Der Systemwechsel bei der Organspende wird beschlossen

Kurz­be­schrei­bung zur Abstim­mung vom 15. Mai 2022 über die Ände­rung des Transplantationsgesetzes.

Vorgeschichte

2017 lan­ciert die «Jeu­ne Chambre Inter­na­tio­na­le de la Rivie­ra», eine ihren Anga­ben nach poli­tisch und kon­fes­sio­nell unab­hän­gi­ge Non-Pro­fit-Orga­ni­sa­ti­on für jun­ge Füh­rungs­kräf­te, mit Unter­stüt­zung von Swiss­trans­plant, der natio­na­len Stif­tung für Organ­spen­de und Trans­plan­ta­ti­on, eine Volks­in­itia­ti­ve, die einen Sys­tem­wech­sel bei der Organ­spen­de for­dert. Um die im euro­päi­schen Ver­gleich tie­fe und zu dem Zeit­punkt gar eher rück­läu­fi­ge Organ­spen­de­ra­te zu erhö­hen, soll die Schweiz die bis­he­ri­ge erwei­ter­te Zustim­mungs­lö­sung – also die Organ­ent­nah­me nur nach expli­zi­ter Zustim­mung der Spen­den­den oder, sofern deren Wil­le unbe­kannt ist, nach Zustim­mung der nächs­ten Ange­hö­ri­gen – durch die Wider­spruchs­lö­sung erset­zen. Gemäss letz­te­rer ist die Organ­ent­nah­me am Lebens­en­de ledig­lich unzu­läs­sig, wenn sich jemand zu Leb­zei­ten expli­zit dage­gen aus­ge­spro­chen hat.

Nach dem Zustan­de­kom­men der Initia­ti­ve begrüsst der Bun­des­rat deren Stoss­rich­tung. In ande­ren Län­dern habe die Wider­spruchs­lö­sung die gewünsch­te Wir­kung von mehr ver­füg­ba­ren Orga­nen erzielt. Er befür­wor­tet jedoch wegen ethi­scher Vor­be­hal­te ledig­lich eine soge­nann­te erwei­ter­te Wider­spruchs­lö­sung, bei der die Ange­hö­ri­gen bei­gezo­gen wer­den, falls der Wil­le der ver­stor­be­nen Per­son nir­gends fest­ge­hal­ten ist. Die Regie­rung prä­sen­tiert einen ent­spre­chen­den indi­rek­ten Gegen­vor­schlag. Nach­dem der Natio­nal- und Stän­de­rat ledig­lich eini­ge Prä­zi­sie­run­gen und redak­tio­nel­le Ände­run­gen am Ent­wurf vor­ge­nom­men haben, ver­ab­schie­den sie die­sen mit gross­mehr­heit­li­cher Zustim­mung. Nein-Stim­men gibt es von der Mehr­heit der SVP-Frak­ti­on und einer Min­der­heit der Mit­te-EVP-Frak­ti­on. Das Initia­tiv­ko­mi­tee zieht sein Anlie­gen dar­auf­hin bedingt zurück. Auch wenn dies im Wort­laut der Volks­in­itia­ti­ve nicht expli­zit fest­ge­hal­ten wor­den sei, sei auch das Komi­tee der Ansicht, dass die Ange­hö­ri­gen im benann­ten Fall ein Mit­spra­che­recht haben sollen.

Im Anschluss ergreift ein Komi­tee, ange­führt von einer Heb­am­me und einem pen­sio­nier­ten Arzt und unter­stützt von Philosophie‑, Rechts- und Theologieprofessor:innen sowie von bekann­ten Köp­fen ver­schie­dens­ter Par­tei­en, erfolg­reich das Refe­ren­dum gegen die beschlos­se­ne Ände­rung des Trans­plan­ta­ti­ons­ge­set­zes. Bekann­te poli­ti­sche Per­sön­lich­kei­ten im Refe­ren­dums­ko­mi­tee sind etwa die SVP-Natio­nal­rä­tin Vere­na Her­zog, der FDP-Stän­de­rat Josef Ditt­li sowie die ehe­ma­li­gen Par­la­men­ta­rie­rin­nen Vere­na Die­ner (GLP) und Gret Hal­ler (SP).

