Machtverhältnisse in der Schweizer Politik: Parteien immer wichtiger, Interessenverbände immer weniger

Die Inter­es­sen­grup­pen haben in der Schwei­zer Poli­tik stark an Ein­fluss ver­lo­ren. Die­se Ent­wick­lung ver­lief par­al­lel zum Auf­stieg der SVP und der damit ein­her­ge­hen­den Pola­ri­sie­rung des Par­la­ments. Obwohl viel weni­ger dis­ku­tiert, hat der Ein­fluss­ver­lust von Inter­es­sen­grup­pen eben­falls gros­se Aus­wir­kun­gen auf die Poli­tik, vor allem auf das Gleich­ge­wicht zwi­schen ver­schie­de­nen nicht-staat­li­chen Akteu­ren. Die Kon­se­quenz davon ist, dass poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen immer weni­ger von Ver­bän­den gestal­tet wer­den, son­dern viel stär­ker von den Par­tei­en abhängen.

Die Par­tei­en, allen vor­an die SVP, hat über die Zeit an Ein­fluss gewon­nen, die Ver­bän­de haben an Ein­fluss ver­lo­ren (Abbil­dung 1). Dies zeigt ein Ver­gleich der wich­tigs­ten Ent­schei­dungs­pro­zes­se zwi­schen den 1970er und 2000er Jah­ren (Info­box 1).

Info­box 1: SNF-For­schungs­pro­jekt The Swiss decisi­on-making sys­tem in the 21th cen­tu­ry: power, insti­tu­ti­ons, conflicts.
Im Rah­men des vom Schwei­ze­ri­schen Natio­nal­fonds finan­zier­ten For­schungs­pro­jek­tes haben die Autoren, zusam­men mit Deni­se Tra­ber, die elf wich­tigs­ten Ent­schei­dungs­pro­zes­se zu Beginn des 21. Jahr­hun­derts unter­sucht. Dazu gehö­ren fol­gen­de Fäl­le: 11. AHV-Revi­si­on, Ver­fas­sungs­ar­ti­kel Bil­dung, Kern­ener­gie­ge­setz, Infra­struk­tur­fonds, Neu­er Finanz­aus­gleich, Neu­es Aus­län­der­ge­setz, Ent­las­tungs­pro­gramm 2003, Revi­si­on Fern­mel­de­ge­setz, Bila­te­ra­les Abkom­men Schen­gen-Dub­lin, Bila­te­ra­les Abkom­men Zins­be­steue­rung, Erwei­te­rung Per­so­nen­frei­zü­gig­keit. Die Unter­su­chun­gen basie­ren auf 251 Inter­views mit Ver­tre­tern der Ver­wal­tung, Par­tei­en, Inter­es­sen­grup­pen, Kan­to­nen und der Wis­sen­schaft. Die Erkennt­nis­se aus dem Pro­jekt sind im Som­mer 2015 in Buch­form (Scia­ri­ni, Fischer & Tra­ber) erschie­nen.
Regierungsparteien legen zu, Verbände verlieren 

Für die 1970er Jah­re schrie­ben nur knapp 40 Pro­zent der Befrag­ten der SVP eine ein­fluss­rei­che Stel­lung in poli­ti­schen Ent­schei­dungs­pro­zes­sen zu, heu­te sind es über 90%. Auch die SP, die FDP und die CVP haben in die­ser Zeit trotz Wäh­ler­ver­lus­ten an Ein­fluss auf die Poli­tik gewon­nen. Wäh­rend die meis­ten Bun­des­äm­ter eben­falls ein wenig an Ein­fluss zuge­legt haben, sind die Ver­bän­de die gros­sen Ver­lie­rer. Ihr Ein­fluss sank deut­lich. Wohl konn­te die Eco­no­mie­su­is­se ihre star­ke Stel­lung hal­ten, jedoch haben der Gewerk­schafts­bund, der Gewer­be­ver­band und der Bau­ern­ver­band seit 1970 beträcht­lich an Ein­fluss auf poli­ti­sche Ent­schei­dungs­pro­zes­se eingebüsst.

Abbildung 1:

Reputationsmacht

Lesehilfe: Die dunklen Balken zeigen die Kräfteverhältnisse in den Jahren 1970 – 1975, die hellen Balken repräsentieren die Jahre 2001 – 2006. Die Akteure sind nach aktueller Reputationsmacht geordnet, zur Erhebungsmethode siehe Infobox 2. Ein Wert von 100 bedeutet, dass der entsprechende Akteur von 100 Prozent der Interviewpartner als sehr einflussreich in der Schweizer Politik eingeschätzt wurde. (Santésuisse fehlt mangels eines gesundheitspolitischen Geschäftes in der Untersuchung, die KdK gab es in den 1970er Jahren noch nicht.) 
 
Themenschwerpunkte, Internationalisierung, Medienpräsenz

Bei­de Haupt­ent­wick­lun­gen, die Macht­zu­nah­me der Regie­rungs­par­tei­en – ins­be­son­de­re der SVP – und der Ein­fluss­ver­lust der Ver­bän­de, kön­nen auf die­sel­ben Ent­wick­lun­gen zurück­ge­führt wer­den. Es han­delt sich dabei um die Ver­än­de­rung der inhalt­li­chen Schwer­punk­te, die Inter­na­tio­na­li­sie­rung der Poli­tik, und die ver­än­der­te Medi­en­lo­gik (sie­he bei­spiels­wei­se Udris et al.).

