Wieso Identität, «Wokeness» und Gender mit Status und Anerkennung zusammenhängen

Unter­schied­li­che Ansich­ten über Geschlecht, Sexua­li­tät und Her­kunft füh­ren zu hef­ti­gen poli­ti­schen Debat­ten. Dabei geht es im Kern um die Fra­ge, wie gesell­schaft­li­che Aner­ken­nung und Sta­tus ver­teilt sind. Die­se Aus­ein­an­der­set­zun­gen füh­ren aber nur teil­wei­se zu einem kul­tu­rel­len Back­lash. Sie tra­gen näm­lich genau­so zur Mobi­li­sie­rung pro­gres­si­ver Wähler*innen bei.

In vie­len hit­zi­gen Debat­ten über soge­nann­te Iden­ti­täts­po­li­tik oder poli­ti­sche Kor­rekt­heit geht es letzt­lich dar­um, wel­che Grup­pen in der Gesell­schaft Aner­ken­nung erfah­ren, und wel­che die­se ver­lie­ren oder gewin­nen. In den Augen eini­ger haben Frau­en, Per­so­nen aus der LGBTIQ-Gemein­schaft  oder Black and Peop­le of Color (BPoC) mitt­ler­wei­le zu viel Deu­tungs­ho­heit erlangt. Ein Vor­wurf lau­tet, dass bis­he­ri­ge Min­der­hei­ten mitt­ler­wei­le vor­ge­ben, was und wie man zu spre­chen habe und dass gegen­läu­fi­ge Mei­nun­gen oder Lebens­sti­le nicht mehr tole­riert würden.

Doch ist dem so? Wie neh­men Men­schen gesell­schaft­li­che Sta­tus­un­ter­schie­de und deren Ver­än­de­run­gen in den letz­ten dreis­sig Jah­ren wahr? Wie hän­gen die­se Wahr­neh­mun­gen mit der Wahl für eine bestimm­te Par­tei, beson­ders für Par­tei­en an den Polen des poli­ti­schen Spek­trums zusammen?

In den letz­ten fünf­zig Jah­ren sind sozio­kul­tu­rel­le Hier­ar­chien, d.h. Hier­ar­chien nach Geschlecht, Sexua­li­tät und eth­ni­scher Her­kunft, fla­cher gewor­den. Mit die­ser Ent­wick­lung in Rich­tung grös­se­rer Gleich­heit zwi­schen Grup­pen geht aber auch eine Poli­ti­sie­rung ein­her. Das beinhal­tet Gegen­re­ak­tio­nen aus Sor­ge vor Sta­tus­ver­lust von jenen Grup­pen, deren bis­he­ri­ge Vor­tei­le in Fra­ge gestellt wer­den, so bei­spiels­wei­se die häu­fig erwähn­ten ‘alten, weis­sen Män­ner’ (Gidron & Hall 2017). Die Poli­ti­sie­rung und Gegen­re­ak­tio­nen sind nicht über­ra­schend. Schon oft in der Mensch­heits­ge­schich­te waren die Zei­ten sich ver­än­dern­der Hier­ar­chien poli­tisch brisant. 

Soziokulturelle und wirtschaftliche Hierarchien werden wahrgenommen

Nach wie vor wer­den Unter­schie­de basie­rend auf öko­no­mi­schen als auch auf sozio­kul­tu­rel­len Fak­to­ren von der Bevöl­ke­rung stark wahr­ge­nom­men. Das bedeu­tet, dass Men­schen mit pres­ti­ge­träch­ti­gen Beru­fen, hoher Bil­dung und hohem Ein­kom­men wei­ter oben auf der Hier­ar­chie ein­ge­ord­net wer­den als ande­re (Abbil­dung 1). Män­ner, Men­schen ohne Migra­ti­ons­hin­ter­grund und hete­ro­se­xu­el­le Men­schen wer­den eben­falls als wei­ter oben ver­or­tet, dies sogar noch iso­liert von deren öko­no­mi­schen Vorteilen.

Aus­ser­dem zeig­te sich, dass die­se Wahr­neh­mung von der über­wäl­ti­gen­den Mehr­heit geteilt wird. Fast nie­mand leug­net, dass Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund, Frau­en, Schwu­le und Les­ben in der Schweiz auf der Hier­ar­chie immer noch tie­fer unten ste­hen und mit Nach­tei­len zu kämp­fen haben – nicht ein­mal ideo­lo­gisch rechts ver­or­te­te Befrag­te. Selbst Men­schen, die fin­den, dass Hier­ar­chien zu flach gewor­den sind erken­nen also an, dass es noch eine Hier­ar­chie gibt. Eine Ableh­nung gegen­über Ver­än­de­rung lässt daher dar­auf schlies­sen, dass sie die Hier­ar­chie zumin­dest teil­wei­se gerecht­fer­tigt finden.

