Herr Seitz, wie steht es um die Grünen?

Die Grü­nen waren die Sie­ge­rin­nen der eid­ge­nös­si­schen Wah­len 2019. Vier Jah­re spä­ter haben sie deut­li­che Ver­lus­te ein­ge­fah­ren. Was sind die Grün­de dafür? Wer­ner Seitz, der die Ent­wick­lung der Grü­nen in der Schweiz seit ihrer Ent­ste­hung ana­ly­siert, ord­net ein. 

Wie ent­wi­ckel­ten sich die Grü­nen in der Schweiz?

Wer­ner Seitz: Die Geschich­te der Grü­nen ist eine beweg­te Geschich­te mit Brü­chen. Schon bei der Grün­dung 1983 konn­ten sich die Aktivist:innen aus der Umwelt‑, Frie­dens- und inter­na­tio­na­len Soli­da­ri­täts­be­we­gung nicht auf ein gemein­sa­mes natio­na­les Pro­jekt eini­gen. So bil­de­ten sich vor­erst zwei For­ma­tio­nen: die soge­nannt gemäs­sig­ten Grü­nen und die alter­na­ti­ven Grü­nen. Im Ver­lau­fe der Zeit tra­ten die alter­na­ti­ven Grü­nen der gemäs­sig­ten Grü­nen Par­tei der Schweiz bei. Dadurch wur­de die­se the­ma­tisch brei­ter und sie posi­tio­nier­te sich mehr links. 2004 spal­te­te sich im Kan­ton Zürich ein Flü­gel von den Grü­nen ab; 2007 grün­de­te die­ser Flü­gel mit eini­gen neu ent­stan­de­nen Grup­pie­run­gen die Grün­li­be­ra­le Par­tei, wel­che Grü­ne und SP teil­wei­se konkurrenzierte.

Auch bei den Wah­len durch­lie­fen die Grü­nen immer wie­der Wel­len­tä­ler. Je nach The­men­kon­junk­tur waren sie deut­lich auf der Sie­ger- oder auf der Ver­lie­rer­sei­te. Mar­kant gewan­nen sie in den 1980er Jah­ren, den 2000er Jah­ren und 2019, als die Umwelt- und Kli­ma­the­men auf der poli­ti­schen Agen­da ganz oben stan­den. Dazwi­schen gin­gen sie auch als Ver­lie­rer aus den Wah­len, wie soeben. 2023 stan­den vor allem sozi­al- und migra­ti­ons­po­li­ti­sche The­men ganz oben. Trotz dem Auf und Ab in den Wah­len konn­ten die Grü­nen in den ver­gan­ge­nen vier­zig Jah­ren ihre Par­tei­stär­ke lang­fris­tig betrach­tet kon­ti­nu­ier­lich stei­gern, aktu­ell liegt sie knapp bei zehn Prozent.

Haben die «Kli­mak­le­ber» bei den jüngs­ten Ver­lus­ten der Grü­nen von über drei Pro­zent­punk­ten eine Rol­le gespielt? 

Das erfah­ren wir viel­leicht, wenn die wis­sen­schaft­li­che Nach­be­fra­gung «Selects» vor­liegt. Für mich ist die ver­än­der­te The­men­kon­junk­tur der Haupt­grund für die Ver­lus­te der Grünen.

Wie sieht die Wäh­ler­schaft der Grü­nen aus?

Cha­rak­te­ris­tisch für die Wäh­len­den der Grü­nen ist ihr über­durch­schnitt­lich hohes Bil­dungs­ni­veau. Sie gehö­ren meis­tens zur neu­en Mit­tel­schicht und sind vor allem im Bildungs‑, Gesund­heits- und Sozi­al­we­sen, im Medi­en- oder Kul­tur­be­reich tätig. Man nennt sie auch «sozio­kul­tu­rel­le Spezialist:innen». Sie ver­tre­ten gesell­schafts­po­li­tisch pro­gres­si­ve Wer­te wie kul­tu­rel­le Offen­heit, gesell­schaft­li­che Libe­ra­li­sie­rung, Lebens­qua­li­tät, Gleich­stel­lung oder nach­hal­ti­ge Lebens­wei­se. Die­se Eigen­schaf­ten und Wer­te tref­fen übri­gens weit­ge­hend auch auf die Wähler:innen der SP zu. Mit Blick auf das Alter wer­den die Grü­nen über­durch­schnitt­lich stark von Jün­ge­ren unter­stützt; es wäh­len aber auch Älte­re grün. Von Anfang an waren zudem die Grü­nen und ihre Wäh­len­den mehr­heit­lich weiblich.

