Ausländerrecht hält Migrantinnen und Migranten von Sozialhilfebezug ab

In der Schweiz hat der Sozi­al­hil­fe­be­zug migra­ti­ons­recht­li­che Kon­se­quen­zen – bis hin zum Ver­lust der Auf­ent­halts­be­wil­li­gung. Dies kann dazu füh­ren, dass aus­län­di­sche Per­so­nen auf Sozi­al­hil­fe verzichten.

Sozi­al­hil­fe ist für vie­le Men­schen in der Schweiz das letz­te Auf­fang­netz. Und zwar dann, wenn sie kei­ne Erwerbs­tä­tig­keit fin­den, ihr Ver­mö­gen auf­ge­braucht ist und all­fäl­li­ge Sozi­al­ver­si­che­rungs­leis­tun­gen (ins­be­son­de­re der Arbeits­lo­sen­ver­si­che­rung, der Inva­li­den­ver­si­che­rung oder der AHV) nicht aus­rei­chen, um den Lebens­un­ter­halt zu sichern.

Die Sozi­al­hil­fe ist kan­to­nal gere­gelt – es gibt kein Bun­des­ge­setz, das vor­schreibt, wie die Sozi­al­hil­fe aus­ge­stal­tet sein muss. Für die Berech­nung der Sozi­al­hil­fe hat die Schwei­ze­ri­sche Kon­fe­renz für Sozi­al­hil­fe (SKOS) Richt­li­ni­en ver­öf­fent­licht. Die­se legen unter ande­rem fest, wel­che Mass­nah­men die beruf­li­che und sozia­le Inte­gra­ti­on von Per­so­nen, die Sozi­al­hil­fe bezie­hen, unter­stüt­zen sol­len. Die SKOS-Richt­li­ni­en gel­ten in der schwei­ze­ri­schen Sozi­al­po­li­tik und in der Gerichts­pra­xis als ver­bind­li­che Richt­grös­se. Aller­dings kön­nen die Kan­to­ne von die­sen Emp­feh­lun­gen abwei­chen oder nur Tei­le davon anwenden.

Ent­spre­chend bestehen zwi­schen den Kan­to­nen Unter­schie­de in Bezug auf die Höhe der Sozi­al­hil­fe oder auch der Rück­erstat­tungs­pflicht. Denn Sozi­al­hil­fe­gel­der müs­sen in der Schweiz, im Gegen­satz zu Län­dern wie Deutsch­land oder Öster­reich, in bestimm­ten Fäl­len zurück­be­zahlt werden.

Ausländerrechtliche Konsequenzen

Für aus­län­di­sche Per­so­nen kann der Sozi­al­hil­fe­be­zug Fol­gen haben: So muss, wer die Schwei­zer Staats­bür­ger­schaft erhal­ten will, die wäh­rend der letz­ten drei Jah­re bezo­ge­ne Sozi­al­hil­fe zurück­er­stat­ten (Art. 7 Abs. 3 BüV). Zudem kön­nen die zustän­di­gen Behör­den sowohl die Auf­ent­halts- als auch die Nie­der­las­sungs­be­wil­li­gung auf­grund von Sozi­al­hil­fe­be­zug ent­zie­hen oder deren Ver­län­ge­rung ablehnen.

Ver­schärft hat sich die Situa­ti­on mit dem Inkraft­tre­ten des Aus­län­der- und Inte­gra­ti­ons­ge­set­zes (AIG) im Jahr 2019. Seit­her sind aus­län­di­sche Per­so­nen mit einer Nie­der­las­sungs­be­wil­li­gung und einer Auf­ent­halts­dau­er von min­des­tens 15 Jah­ren nicht mehr vor einem Bewil­li­gungs­ent­zug bei Sozi­al­hil­fe­be­zug geschützt.

