Abstimmungsrückblick 25.9.22: Massentierhaltungsinitiative scheitert – die Schweiz verschärft ihren Tierschutz nicht

Kurzbeschreibung zur Abstimmung vom 25. September 2022 über die Massentierhaltungsinitiative.

Vorgeschichte

Die Thematiken des Tierschutzes und einer nachhaltigen landwirtschaftlichen Produktion haben in den 2010er Jahren sowohl im Parlament als auch in der öffentlichen Debatte und an der Abstimmungsurne Konjunktur (vgl. etwa auch die Abstimmungen Nr. 621 zur Fair-Food-Initiative, Nr. 623 zur Hornkuh-Initiative, Nr. 632 zum Jagdgesetz, Nr. 641 zur Trinkwasserinitiative oder Nr. 651 zu einem Tierversuchsverbot). In diesem Kontext lanciert 2018 die Tierschutzorganisation Sentience Politics, unterstützt von weiteren Tier- und Umweltorganisationen, aber auch von Politiker:innen von den Grünen bis zur SVP, eine Volksinitiative mit dem Ziel, Massentierhaltung in der Schweiz zu unterbinden. Zudem sollen die Bio-Suisse-Richtlinien von 2018 zum Mindeststandard für die gesamte landwirtschaftliche Tierhaltung in der Schweiz werden.

Der Bundesrat empfiehlt die Initiative nach deren Zustandekommen zur Ablehnung. Er argumentiert, dass die bestehende Tierschutzgesetzgebung schon heute Tierhaltung verbiete, bei welcher das Tierwohl systematisch verletzt wird und welche damit die Definition für Massentierhaltung gemäss Initiativtext erfüllt. Eine weitergehende Beschränkung der Gruppengrösse sei unnötig. Die Tierwürde sei aber in der Tat ein wichtiges Anliegen – für alle Tiere, nicht nur für die Nutztiere in der Landwirtschaft, auf die die Initiative sich beschränke. Der Bundesrat schlägt deshalb vor, der Initiative einen direkten Gegenentwurf gegenüberzustellen, der dieses Ziel in die Verfassung aufnimmt, gleichzeitig aber auf eine dortige Verankerung von Bio-Richtlinien und Importbeschränkungen verzichtet.

Auch der Nationalrat (mit 106 zu 77 Stimmen bei 8 Enthaltungen) und der Ständerat (mit 32 zu 8 Stimmen bei einer Enthaltung) lehnen die Initiative ab, ebenso wie den Gegenentwurf: Eine Mehrheit in beiden Räten, vorwiegend bestehend aus den Abgeordneten von Mitte, FDP und SVP, sieht keinen Bedarf, Bestimmungen in die Verfassung aufzunehmen, die weitergehen als die bisherigen. An der Initiative wird zudem unter anderem die «inakzeptable» Aufnahme des Namens einer Eigenmarke (Bio Suisse) in die Verfassung kritisiert, am Gegenentwurf vor allem die befürchtete Wettbewerbsverzerrung zulasten der schweizerischen Produzenten, da er nur die Inlandproduktion regulieren würde. Grüne und SP scheitern derweil mit dem Antrag, die Initiative zur Annahme zu empfehlen. Auch mit Anträgen zur wahlweisen Überarbeitung des bundesrätlichen Gegenentwurfes oder der Ausarbeitung eines indirekten Gegenvorschlages haben Vertreter:innen aus denselben Parteien sowie aus der GLP keinen Erfolg.

Gegenstand

Die Initiative hat zum Ziel, den Schutz der Würde in der landwirtschaftlichen Tierhaltung in die Verfassung aufzunehmen und Massentierhaltung zu verbieten. Konkret müsse der Bund Kriterien unter anderem für eine tierfreundliche Unterbringung und die maximale Gruppengrösse je Stall festlegen und auch bezüglich der Einfuhr von Tieren und tierischen Erzeugnissen Vorschriften erlassen, die dem neuen Verfassungsartikel Rechnung tragen. Die Anforderungen an die Würde des Tiers müssten dabei mindestens denjenigen der Bio-Suisse-Richtlinien 2018 entsprechen.

