Herr Sciarini, wieso hat Beat Jans die Wahl gewonnen?

Die Bun­des­ver­samm­lung hat den Bun­des­rat für die kom­men­den Legis­la­tur­pe­ri­ode gewählt.  Die sechs bis­he­ri­gen Regie­rungs­mit­glie­der wur­den alle wie­der­ge­wählt. Der Nach­fol­ger von Alain Ber­set heisst Beat Jans. Pas­cal Scia­ri­ni erklärt die Grün­de, die zu sei­ner Wahl durch das Par­la­ment führten. 

War­um hat Jon Pult so weni­ge Stim­men erhalten?

Pas­cal Scia­ri­ni: Die tie­fen Stim­men­zahl für Jon Pult erklärt sich auto­ma­tisch durch die hohe Anzahl an Stim­men für Dani­el Jositsch. Offen­sicht­lich hat das rech­te Lager – vor allem die SVP – die getä­tig­ten Ankün­di­gun­gen nicht befolgt, d.h. nur Kan­di­da­ten vom offi­zi­el­len Ticket zu wäh­len. Da Jon Pult als zu links und zu pro-euro­pä­isch gel­ten kann, wur­de das eher zen­tris­ti­sche sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Pro­fil von Jositsch als annehm­ba­rer ein­ge­stuft. Da Jositsch nach dem ers­ten Wahl­gang nicht reagier­te, konn­te er auch in der zwei­ten und drit­ten Wahl­run­de wei­ter Stim­men sammeln.

Inwie­weit hat die Tat­sa­che, dass Beat Jans aus dem Kan­ton Basel-Stadt stammt, der lan­ge nicht im Bun­des­rat ver­tre­ten war, zu sei­nen Gus­ten gespielt?

Basel ist nach Zürich und der Gen­fer­see­re­gi­on der dritt­größ­te Wirt­schafts­stand­ort der Schweiz und war seit Jahr­zehn­ten nicht mehr im Bun­des­rat ver­tre­ten. Die­se Tat­sa­che spiel­te bei der Wahl von Beat Jans eben­so eine Rol­le wie der Fakt, dass es sich bei ihm auch um einen städ­ti­schen Kan­di­da­ten han­del­te, der die Stim­me der Schwei­zer Städ­te in die Exe­ku­ti­ve ein­brin­gen kann. Die­se Fak­to­ren gehö­ren sicher­lich zu den Fak­to­ren, die von den Par­la­ments­mit­glie­dern bei der Wahl berück­sich­tigt wur­den, auch wenn es sich dabei in ers­ter Linie um sym­bo­li­sche Aspek­te han­delt: Auf prak­ti­scher Ebe­ne wird Beat Jans kei­ne Poli­tik für die städ­ti­schen Regio­nen oder einen bestimm­ten Kan­ton machen können.

Zudem wird von ihm auf­grund des Kol­le­gia­li­täts­prin­zips und der Tat­sa­che, dass er auch von ande­ren Par­tei­en gewählt wur­de, erwar­tet, dass er sich nach der Wahl in den Bun­des­rat teil­wei­se von sei­nem sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Eti­kett und auch von sei­ner Bas­ler bzw. städ­ti­schen Her­kunft lösen wird.

Wie lässt sich erklä­ren, dass bei den Bun­des­rats­wah­len 2022 und 2023 Tei­le der bür­ger­li­chen Par­tei­en bei­de Male von den offi­zi­ell durch die SP nomi­nier­ten Kan­di­die­ren­den abwi­chen und jeman­den ande­ren unter­stütz haben? 

Die gest­ri­gen “Ges­ti­ku­la­tio­nen” sind mei­ner Mei­nung nach eine Macht­de­mons­tra­ti­on eines Teils der SVP. Dies ist hin­ge­gen nicht neu: 1983 wur­de der Solo­thur­ner Natio­nal­rat Otto Stich der offi­zi­el­len Kan­di­da­ten Lili­an Uch­ten­ha­gen aus Zürich vor­ge­zo­gen und 1993 wur­de die Kan­di­da­tur der Gen­fe­rin Chris­tia­ne Brun­ner von der Rats­rech­ten abge­lehnt. Nach die­sen bei­den Ereig­nis­sen hat sich die (infor­mel­le) Pra­xis des Tickets durch­ge­setzt. Den­noch ist nicht aus­zu­schlie­ßen, dass die­se Pra­xis in Zukunft häu­fi­ger miss­braucht wird — unab­hän­gig davon, ob es sich um von der Lin­ken oder der Rech­ten auf­ge­stell­te Kan­di­da­ten handelt.

Glau­ben Sie, dass sich die­ser Trend zur Unter­stüt­zung von wil­den Kan­di­da­tu­ren in Zukunft ver­stär­ken wird? Wer­den sich folg­lich bei künf­ti­gen Wah­len auch lin­ke Par­tei­en nicht an die Tickets der bür­ger­li­chen Par­tei­en halten?