Gegenstand

Die Ände­rung des Trans­plan­ta­ti­ons­ge­set­zes, die als indi­rek­ter Gegen­vor­schlag zur Volks­in­itia­ti­ve «Organ­spen­de för­dern – Leben ret­ten» beschlos­sen wor­den ist, sieht vor, dass Orga­ne, Gewe­be und Zel­len einer ver­stor­be­nen Per­son ent­nom­men wer­den dür­fen, wenn kein zu Leb­zei­ten erfolg­ter Wider­spruch der Per­son vor­liegt. Wenn der Wil­le der ver­stor­be­nen Per­son jedoch unbe­kannt ist, kön­nen die nächs­ten Ange­hö­ri­gen einer Organ­ent­nah­me wider­spre­chen, sofern dies mut­mass­lich dem Wil­len der ver­stor­be­nen Per­son ent­spricht. Kön­nen kei­ne nächs­ten Ange­hö­ri­gen erreicht wer­den, ist eine Organ­ent­nah­me unzulässig.

Abstimmungskampf

Der Abstim­mungs­kampf wird wei­test­ge­hend ohne Par­tei­en geführt. Die Fra­ge, wie man zur Organ­spen­de ste­he, las­se sich nicht auf dem Links-Rechts-Spek­trum ein­ord­nen, son­dern sei eine rein per­sön­li­che und ethi­sche Fra­ge, lässt sich die eine Trä­ge­rin des Refe­ren­dums, die Heb­am­me und Co-Prä­si­den­tin der SP Biel Susan­ne Clauss, in den Medi­en zitie­ren. Von den Par­tei­en fas­sen die EDU, die EVP und die SVP schliess­lich die Nein-Paro­le, wobei ein­zel­ne SVP-Kan­to­nal­sek­tio­nen und die Jun­ge EVP Schweiz abwei­chen­de Emp­feh­lun­gen abge­ben. Als Haupt­ar­gu­ment gegen die Wider­spruchs­lö­sung füh­ren die Gegner:innen ins Feld, dass es immer Leu­te geben wer­de, die nicht wis­sen, dass ihnen auch ohne ihre expli­zi­te Zustim­mung Orga­ne ent­nom­men wer­den kön­nen. Dies ver­let­ze deren Recht auf Selbst­be­stim­mung und kör­per­li­che Unver­sehrt­heit und sei unethisch. Zudem wür­den dadurch bei Nicht­vor­lie­gen des Wil­lens der ver­stor­be­nen Per­son die Ange­hö­ri­gen unter Druck gesetzt, da deren Ableh­nung als unso­li­da­ri­sches Ver­hal­ten auf­ge­fasst wer­den könnte.

Die Befürworter:innen der Revi­si­on zei­gen sich indes über­zeugt, dass die Ange­hö­ri­gen mit der neu­en Rege­lung gar eher ent­las­tet wür­den: Da davon aus­ge­gan­gen wer­den kön­ne, dass das ver­stor­be­ne Fami­li­en­mit­glied im Grun­de zur Organ­spen­de bereit sei, brin­ge die­se Lösung mehr Klar­heit. Zudem sol­le die Bevöl­ke­rung umfas­send und regel­mäs­sig über die neue Rege­lung infor­miert wer­den, um sicher­zu­stel­len, dass nie­mand wider Wil­len Orga­ne spen­det, ver­si­chert Gesund­heits­mi­nis­ter Alain Ber­set. Mit der neu­en Rege­lung erhof­fen sich die Befürworter:innen in ers­ter Linie eine Erhö­hung der Organ­spen­de­ra­te und somit eine Ver­kür­zung der War­te­frist: Jähr­lich erhiel­ten in der Schweiz nur etwa 450 Per­so­nen eine Organ­spen­de, Ende 2021 hät­ten jedoch ins­ge­samt 1434 Men­schen auf ein Organ gewar­tet. In den west­eu­ro­päi­schen Län­dern mit Wider­spruchs­lö­sung sei die Spen­de­ra­te ten­den­zi­ell höher als in der Schweiz. Umfra­gen zufol­ge sei das Organ­spen­de­po­ten­ti­al in der Schweiz noch nicht aus­ge­schöpft. Zur Umset­zung der Vor­la­ge wer­de der Bund ein neu­es Regis­ter schaf­fen, wo jede Per­son ihren Wil­len zur Organ­spen­de fest­hal­ten und lau­fend aktua­li­sie­ren kann. Die SP, die Grü­nen, die GLP, die Mit­te und die FDP fas­sen die Ja-Paro­le. Bei SP, Grü­nen und Mit­te beschlies­sen ver­ein­zel­te Kan­to­nal­sek­tio­nen indes­sen Stimm­ent­hal­tung oder eine Nein-Parole.

Abbildung 1. Abstimmung über die Änderung des Transplantationsgesetzes: Stimmempfehlungen und Ergebnisse

Quelle: Swissvotes
Parteiparolen: Kumulierte Wähleranteile aller Parteien mit Ja-Parole, aller Parteien mit Nein-Parole sowie aller Parteien mit neutraler oder unbekannter Parole.