Abbildung 1: Wahrgenommene Position auf der gesellschaftlichen Hierarchie (Schweiz)

Abbil­dung: Mag­da­le­na Brey­er, rea­li­siert für DeFac­to von Alix d’Agostino • Quel­le: Con­joint-Expe­ri­ment in einer Umfra­ge in der Schweiz (Kapi­tel 2 der Dis­ser­ta­ti­on). Die Befrag­ten soll­ten zwi­schen zwei Pro­fi­len jenes aus­wäh­len, wel­ches wei­ter oben auf der gesell­schaft­li­chen Hier­ar­chie steht. Die hori­zon­ta­le Ach­se zeigt mar­gi­nal means, also die durch­schnitt­li­che Plat­zie­rung auf der gesell­schaft­li­chen Hier­ar­chie.
Lese­bei­spiel: Ein Pro­fil mit dem Beruf Elektriker*in wird mit­tig auf der gesell­schaft­li­chen Hier­ar­chie ein­ge­ord­net, wäh­rend für ande­re Merk­ma­le wie Ein­kom­men und Geschlecht kon­trol­liert wird.

Veränderungen über die Zeit werden je nach Ideologie unterschiedlich wahrgenommen

Wie neh­men Men­schen Ver­än­de­run­gen in gesell­schaft­li­chen Hier­ar­chien wahr? Wie unse­re For­schung zeigt, domi­nie­ren dabei öko­no­mi­sche Ungleich­hei­ten die Wahr­neh­mun­gen der Men­schen. Die stei­gen­de Ein­kom­mens- und Ver­mö­gensun­gleich­heit eben­so wie ein sozia­ler Abstieg von armen und arbeits­lo­sen Men­schen beschäf­tigt die Bevöl­ke­rung stark. Aus­ser­dem neh­men vie­le eine sin­ken­de Aner­ken­nung von bestimm­ten Beru­fen wahr, etwa von manu­el­len Tätig­kei­ten und klas­si­schen Arbei­ter­be­ru­fen, aber auch von Beru­fen der Mit­tel­schicht wie etwa Lehrkräften.

Wahr­neh­mun­gen über gesell­schaft­li­che Ver­än­de­run­gen — und wie wün­schens­wert die­se sind – sind poli­tisch geprägt. Wir haben des­we­gen unter­sucht wie sich Men­schen mit unter­schied­li­cher poli­ti­scher Welt­sicht über die sozio­kul­tu­rel­len Ver­än­de­run­gen äus­sern. Wel­che poli­ti­sche Spreng­kraft hat die ver­bes­ser­te gesell­schaft­li­che Posi­ti­on von Frau­en, LGBTIQ Men­schen und eth­ni­schen Min­der­hei­ten? Wir unter­schei­den zwi­schen Befrag­ten, die ten­den­zi­ell gegen Ein­wan­de­rung, EU-Inte­gra­ti­on und Geschlech­ter­gleich­heit sind (Rechts­au­to­ri­tä­re), und sol­chen, die die­se befür­wor­ten (Pro­gres­si­ve).

Hier zei­gen sich inter­es­san­te Unter­schie­de. Rechts­au­to­ri­tä­re Men­schen den­ken, dass eth­ni­sche Min­der­hei­ten und Ein­wan­de­rer (Abbil­dung 2) auf Kos­ten Ein­hei­mi­scher auf­ho­len. Grös­se­re Gleich­heit wird nicht als Gewinn für alle ver­stan­den, son­dern es wird ein Anspruch auf einen Sta­tus­vor­teil für Bürger*innen ohne Migra­ti­ons­hin­ter­grund for­mu­liert. Die­se Ein­stel­lung birgt Kon­flikt­po­ten­zi­al, ist aber in Zei­ten domi­nan­ter Nar­ra­ti­ve von rechts­ra­di­ka­len Par­tei­en nicht überraschend. 

Abbildung 2: Politische Einstellungen und Wahrnehmungen von Veränderungen soziokultureller Hierarchien (Deutschland)

 Rechts­au­to­ri­tä­re Befrag­tePro­gres­si­ve Befrag­te
Eth­ni­sche
Her­kunft
Min­der­hei­ten holen auf Kos­ten Ein­hei­mi­scher aufMin­der­hei­ten haben auf­ge­holt, sind aber noch benachteiligt
Geschlecht &
Sexua­li­tät
Wenig erwähntGrös­se­re Gleich­heit kein auto­ma­ti­scher Ver­lust für Männer/Heteros

Abbil­dung: Mag­da­le­na Brey­er, rea­li­siert für DeFac­to von Alix d’Agostino • Quel­le: Zusam­men­fas­sung häu­fi­ger Mus­ter in den offe­nen Ant­wor­ten in Umfra­ge in Deutsch­land (Kapi­tel 3 der Dis­ser­ta­ti­on, koau­to­riert mit Tabea Palm­tag und Delia Zol­lin­ger). Gefragt wur­de nach Grup­pen, die im Lau­fe der letz­ten Jahr­zehn­te Aner­ken­nung gewonnen/verloren haben.