Ich den­ke, dass die­ses Abwei­chen vom Ticket und der damit ein­her­ge­hen­de Medi­en­rum­mel einen etwas über­trie­be­nen und künst­li­chen Cha­rak­ter haben: Man spricht letzt­lich nur über die Ver­ga­be eines ein­zi­gen der sie­ben Sit­ze im Bun­des­rat, ohne die grund­sätz­li­chen Fra­gen über das Ende der poli­ti­schen Kon­kor­danz und die Frus­tra­ti­on, die die arith­me­ti­sche Kon­kor­danz her­vor­ruft, anzu­spre­chen. Ist das der­zei­ti­ge Sys­tem noch lan­ge halt­bar? Wann wird das Aus­mass der Unei­nig­keit — ins­be­son­de­re zwi­schen der SVP und der SP — so unüber­wind­bar, dass es für die­se Par­tei­en unmög­lich wird, gemein­sam zu regie­ren? Der Wunsch die­ser Par­tei­en, ande­re, gemä­ßig­te­re Kan­di­da­ten als die von der Gegen­sei­te auf­ge­stell­ten zu “erzwin­gen”, ver­deut­licht mei­nes Erach­tens die grund­le­gen­de­re Not­wen­dig­keit, lang­fris­tig über einen “kohä­ren­ten” Bun­des­rat nach­zu­den­ken, d. h. eine Mit­te-Rechts-Mehr­heit ohne die SP oder — mög­li­cher­wei­se in der Zukunft — eine Regie­rung ohne die SVP. Aber das ist momen­tan nur eine Zukunftsvision.

Wäh­rend der Sitz von Igna­zio Cas­sis von den Grü­nen bekämpft wur­de, lässt das leicht höhe­re Ergeb­nis sei­ner Par­tei­kol­le­gin Karin Kel­ler-Sut­ter ver­mu­ten, dass ihr Sitz auch nicht so sicher war wie erwar­tet. Wie sehen Sie das?

Die Grü­nen hat­ten ange­kün­digt, dass sie den Sitz von Igna­zio Cas­sis angrei­fen wür­den. Aus Frus­tra­ti­on dar­über, dass die Kan­di­da­tur von Ger­hard And­rey ein schlech­tes Ergeb­nis erziel­te, haben sie anschlies­send auch auf den Sitz von Karin Kel­ler-Sut­ter gezielt, aller­dings ohne Chan­cen, die­sen zu erobern. Das ist bei die­ser Art von Wah­len nicht unüb­lich: Wenn ein/e Kandidat/in schlecht gewählt wird, ist die betrof­fe­ne Par­tei zu Retour­kut­schen bereit. Solan­ge die­se Dyna­mi­ken nicht die Wahl von ande­ren Kandidat/innen und ihre Legi­ti­mi­tät vor dem Par­la­ment in Fra­ge stel­len, sind dies Ange­le­gen­hei­ten, die man schnell ver­gisst. Trotz­dem zei­gen die ges­tern erneut zu beob­ach­te­ten Manö­ver, dass selbst eine ein­fa­che arith­me­ti­sche Defi­ni­ti­on der Kon­kor­danz für die Regie­rungs­par­tei­en schwer ein­zu­hal­ten ist.

Betrach­ten Sie die Ernen­nung von Vik­tor Ros­si aus den Rei­hen der Grün­li­be­ra­len zum Bun­des­kanz­ler als den Wil­len der Bun­des­ver­samm­lung, ein Gegen­ge­wicht zum pola­ri­sier­ten Cha­rak­ter des Bun­des­rats zu schaffen?

Ich glau­be nicht, dass es dar­um ging, der Pola­ri­sie­rung des Bun­des­ra­tes ent­ge­gen­zu­wir­ken, son­dern viel­mehr dar­um, den bei­den von der SVP auf­ge­stell­ten Kan­di­da­tu­ren, die bereits zwei Sit­ze im Bun­des­rat hat, den Weg zu ver­sper­ren. Eine ande­re Hypo­the­se wäre, dass man das gestärk­te öko­lo­gi­sche Lager getrös­tet hat, indem man ihnen den Bun­des­kanz­ler zuge­spro­chen hat. Aller­dings ist fest­zu­hal­ten, dass die poli­ti­sche Gesin­nung des Bun­des­kanz­lers wenig Ein­fluss auf die Regie­rungs­ge­schäf­te hat, da er in der Pflicht steht, sich mit poli­ti­schen Äus­se­run­gen sehr stark zurückzuhalten.


Pas­cal Sciarini

Pas­cal Scia­ri­ni ist Pro­fes­sor für Schwei­zer Poli­tik und ver­glei­chen­de Poli­tik am Depar­te­ment für Poli­tik­wis­sen­schaft und inter­na­tio­na­le Bezie­hun­gen an der Uni­ver­si­tät Genf und Dekan der Fakul­tät für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten. Sei­ne For­schung kon­zen­triert sich auf Gesetz­ge­bungs­pro­zes­se, die direk­te Demo­kra­tie, die Euro­päi­sie­rung der Schweiz sowie die Mei­nungs­bil­dung und das Wahl­ver­hal­ten bei Abstim­mun­gen und Wah­len. Er ist Autor des Buches “Poli­tique suis­se. Insti­tu­ti­ons, acteurs pro­ces­sus.”, EPFL Press (2023). Das Buch ist open access.
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Bild: www.parlament.ch

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