Grüne Parteien haben in Europa in den letzten Jahrzehnten an Einfluss gewonnen. Gefährden sie mit ihren gesellschaftspolitisch fortschrittlichen Positionen den Wohlfahrtsstaat? Eine neue Untersuchung zeigt genau das Gegenteil: Sowohl die grünen Parteien als auch ihre Wählenden stehen für eine pro-wohlfahrtsstaatliche Politik ein.
Seit drei Jahrzehnten gewinnen in der europäischen Politik sowohl grüne wie auch rechtsnationale Parteien an Wählerstärke. Diese Entwicklung kann auf die verstärkten gesellschaftspolitischen Konflikte in den Bereichen Migration, Minderheitenrechte und europäische Integration zurückgeführt werden. Grüne und rechtspopulistische Parteien mobilisieren ihre Wählerschaft mit diesen Themen. Gesellschaftspolitisch progressive Wähler:innen geben ihre Stimme tendenziell grünen Parteien, gesellschaftspolitisch konservative Personen rechtspopulistischer Parteien.
Bisweilen wird der Aufstieg der grünen Parteien als Bedrohung für die traditionelle Linke angesehen. Grüne Wähler:innen stammen in der Regel aus der gebildeten Mittelschicht. Wenn sie verteilungspolitisch nicht links positioniert sind, gefährdet dies die Unterstützung des Wohlfahrtstaates dieser Gruppe von Wählenden. Eine Vermutung ist die, dass den grünen Wähler:innen gesellschaftspolitische Fragen wichtiger sind als um verteilungspolitische Themen. Unsere Analyse widerlegt jedoch diese Annahme. Wir zeigen, dass grüne Wähler:innen Teil der pro-wohlfahrtsstaatlichen Koalition sind und dass auch grüne Parteien in ihren Parteiprogrammen dem Wohlfahrtsstaat Priorität einräumen.
Die Nachfrageseite: Die Verteilungspräferenzen der grünen Wählerschaft
Die grünen Parteien werden in erster Linie von der gebildeten “neuen” Mittelschicht unterstützt, insbesondere von der jüngeren, weiblichen und hochgebildeten Bevölkerungsgruppe, die in städtischen Gebieten lebt (Kriesi, 1998, Bremer and Schwander 2022, Dolezal 2023). Sie profitieren vom Wandel von einer industriellen zu einer post-industriellen Dienstleistungswirtschaft. Entgegen den Befürchtungen, dass der Wohlfahrtsstaat durch den Aufstieg der grünen Parteien geschwächt wird, unterstützt diese neue Mittelschicht eine grosszügige Wohlfahrtspolitik (siehe Macarena Ares’ Forschungsbericht).
Der Wandel hin zu einer postindustriellen Wirtschaft hat zu einer Diversifizierung der Mittelschicht geführt. Dabei wird zwischen dem herkömmlichen Bürgertum (der alten Mittelschicht) und den aufstrebenden Fachkräften in Dienstleistungsberufen wie Lehrkräften, Pflegepersonal und Journalist:innen (der neuen Mittelschicht) unterschieden. Diese Unterscheidung zeigt sich auch in den politischen Einstellungen. Der neuen Mittelschicht sind Werte wie Egalitarismus und Individualismus wichtig, weil sie durch regelmässigen Kontakt mit Kund:innen oder Patient:innen soziale Bedürfnisse stärker wahrnimmt (Kitschelt 1994, Oesch 2006). Diese als “links-libertär” bezeichnete Denkweise steht im Einklang mit der Ideologie grüner Parteien und fördert die Unterstützung des Wohlfahrtsstaates.
Das Arbeitsumfeld der neuen Mittelschichten betont soziale Interaktion, Kreativität und Solidarität und prägt ihre Einstellung zur Sozialpolitik (Kitschelt and Rehm 2014). Ausserdem bietet der Sozial- und Bildungssektor der neuen Mittelschicht zahlreiche Arbeitsmöglichkeiten, wodurch dessen Fortbestand und Weiterentwicklung auch im eigenen Interesse der neuen Mittelklasse liegt.
