Die FDP ist im Bundesrat mit zwei Sitzen vertreten, verliert aber seit langer Zeit konstant Wähleranteile und Sitze im Parlament. Hat die FDP nach ihren jüngsten Verlusten überhaupt noch Anspruch auf zwei Sitze in der Landesregierung? Daniel Bochsler hat alle möglichen Zauberformeln durchgerechnet und schätzt die Lage ein.
Die Fraktion der Mitte wird nach den Ständeratswahlen sehr wahrscheinlich grösser sein als die der FDP. Muss die FDP somit einen ihrer zwei Bundesratssitze abgeben?
Daniel Bochsler: Ich bin gespannt auf die zweiten Wahlgänge. Aber es gibt keinen Automatismus in der Zauberformel. Und noch viel weniger ist klar, worauf die Zauberformel überhaupt beruht: den Wählerstärken, oder der Zusammensetzung der Bundesversammlung. In den letzten Jahren haben einige Parteien auch neue, kreative Elemente hinein interpretiert. Etwa, dass die Regierungsformel auf Bundesebene von den Regierungsformeln der Kantonsregierungen abgeleitet werden soll, oder dass sie aufgrund imaginärer Blöcke im Parlament berechnet werden soll. Ersteres mag durchaus Sinn machen, aber scheint eine pragmatische Biegung der Formel zu sein, um Sitzansprüche zu rechtfertigen. Letzteres wären je nach Situation flexibel spielbare Listenverbindungen, sie öffnen strategischen Verrenkungsspielen und Deals Tür und Tor.
Falls die FDP einen Sitz abgeben muss, wer sollte ihn bekommen?
Die FDP muss derzeit keinen Sitz abgeben. Im rechten Lager erkenne ich kein Interesse daran, und der Präsident der Mitte sagt in jedes Mikrofon, das ihm hingehalten wird, dass er keine amtierenden Bundesräte – mir scheint er verwendet lieber die männliche als die weibliche Form – abwählt. Damit gibt es keine Mehrheit für die Abwahl amtierender FDP-Mandatsträger. Leistungsausweis hin oder her.
Käme es zu einer FDP-Vakanz, werden vermutlich die Grünen ins Spiel gebracht werden. Bei den meisten Berechnungsarten sind sie mehr als halb so stark wie die FDP, und damit steht es ausser Frage, dass die FDP kaum eine Doppelvertretung rechtfertigen kann, solange die Grünen nicht vertreten sind. Balthasar Glättli verweist gerne auf die entsprechende Berechnung. Wenn er in den Medien als wirklich kopflastig durchgehen wollte, könnte er die Sainte-Laguë-Wahlformel referenzieren. Die ist in der Schweiz nicht unbekannt, der Kanton Basel-Stadt wählt seinen Grossen Rat damit, und sie liegt dem Doppelproporz zugrunde, der in einer wachsenden Zahl von Kantonen Verwendung findet. Glättlis Argument wäre, dass damit die Wählerstimmen oder Nationalratssitze möglichst spiegelbildlich abgebildet werden.
Mit Blick auf die Wähleranteile, wäre die SVP doppelt so gross wie die FDP, und damit näher an einem dritten Sitz ist als die FDP am zweiten. Die SVP pocht zwar gerne auf das arithmetische Argument, aber die Forderung nach einer Dreiervertretung habe ich von der SVP noch nie gehört. Entweder weil es je nach Zusammensetzung des Ständerats und der zugrundeliegenden Arithmetik wiederum anders aussähe, oder weil die SVP je nach der verwendeten Proporzformel, sprich wenn man nicht nach Nationalratsproporz, sondern nach Sainte-Laguë rechnen würde, arithmetisch den Grünen den Vortritt lassen müsste. Viel eher wohl aber weil ein dritter SVP-Sitz ohnehin politisch chancenlos wäre, und in der Öffentlichkeit mutmasslich als arrogant apostrophiert würde. Zudem will die SVP ohnehin nicht allzu viel Regierungsverantwortung tragen, das müsste sie aber als einzige Regierungspartei mit drei Vertreterinnen oder Vertretern.
Ein Mitteanspruch ergäbe sich nur nach der Rangfolge-Formel 2-2-2-1, mit der in den letzten Jahren die FDP hausiert hat. Aber ich sehe nur Pseudoargumente für diese Formel. Wenn ich das richtig verstanden habe, so richtig klar wurde mir das nie, sollte keine Partei im Bundesrat stärker vertreten sein als die anderen, und weniger als vier Parteien wären zu wenige, mehr als vier Parteien wären zu viele. Selbstredend würde die 2-2-2-1-Formel unhaltbar, falls es eine Partei mit absoluter Parlamentsmehrheit gäbe, denn diese müsste dann ja mindestens vier Bundesratsmitglieder stellen. Oder wenn die vierte Partei in einen tiefen einstelligen Prozentanteil fallen würde. Vermutlich werden wir keines der beiden in den nächsten Jahrzehnten erleben, aber diese hypothetischen Rechenbeispiele zeigen, dass eine fixe Rangfolge-Formel eben nichts mit der vermeintlichen Proportionalität zu tun hat.
