicht mehr, die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), die 1. Säule der Schweizer Altersvorsorge, zu reformieren. 2004 verwarf das Volk die 11. AHV-Revision. Ein weiterer Versuch scheiterte 2010 bereits im Parlament.

Nicht besser präsentiert sich die Lage bei der beruflichen Vorsorge, der 2. Säule der Altersvorsorge: Eine Vorlage zur Reform des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG) , scheiterte 2010 an der Urne ebenfalls deutlich.

 Unbestrittener Reformbedarf, umstrittener Reformpfad

Während der Reformbedarf schon seit langem unbestritten war, steigt der Reformdruck aufgrund verschiedener gesellschaftlicher Entwicklungen, namentlich des demographischen Wandels, stetig weiter an. Die entsprechenden Szenarien werden zunehmend bedrohlicher, die drohende finanzielle Schieflage der Altersvorsorge rückt zudem immer näher.

Vor dem Hintergrund des Scheiterns der früheren, getrennten Reformbestrebungen, wählte der Bundesrat für einen neuerlichen Reformversuch eine integrale Lösung: Die erste und zweite Säule sollten in einem ausgewogenen Gesamtpaket, bezeichnet als Altersvorsorge 2020, gemeinsam reformiert werden.

Aber auch diese Vorgehensweise erwies sich als nicht erfolgreich, selbst wenn die Volksentscheide zu den beiden Vorlagen knapper ausfielen als in den früheren Plebisziten.

Debatte in der Swiss Political Science Review

Nachdem das Volk erneut einen Vorschlag für eine ebenso bedeutende wie drängende Problematik zurückgewiesen hat, stellt sich für die politischen Akteure die Frage, wie es in Zukunft gelingen kann, erfolgreiche Lösungen zu entwickeln. Aus diesem Grund wird in der aktuellen Ausgabe der Swiss Political Science Review diese Problemstellung aus wissenschaftlicher Perspektive erläutert. Expertinnen und Experten zeigen darin aus verschiedenen Perspektiven auf, welche Schlüsse sich im Hinblick auf eine Überwindung der Reformwiderstände aufgrund der vorhandenen wissenschaftlichen Evidenz für die politische Praxis ziehen lassen.

Die ersten beiden Beiträge ziehen Lehren aus den Erfahrungen der Vergangenheit in der Schweiz einerseits, und aus den Erfahrungen anderer Länder andererseits. Klaus Armingeon nähert sich der Problematik aus einer historischen Perspektive und arbeitet institutionelle Erklärungsfaktoren für die mässige Reformfähigkeit der schweizerischen Altersvorsorge heraus. Er zeigt auf, wie es im schweizerischen politischen System mit ausgeprägtem Föderalismus und direktdemokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten progressive Politikreformen aufgrund der zahlreichen Veto-Positionen besonders schwer haben.

David Natali betrachtet die internationalen Entwicklungen der Rentensysteme mit besonderer Berücksichtigung von Dänemark, Deutschland sowie Italien. Dabei wird klar, dass Reformen der Altersvorsorge auch in anderen Ländern politisch stark umkämpft sind. Zudem zeigt er in seinem Beitrag auch auf, wie Reformen von Rentensystemen bei schwacher politischer Verankerung auch wieder rückgängig gemacht werden können. Diese Gefahr besteht in der Schweiz weniger, da die direkte Demokratie als reform-averse Institution einen sogenannten Sperrklinkeneffekt hat, d.h., dass ein einmal etabliertes System ebenso schwer zu verändern ist, wie es zuvor schwer war, es zu schaffen (vgl. Armingeon 2018).

Martin Eling stellt aus versicherungswissenschaftlicher Perspektive dar, dass schwerwiegende finanzielle Probleme in der Schweizer Altersvorsorgeder ohne tiefgreifende Reform unausweichlich ist. In seinem Beitrag zeigt er auf, welche Reformmöglichkeiten sich grundsätzlich anbieten und erläutert gleichzeitig, wieso gewisse Massnahmen (etwa die Erhöhung des Rentenalters) politisch als wenig realistisch erscheinen. Doch wie lässt sich politische Akzeptanz für Massnahmen erzielen, die unausweichlich mit spürbaren Einschnitten verbunden sind?

Und wie kann dies in einem politischen System mit direktdemokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten gelingen, wo die Aufgabe nicht nur darin besteht, eine ‚minimal winning coalition‘ innerhalb der politischen Elite für einen Reformvorschlag zu gewinnen, sondern auch bei den Bürgerinnen und Bürgern Akzeptanz für eine Reform generiert werden muss? Damit rückt die Frage der individuellen Meinungsbildung in den Fokus, welcher sich zwei weitere Debattenbeiträge widmen.

Der Debattenbeitrag von Silja Häusermann, Thomas Kurer, Michael Pinggera und Denise Traber zeigt dabei erst einmal in aller Deutlichkeit auf, wie steinig der politische Weg zu erfolgreichen, finanziell konsolidierenden Reformen in der Sozialpolitik ist. Denn die Mehrheit der Bevölkerung spricht sich sowohl gegen tiefere Rentenleistungen wie auch gegen ein höheres Rentenalter oder einen tieferen Umwandlungssatz aus. Bundesrat und Parlament haben sich erfolglos bemüht, vorgesehene Kürzungen mit Mehreinnahmen und Kompensationen auszubalancieren. Häusermann et al. zeigen auf wie sich Reformvarianten auf die Akzeptanz des Reformpakts auswirken.

Pascal Sciarini zieht Lehren aus den verschiedenen Analysen der Abstimmung vom September 2017 bezüglich Meinungsbildung auf individueller Ebene und möglichen Kampagneneffekten. Sein Beitrag stützt sich dabei im Wesentlichen auf drei mit unterschiedlichen Methoden durchgeführte Nachbefragungen zum eidgenössischen Urnengang vom 24. September 2017 und diskutiert kritisch die übereinstimmenden und divergierenden Befunde sowie deren Belastbarkeit.

Der Schlussbeitrag von Thomas Widmer und Silja Häusermann führt die Erkenntnisse aus den verschiedenen Debattenbeiträgen zusammen und skizziert auf deren Grundlage mögliche Entwicklungsperspektiven für eine zukunftsfähige Altersvorsorge in der Schweiz. Der Beitrag schliesst mit einem bislang wenig diskutierten Vorschlag, nämlich der Kopplung des Rentenalters an das Bildungsniveau bzw. das Einkommen. Widmer und Häusermann argumentieren, dass ein solcher Vorschlag die in der Debatte ermittelten Erfolgsbedingungen für eine Reform aus ökonomischer, sozialpolitischer und abstimmungstaktischer Sicht durchaus erfüllen könnte.


Referenzen:

Bild: Pixabay.

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