  • In den 1970er und den 1980er Jah­ren waren (unter ande­rem wegen des Ölschocks) wirt­schafts- und sozi­al­po­li­ti­sche The­men beson­ders domi­nant. Dies sind Kern­the­men der gros­sen Inter­es­sen­ver­bän­de. Heu­te domi­nie­ren Ausländer‑, Euro­pa- oder Umwelt­the­men die poli­ti­sche Agen­da. Tra­di­tio­nel­le Ver­bän­de sind in die­sen Berei­chen weni­ger prä­sent. Hin­ge­gen pro­fi­tie­ren die the­ma­tisch brei­ter auf­ge­stell­ten Par­tei­en. Nicht zuletzt hat vor allem die SVP die poli­ti­sche Agen­da auch stark sel­ber beein­flus­sen können.

  • Die Schwei­zer Poli­tik hängt immer stär­ker von inter­na­tio­na­len Ent­wick­lun­gen ab. Dies stärkt die Ver­wal­tung, wel­che an inter­na­tio­na­len Ver­hand­lun­gen teil­nimmt und schwächt Ver­bän­de und Par­tei­en, wel­che die­se Mög­lich­keit meist nicht haben (sie­he Bei­trag im Tages-Anzei­ger). Wich­ti­ge Ent­schei­dun­gen wer­den immer häu­fi­ger in inter­na­tio­na­len Ver­hand­lun­gen und nicht mehr im natio­na­len Par­la­ment oder in Exper­ten­kom­mis­sio­nen gefällt. In kon­kre­ten Ent­schei­dungs­pro­zes­sen lei­den dar­un­ter sowohl Ver­bän­de als Par­tei­en. Indem sie die­sen Sou­ve­rä­ni­täts­ver­lust anpran­gert, kann die SVP davon aber auch profitieren.

  • Stel­lung­nah­men von poli­ti­schen Akteu­ren ver­brei­ten sich heut­zu­ta­ge schnell, spe­zi­el­le Ereig­nis­se blei­ben sel­ten unkom­men­tiert. Davon pro­fi­tie­ren poli­ti­sche Par­tei­en, deren Expo­nen­ten sich für Wah­len öffent­lich posi­tio­nie­ren müs­sen, und vor allem die SVP, wel­che das pro­fes­sio­nells­te Medi­en­ma­nage­ment aller Par­tei­en auf­ge­zo­gen zu haben scheint. Ver­bän­de lei­den unter die­ser Ent­wick­lung: Ver­trau­li­che Ver­hand­lun­gen und die Erar­bei­tung von reflek­tier­ten Kom­pro­mis­sen in Exper­ten­kom­mis­sio­nen sind auf­grund der ver­stärk­ten Medi­en­prä­senz erschwert.

Fundamentale Kräfteverschiebungen in der Schweizer Politik 

Die Schwei­zer Poli­tik erlebt mit dem Ein­fluss­ver­lust von tra­di­tio­nel­len Inter­es­sen­ver­bän­den eine zwei­te fun­da­men­ta­le Kräf­te­ver­schie­bung neben der Pola­ri­sie­rung der Par­tei­en­land­schaft und dem Auf­stieg der SVP. Par­tei­en und Ver­wal­tung sind heu­te mäch­ti­ge­re Akteu­re als frü­her, dafür haben vor allem der Gewerk­schafts­bund, der Gewer­be­ver­band und der Bau­ern­ver­band stark an Ein­fluss verloren.

Die berühm­te Sta­bi­li­tät und Kom­pro­miss­be­reit­schaft des poli­ti­schen Sys­tems der Schweiz basier­te tra­di­tio­nell stark auf dem Ein­fluss und der Zusam­men­ar­beit der wich­tigs­ten Ver­bän­de in der vor­par­la­men­ta­ri­schen Pha­se von Ent­schei­dungs­pro­zes­sen. Heu­te sind die par­la­men­ta­ri­sche Pha­se und die Par­tei­en als Akteu­re ein­fluss­rei­cher. Alles in allem ver­än­dert der Ver­lust an Ein­fluss der Ver­bän­de das Funk­tio­nie­ren der Schwei­zer Poli­tik min­des­tens so stark wie der Auf­stieg der SVP und die Pola­ri­sie­rung der Par­tei­en und des Parlaments.

Info­box 2: Repu­ta­ti­ons­me­tho­de
Bei der soge­nann­ten Repu­ta­ti­ons­me­tho­de wer­den die an einem poli­ti­schen Pro­zess betei­lig­ten Akteu­re (Z.B. Poli­ti­ker, Ver­wal­tungs­an­ge­stell­te, Ver­tre­ter von Inter­es­sen­grup­pen, etc.) im Rah­men von Inter­views oder Umfra­gen gebe­ten, den Ein­fluss von ande­ren Akteu­ren ein­zu­schät­zen. Meist wer­den dabei die Befrag­ten gebe­ten, auf einer vor­be­rei­te­ten Lis­te von Akteu­ren die aus ihrer Sicht sehr ein­fluss­rei­chen Akteu­re aus­zu­wäh­len. Die Aggre­ga­ti­on der Resul­ta­te pro Akteur infor­miert dann über den Anteil der Befrag­ten, wel­che einen gewis­sen Akteur als ein­fluss­reich anse­hen. Der Wert kann somit zwi­schen 0 (kei­ner der Befrag­ten schätzt den Akteur als ein­fluss­reich ein) und 100 (alle Befrag­ten schät­zen den Akteur als ein­fluss­reich ein). Dies ent­spricht einer gro­ben, aber breit abge­stütz­ten Über­sicht über die Macht­ver­hält­nis­se zwi­schen poli­ti­schen Akteu­ren. Die Metho­de macht sich also das Wis­sen der direkt an poli­tisch Pro­zes­sen betei­lig­ten Per­so­nen zu Nutzen.

Refe­ren­zen: 

Foto: Wiki­me­dia Commons

image_pdfimage_print