Klar, der Bundesrat wird nicht mit dem Taschenrechner, sondern politisch zusammengesetzt, und da ist die Mitte im parteipolitischen Gefüge im Vorteil, wenn sie der FDP den zweiten Sitz streitig machen will. Dies alllenfalls in einer Art Zweckbündnis mit den Grünliberalen und einem Abkommen, dass der Sitz rotieren soll. Die Mitte hat vermutlich den Medianparlamentarier oder die Medianparlamentarierin für sich, sprich weder rechts noch links von ihr kommt eine Mehrheit ohne sie zustande. Dadurch hat die Mitte besonders viel Macht.
Gibt es überhaupt eine Berechnungsformel für die Zusammensetzung des Bundesrats?
Keine dieser Berechnungen ist in irgendeiner Art anerkannt. Anders als etwa in Nordirland, wo es eine gesetzliche, proportionale Formel gibt, nicht nur für die Verteilung der Sitze in der Exekutive, sondern zugleich auch zur Verteilung der Ministerien. Basierend auf den Sitzzahlen im Regionalparlament wird eine Reihenfolge etabliert, nach der die Parteien Ministerien auswählen können. Das hat den Vorteil, dass sie gar nicht miteinander sprechen müssen, um die Regierung zu formieren. Nichts davon gilt in der Schweiz. 1959 hat die SP, unter Federführung der damaligen Konservativ-Christlichsozialen Volkspartei, der Vorgängerpartei der CVP resp. der heutigen Mitte, einen zweiten Bundesratssitz erhalten. Daraus wurden dann verschiedene Interpretationen abgeleitet, aber das ist alles Ad-hoc-Zahlenmagie. Es geht bei der Zusammensetzung des Bundesrats vielmehr um politische Überlegungen. Und oft darum, dass die geltende Formel wenig Zuspruch findet, aber dass es für eine Veränderung keine Mehrheit gibt.
Wieso lässt sich auf Grund von Wähleranteilen kein direkter Sitzanspruch ableiten?
Das liesse sich schon, aber das wäre das System einer direkten Volkswahl im Proporz, oder eines indirekten Mechanismus, der so formuliert ist, dass er einer solchen gleichkommt. Für ein Beispiel dafür muss man nicht weit suchen, der Blick ins Tessin reicht.
Bundesräte werden in der Schweiz in den allermeisten Fällen wiedergewählt. Wann wäre der richtige Zeitpunkt für einen allfälligen Wechsel der parteipolitischen Zusammenstellung des Bundesrats?
Wenn man die Wiederwahl als sakrosankt erachtet, kann die Zusammensetzung nur bei Todesfällen oder freiwilligen Rücktritten einer Vertreterin oder eines Vertreters der entsprechenden Partei wechseln. Damit gibt man der Partei und ihren Bundesratsmitglieder auch ein strategisches Mittel in die Hand. Deshalb sehen sich amtsmüde Regierungsmitglieder womöglich unter Druck, länger im Amt zu bleiben als sie mögen, andere fühlen sich gedrängt, frühzeitig zurückzutreten. Das könnte mit Abwahlen, sei es aufgrund unbefriedigender Amtsführung, wegen wechselnder politischer Allianzen oder wegen Wählerverschiebungen behoben werden. Aber dafür finden sich in der Bundesversammlung nur ganz ausnahmsweise Mehrheiten. Womöglich hängt das mit dem Wahlverfahren, also der Einerwahl, zusammen. Ob diese sakrosankte Wiederwahl-Regel gut ist, weiss ich nicht.
Daniel Bochsler ist ausserordentlicher Professor für Nationalismus und Politikwissenschaft an der Central European University (CEU) und Professor an der Universität Belgrad. Er hat an der Universität Zürich habilitiert und ist dort Privatdozent. Seine Forschung beschäftigt sich mit politischen Institutionen in geteilten Gesellschaften, zuletzt schwerpunktmässig in Mittel- und Osteuropa. Er hat breit zur Schweizer Politik publiziert, zuletzt mit einem Aussenblick auf die Schweizer Demokratie im Oxford Handbook of Swiss Politics.
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