Resultate
Abbildung 1 illustriert die Unterstützung der grünen Wähler:innen für den Wohlfahrtsstaat. Auf der Grundlage des European Social Survey (2016), zeigt die Abbildung die vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten für die Links-Rechts-Selbsteinstufung von Befragten sowie ihre Einstellung zu staatlicher Umverteilung. Letzteres misst, ob die Befragten in klassisch verteilungspolitischem Sinne links sind. Wir vergleichen die Werte der grünen Wählerschaft mit denen der sozialdemokratischen Wählerschaft, die traditionell den Wohlfahrtsstaat verteidigen.
Abbildung 1: Vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten für die Links-Rechts-Einordnung und die Unterstützung für Umverteilung nach Parteizugehörigkeit
Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto · Datenquelle: Bremer und Schwander (2022) & European Social Survey (2016)
Aus der Abbildung geht deutlich hervor, dass Wähler:innen der Grünen linke Wähler:innen sind. Im Vergleich mit der Wählerschaft sozialdemokratischer Parteien, stufen sich grüne Wähler:innen weder weiter rechts ein (linke Seite), noch sprechen sie sich weniger für Umverteilung aus (rechte Seite). Im Einklang mit den bereits dargelegten Argumenten stehen damit die Wähler:innen der Grünen verteilungspolitisch links und zählen zur Unterstützungskoalition des Wohlfahrtsstaats.
Doch geht es in der Ausgestaltung der Sozialpolitik nicht nur um die Leistungen des Wohlfahrtsstaates, sondern vor allem um dessen Ziel: Soll er den Bürger:innen die Teilhabe an der postindustriellen Wirtschaft ermöglichen, indem er in ihre Erwerbsfähigkeit investiert und Beschäftigungshindernisse beseitigt, oder soll er vor allem ihr Einkommen im Falle eines Beschäftigungsverlustes kompensieren? Das erste Modell des Wohlfahrtsstaates entspricht einem investitionsorientierten und aktivierenden Wohlfahrtsstaat, während das Zweite die kompensatorische Funktion des Wohlfahrtstaats betont (Beramendi et al. 2015). Gemäss eines häufig gehörten Narrativs befürworten grüne Wähler:innen zwar die Investitionsfunktion des Wohlfahrtsstaates, lehnen aber seine kompensatorische Funktion ab. Abbildung 2 widerlegt auch dieses Argument. Die Abbildung zeigt die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit der Unterstützung für die sozialinvestive und sozialkonsumptive Funktionen des Wohlfahrtstaats von grünen und sozialdemokratischen Wähler:innen.
Abbildung 2: Vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten für die Unterstützung der kompensatorischen und investitionsorientierten Funktion nach Parteizugehörigkeit
Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto · Datenquelle: Bremer und Schwander (2022) & European Social Survey (2016)
Wir sehen, dass grüne Wähler:innen soziale Investitionen tatsächlich etwas stärker unterstützen als sozialdemokratische Wähler:innen (siehe mittleres Feld), aber ihre Unterstützung für den für den sozialkonsumptiven Wohlfahrtsstaat ist nicht signifikant geringer als bei sozialdemokratischen Wähler:innen. Die rechte Seite von Abbildung 2 zeigt, ob die Befragten eher in die Ausbildung von Arbeitslosen investieren oder deren Einkommensverluste ausgleichen würden. Dabei zeigt sich, dass grüne Wähler:innen soziale Investitionen nicht weniger unterstützen als sozialdemokratische Wähler:innen. Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass grüne Wähler:innen einen investitionsorientierten Wohlfahrtsstaat unterstützen, aber nicht auf Kosten des sozialkonsumptiven Wohlfahrtsstaat.
Die Angebotsseite: Der Wohlfahrtsstaat als wichtiges Thema für grüne Parteien
Das Argument, dass der Aufstieg der grünen Parteien eine Bedrohung für den Wohlfahrtsstaat darstellt, suggeriert, dass grüne Parteien gesellschaftspolitischen Fragen Vorrang vor der Verteilungspolitik einräumen. Diese Vorstellung bezieht sich auf den gesellschaftlichen Ursprung der grünen Bewegung. Grüne Parteien sind aus den sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre hervorgegangen und treten entsprechend für postmaterielle Werte wie Umweltschutz, Minderheitenrechte oder individuelle Freiheit ein. Dennoch spiegelt sich diese Betonung der individuellen Freiheit auch in den Positionen der grünen Parteien zum Wohlfahrtsstaat wider.
