Die Nichtwählenden – bislang unentdeckte Wesen

Wie steht es um die Schwei­zer Demo­kra­tie, wenn die Mehr­heit gar nicht mit­macht? Eine Annä­he­rung an die Nicht­wäh­le­rin­nen und ‑wäh­ler zeigt: Es gibt zahl­rei­che Grün­de für Wahl­ab­sti­nenz – und vie­le davon sind kein Grund zur Sorge.

Wahlen und Waehlerschaft

Die Mehr­heit der Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer lässt die Wahl­lo­ka­le links lie­gen. Obschon die Bestel­lung poli­ti­scher Reprä­sen­tan­ten in frei­en und glei­chen Wah­len eine der zen­tra­len Errun­gen­schaf­ten unse­rer Demo­kra­tie dar­stellt, über­ragt in den Natio­nal- und Stän­de­rats­wah­len die Par­tei der Nicht­wäh­ler fort­wäh­rend jene der Wäh­ler. Doch wer sind die­se Nicht­wäh­le­rin­nen? Gibt es unter­schied­li­che Typen von Wahl­ab­sti­nen­ten? Und aus wel­chen Beweg­grün­den bleibt die Mehr­heit der Wahl­ur­ne fern?

Ant­wor­ten auf die­se Fra­gen sucht man meist ver­ge­bens, da die Wahl­for­schung ihr Augen­merk eher auf die Wäh­len­den als auf die Absti­nen­ten rich­tet. Dadurch ver­mö­gen wir zwar die Wäh­len­den von den Nicht­wäh­len­den zu unter­schei­den. Eine ein­ge­hen­de Cha­rak­te­ri­sie­rung Letz­te­rer fin­det sich dage­gen nur sehr sel­ten in der poli­tik­wis­sen­schaft­li­chen Lite­ra­tur. Dabei erscheint es höchst unwahr­schein­lich, dass es sich bei der Nicht­wäh­ler­schaft um eine ein­heit­li­che, mono­li­thi­sche Grup­pe von Per­so­nen han­delt, die alle aus ein und dem­sel­ben Grund der Urne fern­blei­ben. Falls nun ver­schie­de­ne Nicht­wäh­ler­ty­pen hin­sicht­lich ihrer poli­ti­schen Fähig­kei­ten und Ein­stel­lun­gen dif­fe­ren­ziert wer­den könn­ten, dann wäre das Weh­kla­gen in der öffent­li­chen Debat­te über die schein­bar uni­so­no des­in­ter­es­sier­te, ent­täusch­te und abge­wand­te schwei­gen­de Mehr­heit nur teil­wei­se berechtigt.

In der Theo­rie las­sen sich drei Umstän­de unter­schei­den, war­um Men­schen nicht an Wah­len teil­neh­men: Ent­we­der wol­len sie nicht, weil es ihnen an Moti­va­ti­on man­gelt. Oder sie kön­nen nicht, weil ihnen die nöti­gen Res­sour­cen und Aus­bil­dun­gen feh­len. Mit­un­ter wer­den sie aber auch von nie­man­dem auf­ge­for­dert, weil sie sozi­al unzu­rei­chend ein­ge­bun­den sind. Wer­den die­se mög­li­chen Grün­de in unter­schied­li­cher Wei­se mit­ein­an­der kom­bi­niert und mit den Daten von 4391 im Jah­re 2011 befrag­ten Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zern unter­legt, las­sen sich im Nach­gang zu den letz­ten Natio­nal­rats­wah­len sechs Nicht­wäh­ler-Typen iden­ti­fi­zie­ren (sie­he Grafik):

Typen der Schweizer Nichtwählerschaft in Prozent

Anmer­kung: Bedingt durch gerun­de­te Wer­te ergibt die Sum­me nicht 100 Prozent.

Die sechs Typen

Cha­rak­te­ri­sie­ren las­sen sich die ver­schie­de­nen Typen von Nicht­wäh­len­den wie folgt:

  • Die zufrie­de­nen, aber eher des­in­ter­es­sier­ten Nicht­wäh­len­den bil­den mit 25 Pro­zent die gröss­te Grup­pe inner­halb der Nicht­wäh­ler­schaft. Sie zei­gen ein unter­durch­schnitt­li­ches poli­ti­sches Inter­es­se, äus­sern aber poli­ti­sches Ver­trau­en und all­ge­mei­ne Zufrie­den­heit mit dem Funk­tio­nie­ren der Demo­kra­tie. Zudem üben sie hin und wie­der alter­na­ti­ve For­men poli­ti­scher Par­ti­zi­pa­ti­on wie etwa Pro­tes­tie­ren oder das Sam­meln von Unter­schrif­ten aus. Im Gegen­satz zur Moti­va­ti­on man­gelt es die­ser Grup­pe näm­lich nicht an Res­sour­cen oder Netz­wer­ken. Viel­mehr ver­fü­gen sie über ein rela­tiv hohes Ein­kom­men und Bil­dungs­ni­veau und sind fami­li­är und sozi­al recht gut ein­ge­bun­den. In sozio­de­mo­gra­phi­scher Hin­sicht fällt auf, dass die zufrie­de­nen, aber wenig inter­es­sier­ten Nicht­wäh­len­den eher in gros­sen Haus­hal­ten leben, wäh­rend ihr Alter und die Grös­se ihres Wohn­or­tes im Durch­schnitt liegen.

