Politik und Wahlen: Kein Hobby der Jungen

Jün­ge­re Wahl­be­rech­tig­te gehen viel sel­te­ner wäh­len als älte­re. Das poli­ti­sche Inter­es­se wächst mit dem Alter. Wun­der­mit­tel, um die Wahl­teil­nah­me der jun­gen Men­schen sprung­haft zu erhö­hen, gibt es nicht. 

In der Schweiz neh­men unge­fähr drei von zehn jun­gen Erwach­se­nen an den Wah­len teil. Bei den älte­ren Wahl­be­rech­tig­ten ist die Teil­nah­me deut­lich höher. Die Schweiz ist kein Ein­zel­fall. Das poli­ti­sche Inter­es­se und die poli­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on stei­gen mit zuneh­men­dem Alter. Das zei­gen welt­weit alle Unter­su­chun­gen zum Thema.

Abbildung: Die Wahlteilnahme der Erstwählenden und der Gesamtbevölkerung im Vergleich (1995–2003)

Kantonale Wahlen

Quel­le: Beye­ler et al. (2015), Anmer­kung: Das Stimm­rechts­al­ter liegt in der Schweiz bei 18 Jah­ren. Zu den Erst­wäh­len­den wur­den alle Befrag­ten im Alter von 18–21 Jah­ren gezählt. Daten: Selects (2012)

In den letz­ten zwan­zig Jah­ren lang die Wahl­be­tei­li­gung der Erst­wäh­len­den in der Schweiz im Durch­schnitt immer zwi­schen zehn und zwan­zig Pro­zent­punk­ten tie­fer als die der Gesamt­be­völ­ke­rung (sie­he Abbil­dung). Der Tief­stand wur­de 1995 erreicht, nur 23 Pro­zent der Erst­wäh­len­den gin­gen damals an die Urne. 2003 erreich­te die Wahl­teil­nah­me der Jun­gen mit 35 Pro­zent ein Rekordhoch.

Wieso gehen Junge nicht an die Urne? 

Die Erklä­rung dafür liegt in der Lebens­pha­se, in der sich jun­ge Men­schen befin­den. Sie ste­hen beim Errei­chen des Stimm­rechts­al­ter noch mit­ten in der Aus­bil­dung oder suchen gera­de den Ein­stieg ins Berufs­le­ben. Sie haben in der Regel eher wenig Geld zur Ver­fü­gung, sind viel­leicht gera­de aus dem Eltern­haus in eine ande­re Stadt gezo­gen und ste­hen in einer ers­ten län­ge­ren Bezie­hung. Jun­ge Men­schen müs­sen ihren Platz im Leben erst fin­den. Poli­tik ist dar­um für vie­le ziem­lich weit von dem ent­fernt, was in ihrem All­tag gera­de wich­tig ist. Die­ses situa­ti­ons­be­ding­te Des­in­ter­es­se und die Kom­ple­xi­tät des Wahl­sys­tems in der Schweiz sind die Haupt­grün­de für die gerin­ge Wahl­be­tei­li­gung der Jungen.

Politisches Interesse steigt im Alter

In spä­te­ren Lebens­pha­sen woh­nen vie­le Men­schen bereits län­ger in einer Gemein­de, gene­rie­ren ein höhe­res Ein­kom­men, bezah­len Steu­ern und Abga­ben, besit­zen mög­li­cher­wei­se Wohn­ei­gen­tum und haben Kin­der. Dann inter­es­sie­ren sie sich in der Regel stär­ker für Poli­tik und ihre Fol­gen, was dazu führt, dass die Betei­li­gung an Wah­len und Abstim­mun­gen mit zuneh­men­dem Alter steigt. 