Aus­ser­dem müs­sen die Sozi­al­diens­te den Sozi­al­hil­fe­be­zug einer aus­län­di­schen Per­son den zustän­di­gen Migra­ti­ons­be­hör­den unauf­ge­for­dert mel­den. Die­se Ver­schrän­kung von Migra­ti­ons­recht und Sozi­al­hil­fe­be­zug gelangt zuneh­mend in den Fokus der For­schung. Sie war auch Gegen­stand eines abge­schlos­se­nen For­schungs­pro­jektes im Rah­men des Natio­na­len For­schungs­schwer­punk­tes NCCR – on the move, der The­men rund um Migra­ti­on und Mobi­li­tät erforscht.

Die Stu­di­en­ergeb­nis­se zei­gen, dass Migra­ti­ons­äm­ter teil­wei­se die Auf­ga­ben von Sozi­al­diens­ten über­neh­men, etwa wenn sie die aus­län­di­sche Per­son mit der Andro­hung des Ent­zugs der Auf­ent­halts­be­wil­li­gung für den Arbeits­markt «akti­vie­ren». Umge­kehrt über­neh­men die Sozi­al­diens­te Auf­ga­ben der Migra­ti­ons­kon­trol­le, wenn sie die «Inte­gra­ti­on» der Sozi­al­hil­fe­be­zie­hen­den im Dienst von migra­ti­ons­recht­li­chen Ent­schei­den kon­trol­lie­ren und bewer­ten. Sie fun­gie­ren hier sozu­sa­gen als ver­län­ger­ter Arm der Migrationsbehörden.

Schwindendes Vertrauen

Die Ver­schrän­kung von Migra­ti­ons­recht und Sozi­al­hil­fe­be­zug kann dazu füh­ren, dass armuts­be­trof­fe­ne Migran­tin­nen und Migran­ten das ihnen zuste­hen­de Recht auf Sozi­al­hil­fe nicht in Anspruch neh­men. Ver­schie­de­ne Stu­di­en, die ins­be­son­de­re auf Befra­gun­gen unter Fach­per­so­nen im Sozi­al­be­reich basie­ren, wei­sen klar dar­auf hin, dass Migran­tin­nen und Migran­ten aus Angst vor aus­län­der­recht­li­chen Kon­se­quen­zen nicht wagen, ihr Recht auf Sozi­al­hil­fe in Anspruch zu neh­men, und dass in der Schweiz gene­rell Unsi­cher­hei­ten in Bezug auf aus­län­der­recht­li­che Kon­se­quen­zen eines Sozi­al­hil­fe­be­zugs zuge­nom­men haben (Gug­gis­berg und Gfel­ler 2022; Mei­er et al. 2021; Hüm­be­lin et al. 2023). Dabei wird nicht nur sei­tens der Sozi­al­diens­te, son­dern selbst aus sehr nie­der­schwel­li­gen staat­li­chen Unter­stüt­zungs­an­ge­bo­ten wie etwa der Müt­ter- und Väter­be­ra­tung berich­tet, wie aus­län­di­sche Per­so­nen ver­mehrt dar­auf bedacht sei­en, nicht auf­zu­fal­len – aus Angst, ins Visier der Migra­ti­ons­be­hör­den zu gelangen.

Sol­che Ängs­te mögen über­trie­ben schei­nen. Sie wer­den aber durch die unein­heit­li­che Pra­xis der kan­to­na­len Migra­ti­ons­be­hör­den genährt. Der­zeit fehlt es an reprä­sen­ta­ti­ven Daten, die zei­gen, wel­che Grün­de im Ein­zel­fall für den Ent­zug einer Auf­ent­halts- oder Nie­der­las­sungs­be­wil­li­gung aus­schlag­ge­bend waren (Mei­er et al. 2021). Die vor­han­de­nen Befun­de und Beob­ach­tun­gen deu­ten dar­auf hin, dass die Ver­schär­fun­gen im Kon­text des neu­en Aus­län­der- und Inte­gra­ti­ons­ge­set­zes das Ver­trau­en der Migra­ti­ons­be­völ­ke­rung in staat­li­che Unter­stüt­zung emp­find­lich geschwächt haben.

