Der Bisherigenbonus war auch bei Nationalratswahlen 2023 sehr gross. Von den 170 Bisherigen wurden 151 wiedergewählt, 19 Parlamentsmitglieder wurden nicht wiedergewählt. Nichtwiederwahlen gab es wie bei den Wahlen zuvor viel häufiger durch Sitzverluste der Partei und nicht, weil neue Kandidierende der gleichen Partei viel besser abschnitten. Über alle Listen und Kantone hinweg gelang es 2023 gerade einmal sieben der fast 6000 neu Kandidierenden, mehr Stimmen zu erhalten als die Bisherigen auf der gleichen Liste.
Grosse Mehrheit jeweils wiedergewählt
Die 200 Nationalratssitze sind äusserst begehrt. Fast 6000 Kandidierende bewarben sich 2023 dafür, davon 170 Bisherige, die schon im Parlament sassen. Die Bisherigen hatten sehr gute Wahlchancen, 151 (89%) wurden wiedergewählt. Nur 19 (11%) schafften die Wiederwahl nicht (siehe Grafik 1).
Dass so viele Bisherige antreten ist keine Ausnahme. Zwischen 1995 und 2023 traten jeweils zwischen 151 (Wahlen 1995) und 178 (Wahlen 2007) der Bisherigen wieder an. Dass so viele auch wiedergewählt werden, ist ebenfalls keine Ausnahme. Der Anteil der Bisherigen, die wieder gewählt werden, lag bei den letzten neun Nationalratswalen zwischen 1995 und 2023 immer zwischen 80 und 90 Prozent.
Am häufigsten von Nichtwiederwahlen betroffen sind die Parteien, die Sitze verlieren, während der Erfolg bei Bisherigen bei jenen Parteien, die Sitze dazu gewinnen, besonders hoch ist. So kam es 2023 bei der SVP, der grossen Gewinnerin der Wahlen, zu gerade einmal zu einer Nichtwiederwahl, während von der GLP und GPS je fünf amtierende Nationalrätinnen und Nationalräte unfreiwillig aus dem Parlament ausscheiden.
Grafik 1. Wiederwahlen und Abwahlen bei den Nationalratswahlen 1995-2023
Nichtwiederwahl wegen Sitzverlust
Eine Nichtwiederwahl kann aus zwei Gründen möglich sein. Entweder erhalten neue Kandidierende mehr Stimmen als Bisherige und nehmen so diesen einen Sitz weg. Oder eine Liste erhält weniger oder gar keinen Sitz mehr als vier Jahren zuvor – und wenn alle Bisherigen antreten, führt diese zwingend zu einer Nichtwiederwahl.
2023 waren bei den 19 Nichtwiederwahlen nur vier darauf zurückzuführen, dass ein neue Kandidatur Bisherige verdrängte (siehe Grafik 1). 15 Nichtwiederwahlen gab es, weil eine Liste weniger oder keine Sitze mehr machte. Bisherige zu verdrängen, gelang nur Reto Nause (Mitte) in Bern, Nina Düsel (SVP) in Zürich, Pascal Broulis (FDP) in Waadt und Charles Poncet (SVP) in Genf. Über alle Listen und Kantone hinweg, gelang es nur drei weiteren Kandidierenden überhaupt, Bisherige zu überholen, wobei es in diesen drei Fällen zu keiner Nichtwiederwahl kam, weil die Liste mehr Sitze erhielt oder es Rücktritte gab. Von den 15 Nichtwiederwahlen aufgrund von Sitzverluste fallen je 5 auf GLP und Grüne, zwei auf die SP und je einer auf EVP, PdA und FDP.
Dieses Muster ist keine Ausnahme. Eine Auswertung der Wahlen 1995-2023 zeigt, dass der klar häufigere Grund für eine Nichtwiederwahl Sitzverluste der Partei sind, d.h. die Gründe waren bei den früheren Wahlen die gleichen. Insgesamt waren von 206 nicht wiedergewählten Nationalratsmitgliedern zwischen 1995-2023 mit 143 mehr als zwei Drittel darauf zurückzuführen, dass ihre Liste weniger oder keine Sitze mehr machte. Nur in 63 Fällen gab es eine Nichtwiederwahl, weil neue Kandidierende Bisherige auf der Liste überflügelten.
Frauen mit besseren Wiederwahlchancen
Vom Bisherigenbonus profitieren Frauen mittlerweile häufiger oder gleich stark wie Männer. 2023 wurden 89 Prozent der bisherigen Männer und 88 Prozent der bisherigen Frauen gewählt. 2019 war die Wiederwahlquote der Frauen mit 93 Prozent sogar deutlich höher als jene der Männer, die nur bei 77 Prozent lag. Auch bei den Wahlen 2003-2015 war die Wiederwahlquote bei den Frauen jeweils höher als bei den Männern, oder umgekehrt formuliert, das Risiko abgewählt zu werden war für Nationalräte in diesen Jahren grösser als für Nationalrätinnen. 1995 und 1999 war das noch anders, damals war das Risiko für Nationalrätinnen, nicht wieder gewählt zu werden grösser als für Nationalräte.
In allen grösseren Parteien haben Frauen höhere Wiederwahlchancen als Männer, ausser bei den Grünen. Bei den Grünen, deren Sitzzahl auch grösseren Schwankungen unterliegt als die anderer Parteien, wurden im Zeitraum 1995-2023 zwei Drittel der bisherigen Frauen wiedergewählt, aber vier Fünftel der Männer. Das war auch das Muster 2023: vier der fünf Nichtwiederwahlen der Grünen betrafen Frauen, ein Mann wurde abgewählt. Dafür war der Anteil der Neugewählten Frauen bei den Grünen in diesem Zeitraum mit 60% höher als bei den anderen Parteien.
Grafik 2. Bisherigenbonus nach Geschlecht, Nationalratswahlen 1995-2023
Fazit: Bisherigenbonus schränkt Wettbewerb ein
Der mit Abstand hilfreichste Faktor, um bei den nationalen Wahlen gewählt zu werden, ist, bereits im Parlament zu sitzen! Der Bisherigenbonus ist in der Schweiz enorm, Nichtwiederwahlen gibt es nur wenige und wenn es dazu kam, dann vor allem, weil eine Partei Plätze verloren hat. Bisherige Kandidierende auf der Liste zu überflügeln und mehr Wählerstimmen zu erhalten, gelang 2023 gerade einmal sieben Kandidierenden – und auch in den Wahlen in früheren Jahren kam dies selten vor.
Das bedeutet, dass es für neue Kandierende fast nur dann möglich ist, gewählt zu werden, wenn es in ihren Parteien zu Rücktritten kam oder wenn ihre Partei zusätzliche Sitze gewinnt. Der effektive Wettbewerb der Kandidierenden um die begehrten Nationalratssitze findet in der stabilen Parteienlandschaft der Schweiz nicht um alle 200 Sitze statt, sondern faktisch nur um rund 50-80 Sitze. Dies hat auch Konsequenzen für die Parteien: für die interne Personalplanung können Sesselkleber zum Problem werden, weil sie es auf sehr viele Jahre verunmöglichen, dass neue Personen eine Chance und damit eine Perspektive auf einen Parlamentssitz haben.