Wäre das nicht so, wäre die Wahl­be­tei­li­gung in der Schweiz seit Jahr­zehn­ten rück­läu­fig. Dem ist aber nicht so. Bei eid­ge­nös­si­schen Abstim­mun­gen neh­men seit den 1970er Jah­ren im Durch­schnitt knapp die Hälf­te der Stimm­be­rech­tig­ten teil. Bei Wah­len war die Tal­soh­le in den 1990erJahren erreicht. Im Zuge der Pola­ri­sie­rung des Schwei­zer Par­tei­en­sys­tems hat die Wahl­teil­nah­me wie­der leicht zuge­nom­men. Auch die jun­gen Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler gin­gen aus die­sem Grund bei den letz­ten Wahl­gän­gen etwas häu­fi­ger an die Urne. Den­noch ist es in vie­len Krei­sen akzep­tiert, ein Nicht­wäh­ler zu sein, wobei gera­de die jün­ge­ren Genera­tio­nen in die­sem Bewusst­sein auf­ge­wach­sen sind.

Mobilisierung der Jungen in aller Munde 

Die Wahl­be­tei­li­gung und die Mobi­li­sie­rung der Jun­gen ist ein breit dis­ku­tier­tes The­ma. Seit eini­ger Zeit wer­den ver­schie­de­ne Mass­nah­men dis­ku­tiert, die die Teil­nah­me erhö­hen sol­len, bei­spiels­wei­se die Sen­kung des Wahl­rechts­al­ters oder die Ein­füh­rung des elek­tro­ni­schen Wählens. 

Im Wahl­jahr ver­su­chen ver­schie­de­ne Pro­jek­te, unter ihnen easy­vo­te und polit­box, mit spe­zi­ell auf Jun­ge zuge­schnit­te­nen Kam­pa­gnen die Infor­ma­ti­on zur Wahl­teil­nah­me zu ver­ein­fa­chen und Jun­ge zum Wäh­len zu motivieren.

Auch Par­tei­en wol­len Erst­wäh­le­rin­nen und Erst­wäh­ler an die Urne brin­gen. Sie tun dies unter ande­rem mit Lis­ten ihrer Jung­par­tei­en. Jede drit­te der ein­ge­reich­ten Lis­ten für die Wah­len 2015 stammt von einer Jung­par­tei (124 von 422). Der Erfolg die­ser Lis­ten in den letz­ten Wahl­gän­gen war jedoch äus­serst beschei­den: Kein ein­zi­ges Mal wur­de von einer Lis­te einer Jung­par­tei jemand ins natio­na­le Par­la­ment gewählt. Die erfolgs­ver­spre­chen­den jun­gen Kan­di­die­ren­den wer­den von den Par­tei­en in der Regel auf die eige­ne Haupt­lis­te gesetzt. 

Ausser Spesen nichts gewesen? 

Die Wis­sen­schaft ist eben­falls skep­tisch, was den Erfolg der Bemü­hun­gen, die Jun­gen an die Urne zu locken, angeht. Vie­le der dis­ku­tier­ten Mass­nah­men kön­nen kei­nen mess­ba­ren Bei­trag zur Stei­ge­rung der Wahl­be­tei­li­gung leisten:

  • Die Sen­kung des Wahl­rechts­al­ter hät­te wenig Ein­fluss auf die Wahl­be­tei­li­gung der Jun­gen. Wie Befra­gun­gen zei­gen, wünscht die gros­se Mehr­heit der Jun­gend­li­chen zudem gar kein tie­fe­res Wahl­rechts­al­ter. Nur ohne­hin an Poli­tik inter­es­sier­te Jugend­li­che möch­ten frü­her wäh­len und abstim­men gehen kön­nen (vgl. Beye­ler et al. 2015). 

  • Elek­tro­ni­sches Wäh­len wür­de eben­falls vor allem von jenen genutzt, die sowie­so vor haben, an den Wah­len teilzunehmen.

  • Ein­fa­che­re Infor­ma­tio­nen zu den Wah­len und spe­zi­el­le Kam­pa­gnen für Jun­ge haben zwar das Poten­ti­al, die Betei­li­gung zu stei­gern, sie errei­chen aber vor allem jene, die bereits für Poli­tik sen­si­bi­li­siert sind.

  • Gra­tis­zei­tun­gen wer­den zwar von vie­len Jun­gen regel­mäs­sig gele­sen, doch auch Jun­ge lesen selek­tiv und neh­men in ers­ter Linie die Infor­ma­tio­nen mit, für die sie sich interessieren. 

