In Zeiten der Austerität gestaltet es sich für sozialdemokratische Parteien schwierig, mit wirtschaftspolitischen Programmen zu überzeugen. In einigen europäischen Ländern haben sich die sozialdemokratischen Parteien daher an der fiskalpolitischen Orthodoxie orientiert und in Folge der globalen Finanzkrise Austeritätsmassnahmen unterstützt. Diese Politik stiess jedoch an ihre Grenzen, als im Zuge der COVID-19-Pandemie die Regierungen vieler Länder umfangreiche finanzielle Unterstützungspakete für Unternehmen und Private geschnürt haben.
Nach der Pandemie haben sozialdemokratische Parteien erneut Schwierigkeiten, sich in der Fiskalpolitik klar zu positionieren. Zudem müssen sie entscheiden, welche Schwerpunkte ihrer Parteiprogrammatik Priorität haben und stehen dabei insbesondere vor der Frage, ob der ökologischen Wandel mit öffentlichen Mittel unterstützt werden kann, ohne den dafür im 20. Jahrhundert aufgebauten Wohlfahrtsstaat zu opfern.
Forschungsergebnisse zeigen, dass das Festhalten an einer fiskal-konservativen Finanzpolitik von einem Mythos getrieben wird: dem Glauben, dass dies die Wahlergebnisse der Sozialdemokratie verbessert. Dieser Mythos beruht auf zwei falschen Annahmen. Erstens wird davon ausgegangen, dass die fiskalpolitische Orthodoxie die Glaubwürdigkeit und Wahlfähigkeit sozialdemokratischer Parteien erhöht. Zweitens wird angenommen, dass sich die Umsetzung von staatlichen Sparmassnahmen nicht negativ auf die Wahlergebnisse sozialdemokratischer Parteien auswirkt.
Das ist aber ein Trugschluss. Es ist unwahrscheinlich, dass steuerpolitisch konservativ eingestellte Wählerinnen und Wähler des politischen Zentrums sozialdemokratische Parteien wählen, auch wenn diese Parteien staatliche Sparmassnahmen unterstützen. Diese Wählersegmente geben ihre Stimme tendenziell Mitte-Rechts-Parteien, die für Haushaltsdisziplin einstehen. Mitte-Links-Parteien gewinnen dann in der Wählergunst, wenn sie Politiken unterstützen, die mit der ganzen Breite ihrer programmatischen Ziele in Einklang stehen.
Die Entzauberung des Mythos: Sozialdemokratische Parteien profitieren nicht von fiskal-konservativer Finanzpolitik
In den letzten Jahrzehnten haben viele sozialdemokratische Parteien die Austeritätspolitik Europas mitgetragen. Nach der globalen Finanzkrise wurde das Bekämpfen von Staatsschulden in vielen Ländern zu einem der wichtigsten wirtschaftlichen Probleme. Dies brachte das Erhöhen von Staatsausgaben in Verruf, während die Forderungen nach einer drastischen Sparpolitik in vielen europäischen Ländern auch von sozialdemokratischen Parteien als notwendiges Übel akzeptiert wurden.
Sozialdemokratische Parteien standen unter Druck, ihre Wählerschaft nicht zu verlieren. So sprachen auch sie sich für finanzpolitische Massnahmen aus, die das Ziel hatten, Staatsdefizite zu bekämpfen. Mit der Übernahme solcher Positionen hofften sie, ihre Kompetenz in Fragen der Finanzpolitik zu unterstreichen, um damit wieder Wahlen zu gewinnen. Diese Strategie hat in einigen Fälle in der Vergangenheit auch funktioniert. So errungen Tony Blair und Gordon Brown, die sich ganz einer konservativen Finanzpolitik verschrieben hatten, in Grossbritannien im Jahr 1997 einen erdrutschartigen Wahlsieg.
Aktuelle Untersuchungen zeigen jedoch, dass diese Strategie aus zwei Gründen mehrheitlich nicht funktioniert. Erstens widerspricht eine fiskal-konservative Finanzpolitik zentralen Elementen der sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik. Sozialdemokratische Parteien unterstützen traditionell den Wohlfahrtsstaat und setzen auf staatliche Regulierungen. Staatliche Sparmassnahmen gefährden jedoch die Nachhaltigkeit des Wohlfahrtstaats, was das Einstehen der Sozialdemokratie für den Schutz der schwächsten Mitglieder einer Gesellschaft untergräbt.