Ungenügende soziale Sicherung

In die­ses Bild passt auch das Ver­hal­ten der aus­län­di­schen Wohn­be­völ­ke­rung wäh­rend der COVID-19-Pan­de­mie: Aus­län­di­sche Per­so­nen – auch sol­che, die schon seit vie­len Jah­ren in der Schweiz leben und über eine Nie­der­las­sungs­be­wil­li­gung ver­fü­gen – wand­ten sich aus Angst vor aus­län­der­recht­li­chen Kon­se­quen­zen selbst in aus­ge­präg­ten Not­la­gen nicht an die Sozi­al­diens­te. Im Dilem­ma zwi­schen dro­hen­der finan­zi­el­ler Pre­ka­ri­sie­rung einer­seits und der Pre­ka­ri­sie­rung des Auf­ent­halts­rechts ande­rer­seits gewich­te­ten vie­le die Sor­ge um das Blei­be­recht in der Schweiz offen­sicht­lich höher.

Statt an staat­li­che Stel­len zu gelan­gen, such­ten Per­so­nen in Not­la­gen ver­mehrt Kir­chen und Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen für bera­te­ri­sche, finan­zi­el­le und mate­ri­el­le Unter­stüt­zung auf (Göt­zö et al. 2022). Die­se nicht staat­li­chen Akteu­re konn­ten jedoch meist nicht alle Bedar­fe im Sin­ne einer nach­hal­ti­gen Sta­bi­li­sie­rung abde­cken. Als mög­li­che län­ger­fris­ti­ge Fol­gen der unge­nü­gen­den sozia­len Siche­rung nen­nen Fach­per­so­nen unter ande­rem finan­zi­el­le Ver­schul­dung oder psy­chi­sche Probleme.

Armut ist kein Verbrechen

Im Juni 2023 hat das Par­la­ment die par­la­men­ta­ri­sche Initia­ti­ve «Armut ist kein Ver­bre­chen» der SP-Natio­nal­rä­tin Sami­ra Mar­ti ange­nom­men. Dem­nach darf, wer seit zehn Jah­ren recht­mäs­sig in der Schweiz wohn­haft ist und über eine Auf­ent­halts- oder Nie­der­las­sungs­be­wil­li­gung ver­fügt, die Auf­ent­halts­be­rech­ti­gung auf­grund von Sozi­al­hil­fe nicht mehr ver­lie­ren. Der­zeit arbei­tet die Staats­po­li­ti­sche Kom­mis­si­on des Natio­nal­rats einen Geset­zes­ent­wurf aus.

Die durch die Moti­on in Aus­sicht gestell­ten Ände­run­gen der gesetz­li­chen Grund­la­ge sind ein ers­ter wich­ti­ger Schritt, damit aus­län­di­sche Per­so­nen ihr Recht auf sozia­le Siche­rung ohne aus­län­der­recht­li­che Kon­se­quen­zen gel­tend machen kön­nen und ihr Ver­trau­en in staat­li­che Insti­tu­tio­nen zurück­ge­win­nen. Län­ger­fris­tig wird aber nur eine voll­stän­di­ge Ent­kop­pe­lung von Sozi­al­hil­fe­be­zug und Auf­ent­halts­be­rech­ti­gung garan­tie­ren kön­nen, dass für alle in der Schweiz leben­den armuts­be­trof­fe­nen Men­schen der Zugang zur ver­fas­sungs­mäs­sig garan­tier­ten Unter­stüt­zung in Not­la­gen glei­cher­mas­sen gege­ben ist.


Hin­weis: Die­ser Bei­trag wur­de am 14. März auf der Web­site der CHSS erstpubliziert.

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Bild: unsplash.com

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