Abstimmungskampf

Die SP, die Grünen, die Schweizer Demokraten und auch die GLP – dies im Gegensatz zur Parlamentsdebatte – empfehlen die Volksinitiative zur Annahme. Ebenfalls für ein Ja plädieren Natur- und Tierschutzvereinigungen sowie Bio Suisse und die Kleinbauern-Vereinigung. Für ein Nein werben FDP, Mitte, SVP und EDU, unterstützt von den Wirtschafts-, Gastronomie- und Bauernverbänden. Stimmfreigabe beschliessen die EVP (drei ihrer Sektionen empfehlen ein Nein) und die PdA, ebenso wie drei Kantonalsektionen der GLP und eine der SP.

Die Befürwortenden sehen – anders als der Bundesrat – Massentierhaltung in der Schweiz als weit verbreitet an und verweisen dabei auf mehrere Zahlen: So sei der Bestand der Tiere in der Schweizer Landwirtschaft in den letzten 20 Jahren um beinahe die Hälfte gestiegen, pro Betrieb würden mitunter bis zu 27’000 Hühner, 1500 Schweine oder 300 Rinder gehalten. Grundbedürfnisse nach Platz, Bewegung und Beschäftigung würden dabei systematisch missachtet und Tiere nur als Ware statt als leidensfähige Lebewesen behandelt. Zudem wären nur industrielle Grossbetriebe – und auch diese erst nach einer Übergangsfrist von 25 Jahren – von der Initiative betroffen, während traditionelle Bauernhöfe dadurch gestärkt würden. Aufmerksamkeit generieren in der Kampagne Videos aus Tierzuchtbetrieben, die von verschiedenen Tierschutzorganisationen veröffentlicht werden und aus ihrer Sicht schockierende Zustände zeigen; Resonanz erhält das Ja-Lager auch mit der Veranschaulichung, dass ein Huhn in der Schweiz nicht mehr als eine A4-Seite Platz zur Verfügung habe.

Die Gegnerschaft der Initiative, angeführt vom Bauernverband, verweist dagegen darauf, dass das Wohlergehen jedes einzelnen Tieres entscheidend sei und nicht die Anzahl Tiere pro Betrieb. Die Würde und das Wohlergehen von Tieren seien in der Schweiz schon heute geschützt, unabhängig davon, wie viele Tiere an einem Ort gehalten werden. Zudem fokussiert die Nein-Kampagne stark auf das Argument, dass bei einer Annahme der Initiative die Preise für viele Lebensmittel steigen und die Konsument:innen in ihrer Wahlfreiheit stark eingeschränkt würden. Die Schweizer Standards wie gefordert auch für Importprodukte anzuwenden, werde zudem nicht nur äusserst schwierig und teuer, sondern verletze auch internationale Handelsabkommen.

Abbildung 1. Abstimmung über die Massentierhaltungsinitiative: Stimmempfehlungen und Ergebnisse

Quelle: Swissvotes
Parteiparolen: Kumulierte Wähleranteile aller Parteien mit Nein-Parole und aller Parteien mit neutraler oder unbekannter Parole.

Der Umfang der Medienberichterstattung zur Massentierhaltungsinitiative fällt im langjährigen Vergleich mit anderen Abstimmungsvorlagen je nach Untersuchung unterdurchschnittlich (Heidelberger/Bühlmann 2022) oder durchschnittlich (fög 2022) aus, die Tonalität dabei ist überwiegend positiv. In den Inseratespalten dominieren hingegen die Nein-Inserate. Ein Teilerfolg für die Initiative ist, dass die Medien in den Wochen vor der Abstimmung rund zehnmal mehr über den Themenbereich «Tierhaltung» berichten als im Vorjahreszeitraum (Heidelberger/Bühlmann 2022).