Zweitens erhöhen sozialdemokratische Parteien durch die Unterstützung von Sparmassnahmen die Salienz dieser Thematik in der politischen Debatte. Indem sie der allgemeinen Annahme Folge leisten, die besagt, dass harte Sparmassnahmen notwendig sind, legitimieren auch sie entsprechende Argumente, allerdings ohne von diesem Positionsbezug zu profitieren. Sozialdemokratischen Parteien werden in der Finanzpolitik als weniger kompetent wahrgenommen als die anderen Parteien. Dies verschafft vor allem Mitte-Rechts-Parteien einen wichtigen strategischen Vorteil: Sie können behaupten, dass sie die „richtigen“ wirtschaftlichen Massnahmen unterstützen und gleichzeitig darauf bestehen, dass sie besser darin sind, diese auch umzusetzen.
Für die Sozialdemokratie resultiert daraus ein Dilemma. Zum einen ist es unwahrscheinlich, dass finanzpolitisch konservativ eingestellte Wählerinnen und Wähler sozialdemokratische Parteien wählen. Sie bevorzugen Mitte-Rechts-Parteien, die traditionell für Haushaltsdisziplin einstehen.
Dies lässt sich am Beispiel der britischen Labour Party im Wahlkampf 2015 veranschaulichen. Sie führte eine dreifache „Haushaltssperre” auf der ersten Seite ihres Wahlprogramms ein und versprach, das Haushaltsdefizit und die Staatsverschuldung zu reduzieren. Die Daten der British Election Study zeigen aber, dass Bürgerinnen und Bürger, die eine Defizitreduktion unterstützen, eine geringere Wahrscheinlichkeit aufwiesen, die Labour Party zu wählen als Personen, die die Defizitreduktion für unnötig hielten (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: Geschätzter Zusammenhang der Einstellung zum Haushaltsdefizit und der Absicht, 2015 die Labour Party zu wählen
Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto • Datenquelle: Bremer (2023, Kap. 8) basierend auf der British Election Study.
Anmerkung: Die Abbildung zeigt geschätzte Regressionskoeffizienten und 95-Prozent-Konfidenzintervalle basierend auf OLS-Regressionen. Die Frage zur Messung der Einstellungen in Bezug auf das Haushaltsdefizit lautete wie folgt: “Für wie notwendig ist es Ihrer Meinung nach, dass die britische Regierung das Haushaltsdefizit in den nächsten drei Jahren beseitigt – mit Haushaltsdefizit ist die Differenz zwischen dem, was die Regierung ausgibt, und dem, was sie an Steuergeldern einnimmt, gemeint?”
Derartige Versprechen führen aber gleichzeitig auch dazu, dass Stammwählende der Sozialdemokratische Parteien demobilisiert werden. Altgediente Wählende sprechen sich in der Regel gegen eine drastische Sparpolitik und gegen die Neupositionierung von Mitte-Links-Parteien hin zur politischen Mitte aus. Austerität ist daher keine Wahlkampfstrategie, die den sozialdemokratischen Parteien zu Erfolg verhilft. Sie verstärkt vielmehr die Haltung, dass die fiskal-konservative Finanzpolitik ein notwendiges Übel ist, ohne dass dadurch Wahlvorteile entstehen würden.
Sozialdemokratische Parteien verlieren, wenn sie (bestimmte Formen von) fiskal-konservativer Finanzpolitik umsetzen
Es ist ebenfalls ein Mythos, dass sozialdemokratische Parteien dafür belohnt werden, wenn sie eine fiskal-konservativer Finanzpolitik umsetzen. Diese Überzeugung beruht auf der Vorstellung, dass sozialdemokratische Parteien Wählende aus dem politischen Zentrum gewinnen und gleichzeitig die Unterstützung ihrer Stammwählenden behalten können.
Die aktuelle Forschung legt jedoch etwas anderes nahe: Eine empirische Untersuchung in zwölf westeuropäischen Ländern für den Zeitraum von 2005 bis 2017 ergab, dass die Wähleranteile sozialdemokratischer Parteien im Durchschnitt um einen Prozentpunkt sanken, wenn sie der Regierung angehörten und Sparmassnahmen ankündigten (siehe Abbildung 2).
Abbildung 2: Durchschnittlicher marginaler Effekt von Sparmassnahmen auf die Unterstützung sozialdemokratischer Parteien nach Amtszeit
Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto • Datenquelle: Bremer (2023, Kap. 8) basierend auf eigenen Daten und Kodierung.
