Wer Nichtwähler mobilisiert, der gewinnt Unterstützung für Umverteilungspolitik. Darauf deutet eine Analyse zum Stimmzwang in der Waadt hin.
Bei den Nationalratswahlen 2015 errang die SVP elf zusätzliche Mandate, während andere Parteien herbe Verluste hinnehmen mussten. Wie lässt sich dieser Erfolg erklären?
Nachwahlbefragungen legen nahe, dass die SVP politisch desinteressierte Wähler mobilisieren konnte: 40 Prozent jener Personen, die 2011 nicht wählen waren, aber 2015 an den Wahlen teilnahmen, gaben der SVP ihre Stimme. Die unterschiedliche Mobilisierung von Wählergruppen könnte also einen wichtigen Beitrag zur Erklärung von Wahl- und Abstimmungsergebnissen leisten. Dies ist einer der Gründe, warum sich die Politikwissenschaft zunehmend mit der Frage beschäftigt, ob und wie sich Abstimmungsergebnisse ändern würden, wenn mehr Wählerinnen und Wähler zur Urne gehen würden.
Einen Hinweis auf die politische Wirkung höherer Stimmbeteiligung bietet unsere Untersuchung zum Stimmzwang im Kanton Waadt, die in der Fachzeitschrift American Journal of Political Science erscheinen wird (Bechtel, Hangartner & Schmid 2015). Wir können in dieser Studie nachweisen, dass die massive Mobilisierung von Nichtwählern die Unterstützung für Anliegen sozioökonomisch schwächerer Bevölkerungsgruppen erhöht.
Unsere Forschung: Von klinischen Studien inspiriert
Die Wirkung einer veränderten Stimmbeteiligung überzeugend zu untersuchen, stellt eine echte Herausforderung dar. Idealerweise würde man ein und dieselbe Abstimmung zwei Mal beobachten: Ein Mal mit geringer Stimmbeteiligung und ein Mal mit hoher Stimmbeteiligung. Der Unterschied zwischen den beiden Ergebnissen wäre unter diesen Idealbedingungen die Wirkung der Stimmbeteiligung. Leider ist dieser Vergleich in der Realität natürlich nicht möglich. Denn wir beobachten eine Abstimmung immer nur ein einziges Mal. Um dieses Problem zu umgehen, haben wir uns darum von klinischen Studien inspirieren lassen.
Bei diesen Studien unterscheidet man zwischen einer Versuchsgruppe, die mit einem bestimmten Medikament behandelt wird und einer Kontrollgruppe, der entweder kein Medikament oder nur ein Placebo verabreicht wird. Wir untersuchen die Einführung des Stimmzwangs für eidgenössische Abstimmungen in der Waadt im Jahr 1925. Stimmbürger in der Waadt, die sich nicht an einer eidgenössischen Abstimmung beteiligten, wurde damals eine Busse in der Höhe von zwei Franken auferlegt. In anderen Kantonen hingegen wurden Nichtwähler nicht sanktioniert. Diese Kantone ohne Stimmzwang bilden eine ideale Kontrollgruppe, um die Auswirkungen des Stimmzwangs und den damit verbundenen Anstieg der Stimmbeteiligung zu erforschen.
Die höhere Stimmbeteiligung führte zu mehr Unterstützung für linke Anliegen
Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich die Stimmbeteiligung bei Abstimmungen in der Waadt nach Einführung des Stimmzwangs bei etwa 85 bis 90 Prozent einpendelte. Dies entspricht einer zusätzlichen Beteiligung von etwa 30 Prozentpunkten. Gleichzeitig erhöhte sich die Unterstützung für politisch links ausgerichtete Vorlagen um etwas mehr als zehn Prozentpunkte, von knapp 30 auf über 40 Prozent.
Dieser Effekt ist in der Abbildung ersichtlich. Die Abbildung zeigt die durchschnittliche Unterstützung für politisch linke Vorlagen bei eidgenössischen Volksabstimmungen für jeweils fünf Abstimmungstermine pro Punkt für die Waadt (rot) und die Kontrollkantone (blau). Die graue Fläche kennzeichnet den Zeitraum, in dem die Waadt den Stimmzwang praktizierte. Die grüne Linie gibt den geschätzten Effekt des Stimmzwangs wieder. Im Durchschnitt erhielten Vorlagen mit politisch links ausgerichtetem Inhalt auf Grund des Stimmzwangs zwischen 8 und 16 Prozentpunkte mehr Ja-Stimmen.
Anmerkung: Die Abbildung zeigt den durchschnittlichen Stimmenanteil für politisch links orientierte Vorlagen bei eidgenössischen Abstimmungen bezogen auf die Anzahl aller gültigen Stimmen in der Waadt (rote Linie) und der Kontrollgruppe (blau). Die grüne Linie zeigt die Wirkung des Stimmzwangs.
Für mehr Umverteilung und einen starken Staat
Weitergehende Analysen zeigen, dass die zusätzlichen Stimmen besonders die Unterstützung für zentrale Pfeiler des Schweizerischen Sozialstaats und andere Kernanliegen linker Politik stärkten. Beispielsweise erhöhte der Stimmzwang in der Waadt die Unterstützung für die sogenannte Kriseninitiative im Jahr 1935 um etwa 22 Prozentpunkte. Diese Initiative sah einen nationalen Mindestlohn und eine grosszügigere Arbeitslosenhilfe vor. Von der hohen Wahlbeteiligung profitierte auch die Initiative der SP zur Festsetzung eines Rechts auf Arbeit im Jahr 1947: Dank des Stimmzwangs und der damit verbundenen hohen Wahlbeteiligung erhielt diese Vorlage 30 Prozentpunkte mehr Stimmen als sie ohne den Stimmzwang erhalten hätte.
Wir vermuten, dass der Stimmzwang vor allem die Beteiligung von Personen mit geringem Einkommen erhöhte, die eine stärkere Umverteilung und umfangreichere soziale Sicherungssysteme befürworten. Diese Resultate decken sich mit den Ergebnissen von Studien zu den Auswirkungen des Stimmzwangs in Australien und Österreich.
Wahl- und Abstimmungsanalysen zeigen jedoch, dass Bürgerinnen und Bürger mit geringem Einkommen heutzutage vermehrt nicht nur Anliegen der politischen Linken, sondern oft auch ideologisch rechte Zielsetzungen unterstützen. Inwieweit unsere historischen Befunde somit auf die heutige Zeit übertragbar sind, bleibt deshalb offen. Bislang existiert kein entsprechendes Experiment, das über die tatsächlichen Auswirkungen einer veränderten Wahlbeteiligung auf politische Entscheidungen in überzeugender Weise Aufschluss geben könnte.
Referenz:
Bechtel, Michael M., Dominik Hangartner und Lukas Schmid (2015). Does Compulsory Voting Increase Support for Leftist Policy? American Journal of Political Science (Im Erscheinen).
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