«Baselvotes» gibt Basler Volksabstimmungen seit 1875 eine Plattform

Basel-Stadt nimmt in der Schwei­zer Demo­kra­tie­for­schung kei­nen pro­mi­nen­ten Platz ein. Der Stadt­kan­ton war ein direkt­de­mo­kra­ti­scher Nach­züg­ler. Dazu ist er ein sta­tis­ti­scher Son­der­fall, denn kan­to­na­le Abstim­mun­gen und Abstim­mun­gen der Stadt Basel sind deckungs­gleich. Nicht zuletzt des­halb neh­men die Bas­le­rin­nen und Bas­ler bezüg­lich Nut­zung der Volks­rech­te längst einen Spit­zen­platz ein. Und nie sind mehr Volks­in­itia­ti­ven zur Abstim­mung gekom­men als in den letz­ten Jah­ren. Nach­schla­gen und selbst ana­ly­sie­ren lässt sich dies, und vie­les mehr, auf www.baselvotes.ch.

Selbst­ver­ständ­lich lehnt sich der Name «basel­vo­tes» an «swiss­vo­tes» an. Wäh­rend letz­te­re Platt­form seit Jah­ren eine umfas­sen­de Über­sicht über alle natio­na­len Volks­ab­stim­mun­gen bie­tet, such­ten Poli­tik­in­ter­es­sier­te eine sol­che für Basel-Stadt bis vor kur­zem ver­ge­bens; die kan­to­na­len sta­tis­ti­schen Jahr­bü­cher begin­nen erst 1921. Nun las­sen sich sämt­li­che über 600 Bas­ler Volks­ab­stim­mun­gen und Resul­ta­te seit 1875 tabel­la­risch rasch abru­fen, inklu­si­ve der Urhe­ber­schaft von Initia­ti­ven und Refe­ren­den, den Paro­len wich­ti­ger Akteu­re und einem inhalt­li­chen Kurz­be­schrieb. Die auf basel­vo­tes ver­öf­fent­lich­ten Daten bil­den die Grund­la­ge des Buchs «Auf zur Urne!» (2022), das die Geschich­te der Bas­ler Lust an Mit­be­stim­mung erst­mals umfas­send erzählt.

Respektable Erfolgsbilanz der «Politik von unten»

Die Bas­ler – und seit 1966 end­lich auch die Bas­le­rin­nen – haben bis­her 184 Volks­in­itia­ti­ven und 304 fakul­ta­ti­ve Refe­ren­den an die Urne gebracht (1875­–2022). Die Erfolgs­quo­te beträgt bei den Initia­ti­ven 37% und bei den fakul­ta­ti­ven Refe­ren­den 40%.

Bei­de Instru­men­te wer­den bis Mit­te des 20. Jahr­hun­derts klar stär­ker – und erfolg­rei­cher – von der bür­ger­li­chen Sei­te genutzt. Zu einer ers­ten Häu­fung kommt es in den stark pola­ri­sier­ten 1920er bis 1940er Jah­ren, die durch den Bru­der­zwist von SP und Kom­mu­nis­ten, 15 Jah­re ‹rotes Basel›, die Wirt­schafts­kri­se und den Zwei­ten Welt­krieg geprägt waren. In den 1980er und 1990er Jah­ren kommt es zu einem mar­kan­ten Wan­del, als links-grü­ne Akteu­re die Volks­rech­te gera­de­zu okku­pie­ren. Seit dem Rück­zug der Links­aus­sen­par­tei­en Pro­gres­si­ve Orga­ni­sa­tio­nen Basel (POB) und Par­tei der Arbeit (PdA) ver­teilt sich die Nut­zung der Volks­rech­te in Basel-Stadt wie­der brei­ter. Unter dem Strich las­sen sich mehr Volks­in­itia­ti­ven dem rot-grü­nen Lager zuord­nen, das Refe­ren­dum etwas häu­fi­ger dem bür­ger­li­chen Lager.

Nie sind mehr Volks­in­itia­ti­ven zur Abstim­mung gelangt als im ver­gan­ge­nen Jahr­zehnt. Dies zeigt die unge­bro­che­ne Popu­la­ri­tät der Volks­in­itia­ti­ve. Es lässt sich aber auch als gerin­ger Kom­pro­miss­wil­le der Initi­an­ten deu­ten – oder von Regie­rung und Par­la­ment. In neun Fäl­len leg­te der Gros­se Rat in die­sem Zeit­raum einen Gegen­vor­schlag vor, das Komi­tee liess sich jedoch nicht auf einen Rück­zug sei­ner Initia­ti­ve ein.

Abbildung 1. Erfolgsquote Volksinitiativen

Abbildung 2. Erfolgsquote Referenden

Impulsgeber und Schrittmacher

Die Bas­ler Stimm­be­rech­tig­ten haben sich immer wie­der als Impuls­ge­ber und Schritt­ma­cher erwie­sen. In den ers­ten Jahr­zehn­ten domi­nier­ten Fra­gen der Stadt­ent­wick­lung und der demo­kra­ti­sche­ren Kräf­te­ver­hält­nis­se (z.B. Pro­porz­wahl). Ab den 1920er Jah­ren kamen sozi­al­po­li­ti­sche For­de­run­gen hin­zu. So gehen die ers­te Alters­ren­te und das ers­te Feri­en­ge­setz auf eine Volks­in­itia­ti­ve zurück. Im Zuge von Moder­ni­sie­rung und Bevöl­ke­rungs­wachs­tum rück­te schliess­lich ab den 1960er Jah­ren die Umwelt in den Vor­der­grund. Die AKW-kri­ti­schen Bas­le­rin­nen und Bas­ler erzwan­gen eine alter­na­ti­ve Ener­gie­po­li­tik und ins­ge­samt wie­der mehr städ­ti­sche Lebens­qua­li­tät: von der Umge­stal­tung der auto­ge­rech­ten zur ver­kehrs­be­ru­hig­ten Stadt, vom Erhalt von Grün­flä­chen bis zu geschütz­tem und bezahl­ba­rem Wohnraum.