Ergebnis

Nachdem etwas mehr als einen Monat vor der Abstimmung die Ampeln für die Initiant:innen in Vorumfragen noch auf Grün standen, zeigt sich an der Urne schliesslich ein anderes Bild: Die Massentierhaltungsinitiative wird am 25. September 2022 mit 62,9 Prozent Nein-Stimmen deutlich abgelehnt. Die Initiative erfährt lediglich im Kanton Basel-Stadt mit 55% Ja eine mehrheitliche Zustimmung. In allen anderen Kantonen wird sie verworfen, am deutlichsten in Appenzell Innerrhoden (78% Nein).

Abbildung 2. Abstimmung vom 25.09.2022 über die Massentierhaltungsinitiative, Abstimmungsergebnis nach Bezirken

Quelle: Bundesamt für Statistik

Dabei fällt das Nein der Stadtbevölkerung (52%) und der Frauen (56%) vergleichsweise knapp aus, jenes der Landbevölkerung (71%) und der Männer (70%) hingegen sehr deutlich – was Ziehli (2023) in Zusammenhang mit dem höheren durchschnittlichen Fleischkonsum bei Männern und Landbevölkerung stellt. Die Vox-Analyse (gfs.bern 2022) zeigt zudem ein sehr klares Nein von Sympathisierenden von Mitte, FDP und SVP. Grüne- und SP-Sympathisierende stimmten eindeutig mit Ja; Unterstützende der GLP waren genau hälftig gespalten. Während Ja-Stimmende Tierschutzorganisationen stärker vertrauten, ethische Motive anführten und den Umweltschutz höher als das Wirtschaftswohl gewichteten, vertraute das Nein-Lager den Bäuer:innen und wünschte weniger Markteingriffe des Staates. Eine Mehrheit überzeugen konnte das Pro-Argument, dass fabrikähnliche Mastbetriebe der Schweiz unwürdig seien und dies die Gesundheit von Mensch und Tier gefährde, während ebenso eine Mehrheit davon überzeugt war, dass ein Ja zu einem Preisanstieg zulasten der Konsument:innen geführt hätte.


Hinweis: Dieser Beitrag wurde für die Abstimmungsdatenbank Swissvotes erstellt. Das Original kann ebenso wie zahlreiche weiterführende Informationen rund um die Abstimmungsvorlage unter https://swissvotes.ch/vote/658 heruntergeladen werden.

Empfohlene Zitierweise: Stahl, Pascal (2023): Massentierhaltungsinitiative scheitert – die Schweiz verschärft ihren Tierschutz nicht. Swissvotes – die Datenbank der eidgenössischen Volksabstimmungen. Online: www.swissvotes.ch. Abgerufen am [Datum].

Referenzen:

  • fög (2022). Abstimmungsmonitor zu den Vorlagen vom 25. September 2022, Schlussbericht vom 23. September 2022. Zürich: Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich.

  • gfs.bern (2022). VOX-Analyse September 2022. Nachbefragung und Analyse zur eidgenössischen Volksabstimmung vom 25. September 2022. Bern: gfs.bern.

  • Heidelberger, Anja, und Marc Bühlmann (2022). APS-Zeitungs- und Inserateanalyse zu den Abstimmungen vom 25. September 2022. Zwischenstand vom 15.9.2022. Bern: Année Politique Suisse, Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern.

  • Ziehli, Karel (2023). Ausgewählte Beiträge zur Schweizer Politik: Initiative populaire fédérale «Non à l’élevage intensif en Suisse», 2018-2022. Bern: Année Politique Suisse, Institut für Politikwissenschaft, Universität Bern. www.anneepolitique.swiss, abgerufen am 18.8.2023.

  • Erläuterungen des Bundesrates zur Abstimmung vom 25.9.2022 (Abstimmungsbüchlein). Herausgegeben von der Bundeskanzlei.

  • Amtliche Bulletins des National- und des Ständerats (Geschäft 21.044).

  • Bundesblatt: BBl 2021 1244. BBl 2023 486.

Bild: unsplash.com

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