Anmerkung: Die Abbildung zeigt den durchschnittlichen marginalen Effekt und die 95-Prozent Konfidenzintervalle, welche die Korrelation zwischen Sparmassnahmen und der Popularität sozialdemokratischer Parteien schätzen, basierend darauf, ob sie der Regierung oder der Opposition angehören. Die Abbildung basiert auf allen Sparpaketen, die von Regierungen zwischen 2005 bis 2017 in 12 europäischen Ländern angekündigt wurden. Die in die Analyse einbezogenen Länder sind Österreich, Dänemark, Finnland, Deutschland, Griechenland, Island, Irland, Italien, Portugal, Spanien, die Niederlande und das Vereinigte Königreich.
Eine ähnliche Analyse, die sechzehn hochentwickelte Volkswirtschaften im Zeitraum von 1978 bis 2014 umfasst, zeigt, dass sozialdemokratische Parteien bei Wahlen nach der Umsetzung von Haushaltsparmassnahmen an Unterstützung verlieren. Sparmassnahmen, die Ausgaben kürzen (z.B. Investitionen oder die Löhne der Beschäftigten im öffentlichen Sektor), schaden wichtigen sozialdemokratischen Wählergruppen und führen zu erheblichen Wahlniederlagen. Massnahmen die zusätzliche Einnahmen generieren, insbesondere durch progressive Steuererhöhungen, sind eine weniger gewagte Alternative für Mitte-Links-Parteien. Diese Resultate legen nahe, dass das Unterstützen von Austeritätsmassnahmen durch Linksparteien eine politisch riskante Strategie ist und höchstwahrscheinlich zu den Wahlniederlagen in den 2010er Jahren beigetragen haben.
Abbildung 3: Voraussichtlicher Stimmenanteil der sozialdemokratischen Parteien nach Konsolidierungsgrad in verschiedenen Regionen und Status der Amtsinhaberschaft
Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto • Datenquelle: Bremer (in Vorbereitung) basierend auf Daten von Alesina et al. (2019).
Anmerkung: Diese Abbildung zeigt die vorhergesagten Auswirkungen auf das Wahlergebnis, die Ausgabenkürzungen oder Steuererhöhungen in verschiedenen Bereichen haben können, die im Jahr vor einer Wahl angekündigt wurden, in Abhängigkeit davon, ob die Mitte-Links-Parteien zum Zeitpunkt t-1 in der Regierung waren oder nicht. Die in die Analyse einbezogenen Länder sind Australien, Österreich, Belgien, Kanada, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Grossbritannien, Irland, Italien, Italien, Portugal, Spanien, Schweden und die Vereinigten Staaten.
Diskussion und Implikationen
Sozialdemokratische Parteien fühlen sich bisweilen dazu gezwungen, fiskal-konservative Haushaltspolitiken zu übernehmen. Die Umsetzung der „Austerität von links“ kommt aber den sozialdemokratischen Parteien nicht zugute, im Gegenteil, sie schmälern ihre Wahlchancen. Nur in Zeiten wirtschaftlicher Stabilität waren zentristische Politiken für die Linke erfolgversprechend. In Zeiten wirtschaftlicher Umbrüche und globalen Krisen priorisieren Wählende den Schutz vulnerabler Gruppen und erwarten langfristige strukturelle Reformen statt kurzfristige Massnahmen zur Schuldensenkung.
In Zeiten des Klimawandels und der wirtschaftlichen Stagnation haben progressive Parteien die Möglichkeit, Unterstützung für öffentliche Investitionen, einen starken Sozialstaat und funktionierende öffentliche Dienstleistungen zu mobilisieren. Dieser Ansatz ist tragfähiger als ein widersprüchliches Programm vorlegen, was Austerität unterstützt und gleichzeitig behauptet, die öffentlichen Dienstleistungen und den Wohlfahrtsstaat zu schützen – eine Strategie, die in der Vergangenheit gescheitert ist und wahrscheinlich auch in Zukunft wieder scheitern würde.
Dieser Beitrag basiert auf:
- Bremer, Björn. 2023. Austerity from the Left: Social Democratic Parties in the Shadow of the Great Recession. Oxford: Oxford University Press.
- Bremer, Björn. Forthcoming. “The electoral consequences of centrist policies: Fiscal consolidations and the fate of social democratic parties.” In Häusermann, Silja and Kitschelt, Herbert (eds.), Beyond Social Democracy: The Transformation of the Left in Emerging Knowledge Societies. Cambridge: Cambridge University Press.
Referenzen:
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Hinweis: Dieser Beitrag ist eine übersetzte und gekürzte Fassung eines Research Briefs von PPRNet.
Der Beitrag wurde von Sarah Bütikofer übersetzt.
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