Das Grund­pro­blem, dass Poli­tik und Wah­len unter­halb der Wahr­neh­mungs­schwel­le vie­ler jun­gen Men­schen liegt, löst man nicht mit spe­zi­el­len Mass­nah­men: wer sich über­haupt nicht für Poli­tik und Wah­len inter­es­siert, wird auch kei­ne dies­be­züg­li­chen Infor­ma­tio­nen aufnehmen.

Effektive Massnahmen: Stimmzwang und weniger Vorlagen

Die genann­ten Bemü­hun­gen haben also, wenn über­haupt, nur einen gerin­gen posi­ti­ven Effekt auf die Wahl­be­tei­li­gung der Jun­gen. Mass­nah­men, die die Wahl­be­tei­li­gung tat­säch­lich erhö­hen wür­den, sind hin­ge­gen poli­tisch nicht mehrheitsfähig: 

  • Wahl­pflicht: Es gibt Län­der, die defi­nie­ren den Akt des Wäh­lens nicht als Recht, son­dern als Pflicht. In Län­dern, in denen Wäh­len obli­ga­to­risch ist und Nicht-Wäh­len mit einer Bus­se bestraft wird, ist die Betei­li­gung mas­siv höher als in Län­dern, in denen die Wahl­teil­nah­me frei­wil­lig ist. 

  • Reduk­ti­on der Urnen­gän­ge: Die Schweiz ist ein­sa­me Spit­ze, was die Häu­fig­keit der Wahl- und Abstim­mungs­ter­mi­ne angeht. Im Durch­schnitt geht jeweils weni­ger als die Hälf­te der Stimm- und Wahl­be­rech­tig­ten an die Urne. Aller­dings sind es nicht immer die glei­chen Per­so­nen, die sich betei­li­gen. Unter­su­chun­gen zei­gen, dass in der Schweiz inner­halb von vier Jah­ren mehr als vier von fünf Per­so­nen min­des­tens ein­mal an die Urne geht (Scia­ri­ni et al. 2015). Es ist davon aus­zu­ge­hen, dass die Betei­li­gung an ein­zel­nen Urnen­gän­gen stei­gen wür­de, wenn die­se weni­ger oft statt­fin­den würden. 

Bei­de Mass­nah­men sind aller­dings kaum rea­li­sier­bar. Die Wahl­pflicht wur­de in der Schweiz aus­ser im Kan­ton Schaff­hau­sen über­all abge­schafft. Auch die Reduk­ti­on der Urnen­gän­ge ist wenig rea­lis­tisch. Dis­kus­sio­nen um Mass­nah­men, die die Nut­zung der Volks­rech­te in der Schweiz ein­schrän­ken wür­den, sind in der Ver­gan­gen­heit immer bereits früh im Keim erstickt worden. 

Ist die tiefe Teilnahme ein Problem? 

Demo­kra­tie bedingt die Betei­li­gung der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger an poli­ti­schen Pro­zes­sen. Eine hohe Teil­nah­me an Wah­len und Abstim­mun­gen ist dar­um wünschenswert.

In der direkt­de­mo­kra­ti­schen Schweiz ist die Teil­nah­me viel tie­fer als in den meis­ten andern Län­dern, in denen die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger in der Regel nur alle paar Jah­re das Par­la­ment und allen­falls noch die Regie­rung wäh­len kön­nen. Die Legi­ti­ma­ti­on des poli­ti­schen Sys­tems oder ein­zel­ne poli­ti­sche Ent­schei­de wur­den hier­zu­lan­de aber trotz­dem nie in Fra­ge gestellt, auch wenn sich weni­ger als die Hälf­te der Stimm­be­tei­lig­ten an einem Urnen­gang betei­ligt hat.