  • Die Grup­pe der inkom­pe­ten­ten Nicht­wäh­len­den kommt auf rund 20 Pro­zent. Sie hat ein im Ver­gleich gerin­ges Ein­kom­men und Bil­dungs­ni­veau sowie eine kärg­li­che sozia­le Ein­bin­dung zu bekla­gen. Die Mit­glie­der die­ser Grup­pe sind unzu­frie­den mit dem Funk­tio­nie­ren der Demo­kra­tie und haben kaum Ver­trau­en in Regie­rung und Par­la­ment. Als Grün­de der Nicht­wahl geben sie an, sich nicht für Poli­tik zu inter­es­sie­ren, die­se als zu kom­pli­ziert zu emp­fin­den, die Kan­di­die­ren­den nicht zu ken­nen und sich über­dies nicht ent­schei­den zu kön­nen. Es ver­wun­dert daher nicht, dass nur die wenigs­ten von ihnen an vor­he­ri­gen Wah­len und Abstim­mun­gen teil­ge­nom­men haben oder ande­ren Arten poli­ti­scher Betei­li­gung nach­ge­hen. Die­se Nicht­wäh­len­den sind ins­be­son­de­re in klei­nen Haus­hal­ten und mitt­le­ren bis grös­se­ren Gemein­den zu finden.

  • Die sozi­al iso­lier­ten Nicht­wäh­len­den machen etwa 18 Pro­zent aus. Ihnen fehlt es weni­ger an Res­sour­cen, son­dern eher an Moti­va­ti­on und sozia­ler Ein­bet­tung. Das ver­gleichs­wei­se hohe Bil­dungs­ni­veau, der sel­te­ne Kirch­gang und der ledi­ge Fami­li­en­stand las­sen sich durch das im Ver­gleich jüngs­te Durch­schnitts­al­ter erklä­ren. Beson­ders auf­fäl­lig sind die feh­len­de Kan­di­da­ten­kennt­nis als Grund der Absti­nenz, das gerin­ge Ver­trau­en in die Poli­tik sowie die Sel­ten­heit poli­ti­scher Dis­kus­sio­nen mit Fami­lie, Freun­den oder Kol­le­gen. Iso­liert von einem poli­tisch moti­vie­ren­den Umfeld, fällt es beson­ders schwer, staats­bür­ger­li­che Rech­te, Pflich­ten und Fähig­kei­ten zu erler­nen und einzuüben.

  • Die poli­tisch ver­dros­se­nen Nicht­wäh­len­den sind mit 16 Pro­zent ver­tre­ten. Noch weit­aus mehr als der vor­he­ri­gen Kate­go­rie fehlt es den Mit­glie­dern die­ser Grup­pe an der Moti­va­ti­on, sich an Wah­len zu betei­li­gen. Sie zei­gen das gerings­te poli­ti­sche Inter­es­se, den sel­tens­ten Nach­rich­ten­kon­sum und das wenigs­te Wis­sen über poli­ti­sche Sach­ver­hal­te aller Nicht­wäh­ler­grup­pen. Zudem besteht ein Man­gel an Res­sour­cen, was ihre Bil­dung und das Ein­kom­men betrifft. Fer­ner sug­ge­rie­ren die ver­gleichs­wei­se hohe Unzu­frie­den­heit mit der Demo­kra­tie, das Miss­trau­en den poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen gegen­über, die gerin­ge Par­teiiden­ti­fi­ka­ti­on und der sel­te­ne Aus­tausch über Poli­tik, dass die Nicht­wahl ein Aus­druck von tie­fer sit­zen­dem Ver­druss ist. Die­se Grup­pe ist ten­den­zi­ell eher in klei­nen Gemein­den und dem poli­tisch lin­ken Lager zuhause.

  • Die abstim­men­den Nicht­wäh­len­den machen 13 Pro­zent der Nicht­wäh­ler­schaft aus. Sie spie­len in man­cher­lei Hin­sicht eine Son­der­rol­le. Eigent­lich ver­ei­nen sie vie­le Vor­aus­set­zun­gen für eine Wahl­teil­nah­me: Ver­tre­ter die­ses Typs inter­es­sie­ren sich sehr für Poli­tik, lesen häu­fig poli­ti­sche Nach­rich­ten in der Zei­tung und ken­nen sich in der Poli­tik gene­rell gut aus. Zudem sind ihnen sogar die Kan­di­die­ren­den bekannt, und Poli­tik erscheint ihnen nicht all­zu kom­pli­ziert. Aller­dings wei­sen die Mit­glie­der die­ser Grup­pe kei­ne all­zu gros­sen Bil­dungs- und Ein­kom­mens­res­sour­cen auf. Über­dies hal­ten die­se Befrag­ten Volks­ab­stim­mun­gen für wich­ti­ger als Wah­len und kon­sul­tie­ren damit lie­ber die Abstim­mungs- als die Wahl­ur­ne. Die­se abstim­men­den Nicht­wäh­len­den sind ten­den­zi­ell jün­ger und woh­nen eher in klei­nen Haus­hal­ten in gros­sen Gemeinden.

