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Herr Seitz, wie steht es um die Grünen?

Werner Seitz, Redaktion DeFacto
1st November 2023

Die Grünen waren die Siegerinnen der eidgenössischen Wahlen 2019. Vier Jahre später haben sie deutliche Verluste eingefahren. Was sind die Gründe dafür? Werner Seitz, der die Entwicklung der Grünen in der Schweiz seit ihrer Entstehung analysiert, ordnet ein.

Wie entwickelten sich die Grünen in der Schweiz?

Werner Seitz: Die Geschichte der Grünen ist eine bewegte Geschichte mit Brüchen. Schon bei der Gründung 1983 konnten sich die Aktivist:innen aus der Umwelt-, Friedens- und internationalen Solidaritätsbewegung nicht auf ein gemeinsames nationales Projekt einigen. So bildeten sich vorerst zwei Formationen: die sogenannt gemässigten Grünen und die alternativen Grünen. Im Verlaufe der Zeit traten die alternativen Grünen der gemässigten Grünen Partei der Schweiz bei. Dadurch wurde diese thematisch breiter und sie positionierte sich mehr links. 2004 spaltete sich im Kanton Zürich ein Flügel von den Grünen ab; 2007 gründete dieser Flügel mit einigen neu entstandenen Gruppierungen die Grünliberale Partei, welche Grüne und SP teilweise konkurrenzierte.

Auch bei den Wahlen durchliefen die Grünen immer wieder Wellentäler. Je nach Themenkonjunktur waren sie deutlich auf der Sieger- oder auf der Verliererseite. Markant gewannen sie in den 1980er Jahren, den 2000er Jahren und 2019, als die Umwelt- und Klimathemen auf der politischen Agenda ganz oben standen. Dazwischen gingen sie auch als Verlierer aus den Wahlen, wie soeben. 2023 standen vor allem sozial- und migrationspolitische Themen ganz oben. Trotz dem Auf und Ab in den Wahlen konnten die Grünen in den vergangenen vierzig Jahren ihre Parteistärke langfristig betrachtet kontinuierlich steigern, aktuell liegt sie knapp bei zehn Prozent.

Haben die «Klimakleber» bei den jüngsten Verlusten der Grünen von über drei Prozentpunkten eine Rolle gespielt?

Das erfahren wir vielleicht, wenn die wissenschaftliche Nachbefragung «Selects» vorliegt. Für mich ist die veränderte Themenkonjunktur der Hauptgrund für die Verluste der Grünen.

Wie sieht die Wählerschaft der Grünen aus?

Charakteristisch für die Wählenden der Grünen ist ihr überdurchschnittlich hohes Bildungsniveau. Sie gehören meistens zur neuen Mittelschicht und sind vor allem im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen, im Medien- oder Kulturbereich tätig. Man nennt sie auch «soziokulturelle Spezialist:innen». Sie vertreten gesellschaftspolitisch progressive Werte wie kulturelle Offenheit, gesellschaftliche Liberalisierung, Lebensqualität, Gleichstellung oder nachhaltige Lebensweise. Diese Eigenschaften und Werte treffen übrigens weitgehend auch auf die Wähler:innen der SP zu. Mit Blick auf das Alter werden die Grünen überdurchschnittlich stark von Jüngeren unterstützt; es wählen aber auch Ältere grün. Von Anfang an waren zudem die Grünen und ihre Wählenden mehrheitlich weiblich.

Die SP ist bei Wahlen die grösste Konkurrentin der Grünen. So auch 2023. Warum tun sich die beiden Parteien nicht zusammen?

SP und Grüne stehen sich programmatisch sehr nahe, namentlich in den Politikfeldern Gleichstellung, Ökologie oder Migration und Integration, und sie sprechen beide hauptsächlich die neue Mittelschicht an. Sie fischen also im selben Teich.

So standen SP und Grüne schon früh in einer gewissen – auch arbeitsteiligen – Konkurrenz zueinander. Diese hat sich bewährt, denn das linke Lager vermochte sich über die vergangenen Jahrzehnte bei rund dreissig Prozent zu halten. Die Politikwissenschaftlerin Silja Häusermann spricht von einem «Ausdifferenzierungsprozess des linken Lagers». Je nach Themenkonjunktur fanden starke Stimmenbewegungen zwischen den beiden Parteien statt, wobei die unterschiedliche Kompetenzzuschreibung eine wesentliche Rolle spielte. Die Grünen werden in Fragen der Umweltpolitik für kompetenter gehalten, die SP vor allem in Fragen der Sozialpolitik sowie, etwas weniger ausgeprägt, in der Europa- und Migrationspolitik.

Das Politisieren in getrennten Organisationen macht so durchaus Sinn. Zudem gibt es Unterschiede zwischen Grünen und SP: Diese wurzeln in der unterschiedlichen Geschichte, welche die beiden Parteien bis heute prägt, oder in der unterschiedlichen Haltung zu Technologie und Wachstum. Letztere beide spielen für die SP eine wichtige Rolle für die Verbesserung der Lebensverhältnisse, während die Grünen zweckrationalem Vorgehen immer wieder skeptisch gegenüberstehen.

Und wann werden die Grünen Bundesrat?

Die Grünen haben seit den Achtzigerjahren mehrmals für den Bundesrat kandidiert; das waren jedoch «instrumentelle» Kandidaturen. Die Grünen wollten damit zum Beispiel auf die Untervertretung der Frauen hinweisen oder gegen die SVP im Bundesrat protestieren. Die erste ernstgemeinte Kandidatur war 2019 mit Regula Rytz. Und da hat sich deutlich gezeigt: Es gibt kein verfassungs- oder gesetzmässig festgeschriebenes Recht für eine Partei, im Bundesrat vertreten zu sein. Über die Zusammensetzung bestimmt allein die Mehrheit in der Bundesversammlung. Die Grünen müssen also mit einer klugen Strategie eine Mehrheit in der Bundesversammlung für ihren Anspruch auf einen Sitz im Bundesrat organisieren.


Werner Seitz

Werner Seitz leitete im Bundesamt für Statistik über zwanzig Jahre lang die Sektion «Politik, Kultur, Medien». Er verfasste mehrere Werke über die politische Kultur, die Geschichte der politischen Gräben in der Schweiz, Repräsentation und Gleichstellung der Frauen sowie die Grünen. Im Mai 2023 erschien der Sammelband «Die Grünen in der Schweiz. Entwicklung, Wirken, Perspektiven», den er zusammen mit Sarah Bütikofer herausgegeben hat.

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Bild: flickr.com