Wah­len und Abstim­mun­gen wür­den nur sel­ten anders aus­fal­len, wenn die Betei­li­gung höher wäre (Lutz und Mar­sh 2007). Die poli­ti­schen Prä­fe­ren­zen sind in allen Alters­grup­pen sowie zwi­schen Wäh­len­den und Nicht-Wäh­len­den sehr ähn­lich ver­teilt. Das heisst, auch wenn sich mehr Jun­ge betei­li­gen wür­den oder die Betei­li­gung ins­ge­samt höher wäre, gäbe es nur dann ande­re Ergeb­nis­se, wenn die Mobi­li­sie­rung gewis­ser Grup­pen sehr ein­sei­tig wäre. Doch eine der­art ein­sei­ti­ge Mobi­li­sie­rung gibt es eigent­lich nie. 

INFOBOX: Höhe­re Teil­nah­me dank poli­ti­scher Bildung?

Vie­le inter­na­tio­na­le Unter­su­chun­gen zei­gen, dass der Grund­stein für das poli­ti­sche Inter­es­se im Eltern­haus gelegt wird. Kin­der und Jugend­li­che, die in poli­tisch inter­es­sier­ten Fami­li­en auf­wach­sen, haben eine viel höhe­re Wahr­schein­lich­keit, spä­ter eben­falls poli­tisch inter­es­siert zu sein und an Wah­len teil­zu­neh­men. Poli­ti­sches Inter­es­se in der Fami­lie lässt sich aber nicht staat­lich steuern.

Ein Ver­such, das Ver­ständ­nis für Poli­tik, Grund­wer­te und das Gemein­we­sen zu för­dern, wird dafür mit poli­ti­scher Bil­dung in den Schu­len unter­nom­men. Schu­len kön­nen poli­ti­sches Inter­es­se wecken, wenn Poli­tik lebens­nah ver­mit­telt wird. Dies­be­züg­lich besteht in der Schweiz ein gewis­ser Nach­hol­be­darf. Im Gegen­satz zu bei­spiels­wei­se Frank­reich, wo ab der Pri­mar­schu­le die Wer­te der Repu­blik ver­mit­telt wer­den, fris­te­te die poli­ti­sche Bil­dung in der Schweiz lan­ge Zeit ein Mau­er­blüm­chen­da­sein. Seit eini­gen Jah­ren gibt es aller­dings Bestre­bun­gen, die poli­ti­sche Bil­dung gesamt­schwei­ze­risch voranzutreiben. 


Refe­ren­zen: 

  • Beye­ler, Michel­le, Sarah Büti­ko­fer und Isa­bel­le Sta­del­mann-Stef­fen (2015). Ich und mei­ne Schweiz. Befra­gung von 17-jäh­ri­gen Jugend­li­chen in der Schweiz. Bern: Eid­ge­nös­si­sche Kom­mis­si­on für Kin­der- und Jugend­fra­gen (EKKJ). 

  • Blais, André (2014). Why is tur­nout so low in Switz­er­land? Com­pa­ring the atti­tu­des of Swiss and Ger­man citi­zens towards elec­to­ral demo­cra­cy. Swiss Poli­ti­cal Sci­ence Review 4/2014: 520–528.

  • Blais, André und Dani­el Ruben­son (2013). The Source of Tur­nout Decli­ne: New Values or New Con­texts? Com­pa­ra­ti­ve Poli­ti­cal Stu­dies, Jg. 46, Heft 1: 95–117.

  • Lutz, Georg und Micha­el Mar­sh (2007). Intro­duc­tion: Con­se­quen­ces of low tur­nout. Elec­to­ral Stu­dies 3/2007: 539–547.

  • Scia­ri­ni, P., Cap­pel­let­ti, F., Gold­berg, A. C., & Lanz, S. (2015). The Under­ex­plo­red Spe­ci­es: Selec­ti­ve Par­ti­ci­pa­ti­on in Direct Demo­cra­tic Votes.Swiss Poli­ti­cal Sci­ence Review.

  • Selects (2012). Eid­ge­nös­si­sche Wah­len 2011. Natio­na­les Kom­pe­tenz­zen­trum für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten (FORS), Lau­sanne. Daten­satz. http://forscenter.ch/de/our-surveys/selects/

Foto: Flickr

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