  • Die unkon­ven­tio­nell Par­ti­zi­pie­ren­den sind mit nur 9 Pro­zent die kleins­te Grup­pe unter der Nicht­wäh­ler­schaft. Zwar wei­sen Mit­glie­der die­ser Grup­pe einen hohen Grad an poli­ti­schem Inter­es­se auf und sind sozi­al recht gut ein­ge­bun­den. Aller­dings fal­len die finan­zi­el­le Aus­stat­tung und das Human­ka­pi­tal eher gering aus. Auf­fäl­lig ist in die­ser Grup­pe der aus­ge­spro­chen hohe Anteil aus­ge­üb­ter unkon­ven­tio­nel­ler Par­ti­zi­pa­ti­ons­for­men abseits der Wahl- und Stim­mu­r­ne in Bür­ger­initia­ti­ven, in Par­tei­en oder auf der Stras­se. Aller­dings ist dies nicht als Pro­test gegen das poli­ti­sche Sys­tem zu ver­ste­hen. Denn die­ser Typus des Nicht­wäh­len­den zeich­net sich durch eine gros­se Zufrie­den­heit mit der Demo­kra­tie, eine star­ke Iden­ti­fi­ka­ti­on mit Par­tei­en und durch hohes Ver­trau­en in die Poli­tik aus. Schliess­lich liegt in die­ser Grup­pe das Durch­schnitts­al­ter am höchs­ten, und es wird am häu­figs­ten im per­sön­li­chen Umfeld über poli­ti­sche The­men diskutiert.

Aus Zufriedenheit

Wie sind die­se Ergeb­nis­se nun zu bewer­ten? Eine gerin­ge Wahl­be­tei­li­gung wird inner­halb der Poli­tik­wis­sen­schaft gene­rell dif­fe­ren­zier­ter beur­teilt als in der öffent­li­chen Debat­te, in der viel­fach und vor­schnell über Poli­tik­ver­dros­sen­heit und das Ende der Demo­kra­tie ora­kelt wird. Aller­dings lässt sich mit den zur Ver­fü­gung ste­hen­den Umfra­ge­da­ten kein grund­sätz­li­cher Trend hin zu Miss­trau­en, Des­in­ter­es­se und Poli­tik­ver­dros­sen­heit in der Bevöl­ke­rung bele­gen. Aus die­sem Grund erscheint eine ver­gleichs­wei­se gerin­ge Wahl­be­tei­li­gung weit weni­ger dra­ma­tisch und kann zu einem Teil auch als Aus­druck der Zufrie­den­heit mit dem poli­ti­schen Sys­tem gedeu­tet wer­den. Zumin­dest legen dies eini­ge Typen in der Schwei­zer Nicht­wäh­ler­schaft nahe.

Aus Ohnmacht und Unvermögen

Mit demo­kra­tie­theo­re­ti­scher Sor­ge müs­sen dage­gen die Grup­pen der sozi­al Iso­lier­ten und Inkom­pe­ten­ten betrach­tet wer­den, die schlicht­weg nicht in der Lage sind, sich am poli­ti­schen Pro­zess zu betei­li­gen. Hier sind For­de­run­gen nach poli­ti­schen Inter­ven­tio­nen durch­aus berech­tigt. Dabei soll­te es weni­ger dar­um gehen, die­se Nicht­wäh­ler­grup­pen mit allen Mit­teln (wie etwa einer Wahl­pflicht) zur Teil­nah­me zu bewe­gen. Viel­mehr ist ange­ra­ten, Hin­der­nis­se wie die feh­len­de poli­ti­sche Kom­pe­tenz durch ver­mehr­te poli­ti­sche Auf­klä­rung und Bil­dung zu überwinden.

Hin­weis: Die­ser Text erschien auch in « Uni­Press – das Wis­sen­schafts­ma­ga­zin » (Heft-Nr. 165). 


Refe­renz: 

  • Fat­ke, Mat­thi­as und Mar­kus Frei­tag (2015): Wol­len sie nicht, kön­nen sie nicht oder wer­den sie nicht gefragt? Nicht­wäh­ler­ty­pen in der Schweiz, in: Mar­kus Frei­tag und Adri­an Vat­ter (Hrsg.): Wah­len und Wäh­ler­schaf­ten in der Schweiz. Ana­ly­sen anläss­lich der Eid­ge­nös­si­schen Wah­len 2015. Zürich, NZZ Verlag. 

Foto: Flickr

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