Die SP ist bei Wah­len die gröss­te Kon­kur­ren­tin der Grü­nen. So auch 2023. War­um tun sich die bei­den Par­tei­en nicht zusammen?

SP und Grü­ne ste­hen sich pro­gram­ma­tisch sehr nahe, nament­lich in den Poli­tik­fel­dern Gleich­stel­lung, Öko­lo­gie oder Migra­ti­on und Inte­gra­ti­on, und sie spre­chen bei­de haupt­säch­lich die neue Mit­tel­schicht an. Sie fischen also im sel­ben Teich.

So stan­den SP und Grü­ne schon früh in einer gewis­sen – auch arbeits­tei­li­gen – Kon­kur­renz zuein­an­der. Die­se hat sich bewährt, denn das lin­ke Lager ver­moch­te sich über die ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­te bei rund dreis­sig Pro­zent zu hal­ten. Die Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin Sil­ja Häu­ser­mann spricht von einem «Aus­dif­fe­ren­zie­rungs­pro­zess des lin­ken Lagers». Je nach The­men­kon­junk­tur fan­den star­ke Stim­men­be­we­gun­gen zwi­schen den bei­den Par­tei­en statt, wobei die unter­schied­li­che Kom­pe­tenz­zu­schrei­bung eine wesent­li­che Rol­le spiel­te. Die Grü­nen wer­den in Fra­gen der Umwelt­po­li­tik für kom­pe­ten­ter gehal­ten, die SP vor allem in Fra­gen der Sozi­al­po­li­tik sowie, etwas weni­ger aus­ge­prägt, in der Euro­pa- und Migrationspolitik.

Das Poli­ti­sie­ren in getrenn­ten Orga­ni­sa­tio­nen macht so durch­aus Sinn. Zudem gibt es Unter­schie­de zwi­schen Grü­nen und SP: Die­se wur­zeln in der unter­schied­li­chen Geschich­te, wel­che die bei­den Par­tei­en bis heu­te prägt, oder in der unter­schied­li­chen Hal­tung zu Tech­no­lo­gie und Wachs­tum. Letz­te­re bei­de spie­len für die SP eine wich­ti­ge Rol­le für die Ver­bes­se­rung der Lebens­ver­hält­nis­se, wäh­rend die Grü­nen zweck­ra­tio­na­lem Vor­ge­hen immer wie­der skep­tisch gegenüberstehen.

Und wann wer­den die Grü­nen Bundesrat?

Die Grü­nen haben seit den Acht­zi­ger­jah­ren mehr­mals für den Bun­des­rat kan­di­diert; das waren jedoch «instru­men­tel­le» Kan­di­da­tu­ren. Die Grü­nen woll­ten damit zum Bei­spiel auf die Unter­ver­tre­tung der Frau­en hin­wei­sen oder gegen die SVP im Bun­des­rat pro­tes­tie­ren. Die ers­te ernst­ge­mein­te Kan­di­da­tur war 2019 mit Regu­la Rytz. Und da hat sich deut­lich gezeigt: Es gibt kein ver­fas­sungs- oder gesetz­mäs­sig fest­ge­schrie­be­nes Recht für eine Par­tei, im Bun­des­rat ver­tre­ten zu sein. Über die Zusam­men­set­zung bestimmt allein die Mehr­heit in der Bun­des­ver­samm­lung. Die Grü­nen müs­sen also mit einer klu­gen Stra­te­gie eine Mehr­heit in der Bun­des­ver­samm­lung für ihren Anspruch auf einen Sitz im Bun­des­rat organisieren.


Wer­ner Seitz

Wer­ner Seitz lei­te­te im Bun­des­amt für Sta­tis­tik über zwan­zig Jah­re lang die Sek­ti­on «Poli­tik, Kul­tur, Medi­en». Er ver­fass­te meh­re­re Wer­ke über die poli­ti­sche Kul­tur, die Geschich­te der poli­ti­schen Grä­ben in der Schweiz, Reprä­sen­ta­ti­on und Gleich­stel­lung der Frau­en sowie die Grü­nen. Im Mai 2023 erschien der Sam­mel­band «Die Grü­nen in der Schweiz. Ent­wick­lung, Wir­ken, Per­spek­ti­ven», den er zusam­men mit Sarah Büti­ko­fer her­aus­ge­ge­ben hat.

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Bild: flickr.com

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