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Frau Flick, was bringt’s, wenn in einem Kanton 56 Nationalratslisten antreten?

Martina Flick Witzig, Redaktion DeFacto
29th September 2023

Knapp 6000 Personen kämpfen auf über 600 Listen um knapp 200 Sitze im Nationalrat. Die allermeisten Kandidierenden haben nur minimale Wahlchancen. In manchen Kantonen treten einzelne Parteien inzwischen mit einem halben Dutzend Listen an. Ist das eine erfolgversprechende Strategie? Martina Flick Witzig, die den Erfolg von Listen und Listenverbindungen analysiert hat, ordnet ein.

Erhalten Parteien mehr Stimmen, wenn sie mehrere Listen haben? Kann man sagen, wie viele Stimmen mehr eine Partei damit gewinnt?

Martina Flick Witzig: Auf der Grundlage einer Auswertung für die Jahre 1987 bis 2019 lässt sich sagen, dass die Listenzahl eine untergeordnete Rolle für die Stimmengewinne spielt. Je nach berechnetem Modell sehen wir pro zusätzlicher Liste einen Stimmenzuwachs von lediglich 0.2 bis 0.5 Prozentpunkten. Andere Faktoren sind für den Erfolg viel bedeutender, etwa die Frage, wie hoch der Stimmenanteil bei der vorherigen Wahl war oder ob die Partei auf nationaler Ebene zulegen konnte. Wenn wir die Mandate betrachten, gehen zusätzliche Listen ebenso häufig mit Gewinnen wie mit Verlusten einher. Aus statistischer Sicht lässt sich insoweit kein Effekt feststellen.

Haben Parteien tatsächlich dank mehreren Listen schon zusätzliche Sitze gewinnen können?

Bei den eidgenössischen Wahlen von 2019 ist die CVP Aargau mit neun Listen angetreten. Es gelang ihr, ihren Stimmanteil entgegen dem nationalen Trend um 1.3 Prozentpunkte zu steigern, was ihr ein zusätzliches Mandat einbrachte. Dieses Beispiel hat offenbar Schule gemacht, denn wir beobachten bei den aktuellen Wahlen gegenüber 2019 einen grossen Zuwachs an Listen. Vor allem die Mitte, die GLP und die Grünen gehen mit deutlich mehr Listen ins Rennen als vor vier Jahren. [Anm. d. Red.: Georg Lutz untersuchte in einem DeFacto Beitrag, welche Parteien am meisten Listen haben]

Hat diese Listenflut auch Nachteile? Welche und für wen?

Die Listenflut bringt an verschiedenen Stellen einen Mehraufwand. Da sind beispielsweise die Parteien, die Kandidierende für die zusätzlichen Listen rekrutieren müssen. Die Kandidierenden stecken Zeit, Geld und Energie in einen Wahlkampf, der in den meisten Fällen für sie persönlich aussichtslos ist. In manchen Kantonen mussten die Listen auf einem speziellen Papier gedruckt werden, damit sie überhaupt noch zu einem Set zusammengefasst werden konnten. Auch für die Stimmbürgerschaft ist das grosse Angebot an Kandidierenden nicht nur vorteilhaft, weil es zunehmend unübersichtlich wird. Dies gilt vor allem in den Kantonen, in denen relativ viele Mandate zu vergeben sind. Das Statistische Amt des Kantons Zürich hat beispielsweise berechnet, dass die Zürcher Wahlberechtigten 7.49*1072 Möglichkeiten haben, einen gültigen Stimmzettel auszufüllen. Und aus eigener Erfahrung weiss ich, dass es auch für die Mitarbeitenden in den Wahlbüros mühsamer wird, wenn bei der Bereinigung und Erfassung der veränderten Stimmzettel die Kandidatennummern aus einem umfangreichen Katalog herausgesucht werden müssen.


Martina Flick Witzig
Martina Flick Witzig ist promovierte Politik- und Verwaltungswissenschaftlerin. Sie ist Assistentin an den Lehrstühlen für Schweizer Politik und Politische Soziologie der Universität Bern. Sie forscht zu Schweizer Politik und Institutionen.

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Hinweis: Ein Beitrag über die steigende Anzahl Listen ist am 18.08.2023 auf SRF erschienen.

Bild: SRF