Frau Flick, was bringt’s, wenn in einem Kanton 56 Nationalratslisten antreten?

Knapp 6000 Per­so­nen kämp­fen auf über 600 Lis­ten um knapp 200 Sit­ze im Natio­nal­rat. Die aller­meis­ten Kan­di­die­ren­den haben nur mini­ma­le Wahl­chan­cen. In man­chen Kan­to­nen tre­ten ein­zel­ne Par­tei­en inzwi­schen mit einem hal­ben Dut­zend Lis­ten an. Ist das eine erfolg­ver­spre­chen­de Stra­te­gie? Mar­ti­na Flick Wit­zig, die den Erfolg von Lis­ten und Lis­ten­ver­bin­dun­gen ana­ly­siert hat, ord­net ein.

Erhal­ten Par­tei­en mehr Stim­men, wenn sie meh­re­re Lis­ten haben? Kann man sagen, wie vie­le Stim­men mehr eine Par­tei damit gewinnt?

Mar­ti­na Flick Wit­zig: Auf der Grund­la­ge einer Aus­wer­tung für die Jah­re 1987 bis 2019 lässt sich sagen, dass die Lis­ten­zahl eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le für die Stim­men­ge­win­ne spielt. Je nach berech­ne­tem Modell sehen wir pro zusätz­li­cher Lis­te einen Stim­men­zu­wachs von ledig­lich 0.2 bis 0.5 Pro­zent­punk­ten. Ande­re Fak­to­ren sind für den Erfolg viel bedeu­ten­der, etwa die Fra­ge, wie hoch der Stim­men­an­teil bei der vor­he­ri­gen Wahl war oder ob die Par­tei auf natio­na­ler Ebe­ne zule­gen konn­te. Wenn wir die Man­da­te betrach­ten, gehen zusätz­li­che Lis­ten eben­so häu­fig mit Gewin­nen wie mit Ver­lus­ten ein­her. Aus sta­tis­ti­scher Sicht lässt sich inso­weit kein Effekt feststellen.

Haben Par­tei­en tat­säch­lich dank meh­re­ren Lis­ten schon zusätz­li­che Sit­ze gewin­nen können?

Bei den eid­ge­nös­si­schen Wah­len von 2019 ist die CVP Aar­gau mit neun Lis­ten ange­tre­ten. Es gelang ihr, ihren Stimm­an­teil ent­ge­gen dem natio­na­len Trend um 1.3 Pro­zent­punk­te zu stei­gern, was ihr ein zusätz­li­ches Man­dat ein­brach­te. Die­ses Bei­spiel hat offen­bar Schu­le gemacht, denn wir beob­ach­ten bei den aktu­el­len Wah­len gegen­über 2019 einen gros­sen Zuwachs an Lis­ten. Vor allem die Mit­te, die GLP und die Grü­nen gehen mit deut­lich mehr Lis­ten ins Ren­nen als vor vier Jah­ren. [Anm. d. Red.: Georg Lutz unter­such­te in einem DeFac­to Bei­trag, wel­che Par­tei­en am meis­ten Lis­ten haben] 

Hat die­se Lis­ten­flut auch Nach­tei­le? Wel­che und für wen?

Die Lis­ten­flut bringt an ver­schie­de­nen Stel­len einen Mehr­auf­wand. Da sind bei­spiels­wei­se die Par­tei­en, die Kan­di­die­ren­de für die zusätz­li­chen Lis­ten rekru­tie­ren müs­sen. Die Kan­di­die­ren­den ste­cken Zeit, Geld und Ener­gie in einen Wahl­kampf, der in den meis­ten Fäl­len für sie per­sön­lich aus­sichts­los ist. In man­chen Kan­to­nen muss­ten die Lis­ten auf einem spe­zi­el­len Papier gedruckt wer­den, damit sie über­haupt noch zu einem Set zusam­men­ge­fasst wer­den konn­ten. Auch für die Stimm­bür­ger­schaft ist das gros­se Ange­bot an Kan­di­die­ren­den nicht nur vor­teil­haft, weil es zuneh­mend unüber­sicht­lich wird. Dies gilt vor allem in den Kan­to­nen, in denen rela­tiv vie­le Man­da­te zu ver­ge­ben sind. Das Sta­tis­ti­sche Amt des Kan­tons Zürich hat bei­spiels­wei­se berech­net, dass die Zür­cher Wahl­be­rech­tig­ten 7.49*1072 Mög­lich­kei­ten haben, einen gül­ti­gen Stimm­zet­tel aus­zu­fül­len. Und aus eige­ner Erfah­rung weiss ich, dass es auch für die Mit­ar­bei­ten­den in den Wahl­bü­ros müh­sa­mer wird, wenn bei der Berei­ni­gung und Erfas­sung der ver­än­der­ten Stimm­zet­tel die Kan­di­da­ten­num­mern aus einem umfang­rei­chen Kata­log her­aus­ge­sucht wer­den müssen.


Mar­ti­na Flick Witzig
Mar­ti­na Flick Wit­zig ist pro­mo­vier­te Poli­tik- und Ver­wal­tungs­wis­sen­schaft­le­rin. Sie ist Assis­ten­tin an den Lehr­stüh­len für Schwei­zer Poli­tik und Poli­ti­sche Sozio­lo­gie der Uni­ver­si­tät Bern. Sie forscht zu Schwei­zer Poli­tik und Institutionen.

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Hin­weis: Ein Bei­trag über die stei­gen­de Anzahl Lis­ten ist am 18.08.2023 auf SRF erschienen.

Bild: SRF

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