Seit fast 50 Jahren beteiligt sich nur noch eine Minderheit der Stimm- und Wahlberechtigten bei den Parlamentswahlen in der Schweiz. Warum nutzen viele Personen ihre politischen Rechte nicht? Markus Freitag kennt sich bestens mit der Gruppe der Nichtwählenden aus und beantwortet unsere wichtigsten Fragen dazu.
Warum nimmt jemand nicht an Wahlen teil?
Markus Freitag: Theoretisch lassen sich drei Umstände unterscheiden, warum Menschen nicht an Wahlen teilnehmen: Entweder wollen sie nicht, weil es ihnen an Motivation mangelt. Oder sie können nicht, weil ihnen die nötigen Ressourcen und Sachkenntnisse fehlen. Mitunter werden sie aber auch von niemandem aufgefordert, weil sie sozial unzureichend eingebunden sind.
Warum ist die Teilnahme in der Schweiz so tief?
Hierfür sind vor allem zwei Gründe entscheidend: Erstens gibt es in der Schweiz mit den Volksabstimmungen weitere Möglichkeiten, seine Meinung kundzutun. Referenden und Volksinitiativen erachten viele Schweizerinnen und Schweizer als das schärfere Schwert der politischen Mitsprache. Zweitens haben Wahlen keine direkten Konsequenzen für die Regierungsbildung. Ungeachtet der Wahlergebnisse wird der Bundesrat zumeist nach der altehrwürdigen Zauberformel bestellt.
Welche Persönlichkeitsmerkmale zeigen die Nichtwählenden?
Mit Blick auf die fünf grossen Charaktereigenschaften Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus zeigen sich die folgenden Tendenzen: In der Schweiz halten sich insbesondere emotional instabile, sprich ängstliche und sorgenvolle Menschen von der Wahlurne fern. In anderen Ländern zeigen die Nichtwählenden auch Merkmale der Verträglichkeit, der Introvertiertheit oder auch der Verschlossenheit.
Wie kann man die Nichtwählenden beschreiben?
Wir finden unter den Nichtwählenden sechs verschiedene Typen: Die zufriedenen, aber eher desinteressierten Nichtwählenden bilden mit 25 Prozent die grösste Gruppe innerhalb der Nichtwählerschaft. Sie äussern ein gewisses politisches Vertrauen und allgemeine Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie. Die Gruppe der inkompetenten Nichtwählenden kommt auf rund 20 Prozent. Als Gründe der Nichtwahl geben sie an, sich nicht für Politik zu interessieren, diese als zu kompliziert zu empfinden und die Kandidierenden nicht zu kennen. Die sozial isolierten Nichtwählenden machen etwa 18 Prozent aus. Ihnen fehlt es an Motivation und sozialer Einbettung. Die politisch verdrossenen Nichtwählenden sind mit 16 Prozent vertreten. Sie zeigen das geringste politische Interesse und das wenigste Wissen über politische Sachverhalte aller Nichtwählergruppen. Die abstimmenden Nichtwählenden machen 13 Prozent der Nichtwählerschaft aus. Sie halten Volksabstimmungen für wichtiger als Wahlen. Schliesslich gibt es die unkonventionell Partizipierenden. Sie sind mit nur 9 Prozent die kleinste Gruppe. Diese Nichtwählenden zeichnen sich zwar durch eine grosse Zufriedenheit mit der Demokratie aus, präferieren allerdings Partizipationsformen abseits der Wahl- und Abstimmungsurne.
Wäre eine Wahlpflicht ein geeignetes Mittel, um die Beteiligung zu erhöhen?
Eine Wahlpflicht wird die Beteiligung erhöhen können, wie wir am Beispiel des Kantons Schaffhausen sehen. Offen bleibt aber, ob damit auch das Interesse an der Politik und an den Wahlen gesteigert wird. Der Anteil an ungültigen Stimmen und Leerstimmen ist bei den Schaffhauser Urnengängen relativ hoch. Zielführender wäre es, etwaige Hindernisse der Beteiligung wie die fehlende politische Kompetenz durch vermehrte politische Aufklärung und Bildung zu überwinden.
Markus Freitag studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Germanistik an der Universität Heidelberg und promovierte an der Universität Bern. Nach Stationen in Berlin und Konstanz ist er heute ordentlicher Professor für Politikwissenschaft mit den Schwerpunkten der Politische Soziologie und Politischen Psychologie an der Universität Bern. Zudem äusserst er sich regelmässig als Kolumnist beim Tages-Anzeiger.
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