Pro­gres­si­ve Befrag­te neh­men im Gegen­satz dazu gesell­schaft­li­che Ver­schie­bun­gen bezüg­lich Geschlecht und Sexua­li­tät stark wahr. Hier wer­den Frau­en und LGBTIQ-Men­schen als Aufsteiger*innen iden­ti­fi­ziert. Män­ner, cis- oder hete­ro­se­xu­el­le Men­schen wer­den dabei aber nicht sym­me­trisch als Verlierer*innen bezeich­net. Das bedeu­tet, dass wir für die Dimen­sio­nen Geschlecht und Sexua­li­tät kei­ne domi­nan­ten Null­sum­men-Nar­ra­ti­ve fin­den. Die­se grös­se­re Gleich­heit gilt für Pro­gres­si­ve als gene­rell posi­ti­ve Ent­wick­lung, die nie­man­dem scha­den muss.

Daten und Methoden

Die Dis­ser­ta­ti­on (Brey­er 2023, IPZ Uni­ver­si­tät Zürich) unter­sucht die Aus­wir­kun­gen sich ver­än­dern­der gesell­schaft­li­cher Hier­ar­chien in der Schweiz und in Deutsch­land. Sta­tus und Aner­ken­nung wer­den als Merk­ma­le einer gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Hier­ar­chie ver­stan­den, die sowohl öko­no­mi­sche als auch sozio­kul­tu­rel­le Ungleich­heit umfasst.

Die Dis­ser­ta­ti­on beruht auf Umfra­gen in der Schweiz und in Deutsch­land. Die­se wur­den jeweils online und mit Quo­tie­run­gen für Alter, Geschlecht, und Bil­dung durch­ge­führt, sodass sie die Merk­ma­le der jewei­li­gen Bevöl­ke­rung abbil­den. Abbil­dung 1 liegt ein Con­joint-Expe­ri­ment in der Schweiz zugrun­de, in wel­chem die Cha­rak­te­ris­ti­ka von vor­ge­leg­ten Pro­fi­len von Per­so­nen zufäl­lig vari­iert wer­den. Befrag­te soll­ten dann in einem Pro­fil­ver­gleich ent­schei­den, wel­ches wei­ter oben auf der gesell­schaft­li­chen Hier­ar­chie steht. Abbil­dung 2 lie­gen offe­ne Fra­gen über Ver­schie­bun­gen in gesell­schaft­li­chen Hier­ar­chien zugrun­de. Befrag­te in Deutsch­land beschrie­ben in eige­nen Wor­ten, wel­che Grup­pen an Aner­ken­nung ver­lo­ren oder gewon­nen haben. Abbil­dung 3 beruht auf einem Umfra­ge­ex­pe­ri­ment in Deutsch­land, wobei ver­schie­de­nen Teil­neh­men­den ver­schie­de­ne Dar­stel­lun­gen der Ent­wick­lung der Reprä­sen­ta­ti­on von Frau­en in der Poli­tik gezeigt wur­den. Abbil­dung 3 zeigt die Effek­te auf die Wahl­ab­sicht, je nach­dem ob die Ungleich­heit als andau­ernd oder als abneh­mend dar­ge­stellt wird.

Mobilisierung von progressiven Wähler*innen wenn Versprechungen nicht erfüllt werden

Die Ver­än­de­run­gen wer­den abhän­gig von vor­han­de­nen Ein­stel­lun­gen unter­schied­lich wahr­ge­nom­men. Letzt­lich ist aber aus­schlag­ge­bend, wie die Wahl­ent­schei­dung davon beein­flusst wird und wel­che Par­tei­en dadurch die Macht erhal­ten, ihre Pro­gram­me durch­zu­set­zen. Denn poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen beein­flus­sen, wie starr oder wie fle­xi­bel die Ungleich­heit ist.