Entgegen der Vorstellung, dass sich grüne Parteien primär auf gesellschaftspolitische Themen konzentrieren, zeigen Schwander und Röth (2021) anhand Daten des Comparative Manifesto Project, dass sozialstaatliche Themen ein zentraler Bestandteil ihrer Parteiprogramme sind, insbesondere seit den 2010er Jahren. Wohlfahrtsstaat-Themen sind demnach wichtig für die ideologische Attraktivität der grünen Parteien und werden zunehmend bedeutender.
Darüber hinaus führt eine Regierungsbeteiligung grüner Parteien zu höheren Ausgaben für soziale Investitionen (Roeth and Schwander 2021). Dies unterstreicht ihr Engagement für Verteilungsfragen und ihre Rolle in linksgerichteten Koalitionen.
Abschliessende Gedanken zur verteilungspolitischen Wirkung des Aufstiegs der Grünen
Dieser Forschungsbericht befasst sich mit den Befürchtungen, dass der Aufstieg grüner Parteien den Wohlfahrtsstaat gefährdet. Dabei wird häufig der vermeintliche wirtschaftliche Konservatismus grüner Wähler:innen genannt, und dass grüne Parteien gesellschaftspolitischen Fragen Vorrang vor der Wohlfahrtspolitik einräumen würden. Diese Behauptungen konnten durch unsere Analysen widerlegt werden. Die Präferenzen der grünen Wählerschaft sind mit einer progressiven Wohlfahrtsstaatspolitik vereinbar (siehe Matthias Enggists Forschungsbericht) und grüne Parteien setzen sich auch tatsächlich dafür ein sobald sie in Regierungsverantwortung stehen.
Die grüne Wählerschaft vertritt eine linke Ideologie und unterstützt staatliche Eingriffe in die Wirtschaft. Was die Ausrichtung des Wohlfahrtsstaates auf soziale Investitionen oder sozialen Konsum angeht, so befürworten grüne Wähler:innen soziale Investitionen stark, jedoch nicht auf Kosten des sozialkonsumptiven Wohlfahrtsstaates.
Unsere Analysen zeigen, dass der Rückgang der traditionellen linken Wählerschaft die Umverteilungspolitik nicht zu schwächen scheint. Es gibt also keinen trade-off zwischen kulturell progressiver und ökonomisch progressiver Politik (siehe Silja Häusermanns and Tarik Abou-Chadis Forschungsbericht). Stattdessen ergibt es die Möglichkeit, dass sich neue Koalitionen bilden, die sich sowohl auf wirtschaftliche Gleichheit als auch auf soziokulturelle Inklusion und Nachhaltigkeit stützen und so eine fortschrittliche Wohlfahrtsstaatsagenda wirksam unterstützen.
Dieser Beitrag basiert auf:
Bremer, Björn and Hanna Schwander. 2022. The Distributive Preferences of Green Voters in Times of Electoral Realignment, working paper.
Röth, Leonce and Hanna Schwander. 2021. “Greens in government. The distributive policies of a culturally progressive force”. West European Politics, 44(3): 661-689.
Referenzen:
Beramendi, Pablo, Silja Häusermann, Herbert Kitschelt, and Hanspeter Kriesi. 2015. The Politics of Advanced Capitalism. Cambridge: Cambridge University Press.
Dolezal, Martin (2023). Die Schweizer Grünen im europäischen Vergleich, in: Die Grünen in der Schweiz. Entstehung, Wirken, Perspektiven. Sarah Bütikofer und Werner Seitz (Hrsg). Zürich: Seismo.
Kitschelt, Herbert and Philipp Rehm. 2014. Occupations as a site of political preference formation. Comparative Political Studies, 47(12), 1670–1706.
Oesch, Daniel. 2006. Redrawing the Class Map. Stratification and Institutions in Britain, Germany, Sweden and Switzerland. Basingstoke: Palgrave Macmillan
Kitschelt, Herbert 1994. The Transformation of the European Social Democracy. New York: Cambridge University Press.
Kriesi, Hans-Peter. 1998. The transformation of cleavages politics: The Stein Rokkan lecture. European Journal of Political Research (33), 165–185.
Hinweis: Dieser Beitrag ist eine übersetzte und gekürzte Fassung eines Research Briefs von PPRNet.
Der Beitrag wurde von Remo Parisi übersetzt.
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