In jüngs­ter Zeit führ­te Basel-Stadt per Volks­in­itia­ti­ve als ers­ter Deutsch­schwei­zer Kan­ton einen Min­dest­lohn ein und gab sich das ehr­gei­zi­ge Ziel­jahr 2037 zur Errei­chung der Kli­ma­neu­tra­li­tät. In bei­den Fäl­len nahm die Stimm­be­völ­ke­rung den Gegen­vor­schlag des Par­la­ments an. Der Stadt­kan­ton ist bei Initi­an­ten auch als Ein­falls­tor für neue ethi­sche Anlie­gen ins Visier gerückt. So woll­te die «Pri­ma­ten-Initia­ti­ve» welt­weit erst­mals Grund­rech­te für Tie­re durch­set­zen. Wo die Phar­ma­in­dus­trie und der Zoo bedroht schei­nen, blo­cken aller­dings auch die Bas­le­rin­nen und Bas­ler ab.

Statistischer Sonderfall

Die Bas­ler Bevöl­ke­rung arran­gier­te sich lan­ge auch ohne Mit­spra­che ganz gut mit der wohl­tä­ti­gen kon­ser­va­ti­ven Ober­schicht der Burck­hardts, Meri­ans oder Sarasins. Erst 1875 fand der Stadt­kan­ton dank der Frei­sin­ni­gen zur direk­ten Demo­kra­tie, als fünft­letz­ter Kan­ton.1 Dann mach­ten die Stimm­bür­ger von den neu­en Rech­ten rasch Gebrauch, zumal die Ver­fas­sungs­ge­ber den Kanal weit fass­ten. Wer genau­er hin­schaut, erkennt, dass man­che Abstim­mungs­ge­gen­stän­de nur die Stadt betra­fen. Da die Stadt Basel seit 1875 kei­ne eige­nen Ver­wal­tungs­struk­tu­ren mehr hat, muss­ten vie­le Vor­la­gen kan­to­nal ent­schie­den wer­den, die in ande­ren Kan­to­nen kom­mu­na­le Ange­le­gen­heit sind: von Quar­tier­pla­nun­gen bis zum städ­ti­schen Park­platz- und Abfallregime.

Das lässt bereits ver­mu­ten, dass Basel-Stadt im schwei­ze­ri­schen Ver­gleich eine hohe Anzahl kan­to­na­ler Volks­ab­stim­mun­gen auf­weist. Dazu kom­men wei­te­re Ein­flüs­se. So ent­wi­ckel­ten sich aus der hete­ro­ge­nen Stadt­ge­sell­schaft her­aus vie­le Par­tei­en, und sie alle grif­fen zu den Volks­rech­ten. In ande­ren Kan­to­nen kam es dafür zu mehr ange­ord­ne­ten Volks­ab­stim­mun­gen; Basel-Stadt kann­te nie ein obli­ga­to­ri­sches Geset­zes- oder Finanzreferendum.

Spitzenreiter beim Unterschriftensammeln – alarmierend tiefer Anteil Stimmberechtigter

Unter dem Strich ran­giert Basel-Stadt bezüg­lich der Anzahl Abstim­mungs­vor­la­gen im ers­ten Drit­tel, aber nicht zuvor­derst, wie der Daten­satz des Insti­tuts für Poli­tik­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Bern für die letz­ten vier­zig Jah­re zeigt. Den Spit­zen­platz nimmt der Stadt­kan­ton beim Unter­schrif­ten­sam­meln ein. Am meis­ten Volks­in­itia­ti­ven reich­te zwar der Kan­ton Zürich ein, Basel-Stadt schwingt jedoch unan­ge­foch­ten bei den fakul­ta­ti­ven Refe­ren­den oben aus.2

Basel-Stadt, im 19. Jahr­hun­dert am Ran­de der demo­kra­ti­schen Bewe­gung, hat sich zu einem mun­te­ren und span­nen­den Mit­spie­ler der direk­ten Demo­kra­tie ent­wi­ckelt. Akut stellt sich für den Stadt­kan­ton indes die Fra­ge, ob und wie weit er die Mit­spra­che öff­nen soll. Der Anteil der Stimm­be­rech­tig­ten sinkt näm­lich ste­tig und liegt inzwi­schen unter 52 Pro­zent – bald könn­te die Bevöl­ke­rungs­mehr­heit (wie­der) von poli­ti­schen Ent­schei­den aus­ge­schlos­sen sein.


Refe­ren­zen:

1 Vat­ter, Adri­an: Kan­to­na­le Demo­kra­tien im Ver­gleich, Bern 2002, S. 238.

2 https://www.ipw.unibe.ch/forschung/political_data_on_the_swiss_cantons/index_ger.html

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