Inter­es­san­ter­wei­se bestä­tigt sich auch hier, dass eine pro­gres­si­ve Mobi­li­sie­rung gegen fort­be­stehen­de Ungleich­heit viel stär­ker zu beob­ach­ten ist als ein rechts­ra­di­ka­ler Back­lash gegen die Gleich­be­rech­ti­gung von Frau­en. Kon­kret zeigt sich, dass die grü­ne Par­tei in Deutsch­land weib­li­che Wähler*innen gewin­nen kann, wenn in einem Expe­ri­ment auf die fort­be­stehen­de Ungleich­heit zulas­ten von Frau­en hin­ge­wie­sen wird (Effekt 1 in Abbil­dung 3). Wenn betont wird, wie sehr Frau­en schon auf­ge­holt haben, zei­gen sich wenig Effek­te, weder auf grü­nes noch auf rechts­ra­di­ka­les Wäh­len (der Alter­na­ti­ve für Deutsch­land, Effekt 2). Das heisst also, dass Män­ner nicht per se gegen die grös­se­re Gleich­heit von Frau­en rebel­lie­ren. Es ist aber nicht aus­ge­schlos­sen, dass rechts­ra­di­ka­le Akteu­re solch eine Rebel­li­on durch geziel­te Nar­ra­ti­ve anfa­chen kön­nen, wie ande­re Stu­di­en (Off 2023, Andui­za & Rico 2022) zei­gen konnten.

Abbildung 3: Wahlabsicht und die Wahrnehmung von Geschlechterungleichheit (Deutschland)

Abbil­dung: Mag­da­le­na Brey­er, rea­li­siert für DeFac­to von Alix d’Agostino • Quel­le: Umfra­ge­ex­pe­ri­ment in Deutsch­land (Kapi­tel 4 der Dis­ser­ta­ti­on). Ver­gleich der Kon­troll­grup­pe zu den zwei Expe­ri­men­tal­grup­pen mit ver­schie­de­nen Inter­pre­ta­tio­nen zur Reprä­sen­ta­ti­on von Frau­en in der Poli­tik. Die ver­ti­ka­len Ach­sen zei­gen vor­her­ge­sag­te Wer­te für die Wahl­ab­sicht, je auf einer Ska­la von 0–10.
Lese­bei­spiel: In der Expe­ri­men­tal­grup­pe, in der auf die fort­be­stehen­de Ungleich­heit der Geschlech­ter hin­ge­wie­sen wur­de, lag die vor­her­ge­sag­te grü­ne Wahl­ab­sicht unter Frau­en bei 4.4.

Parteien sollten auch jene im Blick behalten, die grössere soziokulturelle Gleichheit wichtig finden

Es gibt zwar kul­tu­rel­le Back­lash-Ten­den­zen, beson­ders was eth­ni­sche Hier­ar­chien angeht. Jedoch wäre ein aus­schliess­li­cher Fokus auf die­se Ten­denz ver­kürzt. Wich­ti­ge und wach­sen­de Wähler*innengruppen, etwa Frau­en, Men­schen mit sozia­len Beru­fen und pro­gres­si­ven Ein­stel­lun­gen fin­den eine grös­se­re sozio­kul­tu­rel­le und öko­no­mi­sche Gleich­heit wich­tig. Wenn die­se nicht erreicht wird, kann das genau­so Unzu­frie­den­heit aus­lö­sen wie etwai­ge Sta­tus­ver­lust­ängs­te. Es ist für poli­ti­sche Par­tei­en wich­tig, Ideen zu for­mu­lie­ren wie einer­seits wei­te­re Benach­tei­li­gung abge­baut wer­den kann und ande­rer­seits, wie dies als Gewinn für die gesam­te Gesell­schaft ver­stan­den wer­den kann.


Refe­ren­zen:

  • Andui­za, Eva; Rico, Guil­lem (2022): Sexism and the Far-Right Vote. The Indi­vi­du­al Dyna­mics of Gen­der Back­lash. Ear­ly View. In: Ame­ri­can Jour­nal of Poli­ti­cal Sci­ence. DOI: 10.1111/ajps.12759.

  • Brey­er, Mag­da­le­na (2023): Social Sta­tus Poli­tics. The Role of Shif­ting Cul­tu­ral Hier­ar­chies. Kumu­la­ti­ve Dis­ser­ta­ti­on. Uni­ver­si­tät Zürich. Insti­tut für Poli­tik­wis­sen­schaft. Online ver­füg­bar unter https://doi.org/10.5167/uzh-234049.

  • Gidron, Noam; Hall, Peter A. (2017): The Poli­tics of Social Sta­tus. Eco­no­mic and Cul­tu­ral Roots of the Popu­list Right. In: The Bri­tish Jour­nal of Socio­lo­gy 68 Sup­pl 1, S57-S84. DOI: 10.1111/1468–4446.12319.

  • Off, Gefjon (2023): Gen­der Equa­li­ty Sali­ence, Back­lash and Radi­cal Right Voting in the Gen­der-Equal Con­text of Swe­den. In: West Euro­pean Poli­tics 46 (3), S. 1–26. DOI: 10.1080/01402382.2022.2084986.

Der Arti­kel wur­de von Sarah Büti­ko­fer und Remo Pari­si bearbeitet.

Bild: unsplash.com

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