In den Medi­en wird unter­durch­schnitt­lich viel über die Ände­rung des Trans­plan­ta­ti­ons­ge­set­zes berich­tet. Gemäss fög (2022) fällt die Medi­en­be­richt­erstat­tung für eine Behör­den­vor­la­ge auch erstaun­lich ambi­va­lent und weni­ger posi­tiv als üblich aus. Inse­ra­te für oder gegen die neue Organ­spen­de-Rege­lung fin­den sich in den Print­me­di­en kaum (Heidelberger/Bühlmann 2022).

Ergebnis

Bei einer tie­fen Stimm­be­tei­li­gung von 40,3 Pro­zent spricht sich die Stimm­be­völ­ke­rung am 15. Mai 2022 mit 60,2 Pro­zent Ja-Stim­men für die Wider­spruchs­lö­sung aus. Weit­aus die höchs­ten Ja-Antei­le fin­den sich in den West­schwei­zer Kan­to­nen (durch­schnitt­lich 76%) gefolgt vom Tes­sin (66%) – der Sprach­gra­ben zeigt sich bei die­ser Vor­la­ge deut­lich (Durch­schnitt Deutsch­schwei­zer Kan­to­ne: 53%), wenn auch fast über­all die Ja-Stim­men über­wie­gen. Ledig­lich die Stim­men­den in den bei­den Appen­zell, Schaff­hau­sen und Schwyz leh­nen die Ände­rung knapp ab.

Abbildung 2. Abstimmung vom 15.05.2022 über die Änderung des Transplantationsgesetzes, Abstimmungsergebnis nach Bezirken

Quelle: Bundesamt für Statistik

Gemäss der VOX-Nach­be­fra­gung (gfs.bern 2022) stuf­ten die Befrag­ten die Ände­rung des Trans­plan­ta­ti­ons­ge­set­zes als die wich­tigs­te der drei Vor­la­gen des Abstim­mungs­tags ein (nebst Film­ge­setz und Fron­tex­vor­la­ge). Gleich­zei­tig schien es ihnen im Ver­gleich zu den ande­ren bei­den Vor­la­gen beson­ders leicht zu fal­len, sich eine Mei­nung zu bil­den. Dabei spra­chen sich ledig­lich Sym­pa­thi­sie­ren­de der SVP, Per­so­nen, die sich am rech­ten Rand der poli­ti­schen Ska­la befin­den, sowie Per­so­nen mit hohem Ver­trau­en in Frei­kir­chen mehr­heit­lich gegen den Sys­tem­wech­sel aus. Das Recht auf einen unver­sehr­ten Kör­per sei zen­tral und der Staat sol­le sich nicht in die Organ­spen­de ein­mi­schen, lau­te­ten die zen­tra­len Argu­men­te für ein Nein. Die Befür­wor­ten­den waren umge­kehrt über­zeugt, dass es in der Schweiz momen­tan zu wenig Organ­spen­den gebe und sich mit die­ser staat­lich geför­der­ten Rege­lung Leben ret­ten las­sen. Zudem ent­las­te sie Ange­hö­ri­ge, da die­se nicht mehr stell­ver­tre­tend für die ver­stor­be­ne Per­son ent­schei­den müss­ten. Links ste­hen­de Per­so­nen befür­wor­te­ten die Rege­lung beson­ders deut­lich. Eben­falls aus­schlag­ge­bend für ein Ja war, wie stark jemand der Schul­me­di­zin, dem Spi­tal­per­so­nal, der Wis­sen­schaft und dem Bun­des­amt für Gesund­heit vertraut.


Hin­weis: Die­ser Bei­trag wur­de für die Abstim­mungs­da­ten­bank Swiss­vo­tes erstellt. Das Ori­gi­nal kann eben­so wie zahl­rei­che wei­ter­füh­ren­de Infor­ma­tio­nen rund um die Abstim­mungs­vor­la­ge unter https://swissvotes.ch/vote/656 her­un­ter­ge­la­den werden.

Emp­foh­le­ne Zitier­wei­se: Ger­ber, Mar­lè­ne (2023): Der Sys­tem­wech­sel bei der Organ­spen­de wird beschlos­sen. Swiss­vo­tes – die Daten­bank der eid­ge­nös­si­schen Volks­ab­stim­mun­gen. Online: www.swissvotes.ch. Abge­ru­fen am [Datum].

Refe­ren­zen:

  • fög (2022). Abstim­mungs­mo­ni­tor zu den Vor­la­gen vom 15. Mai 2022, Schluss­be­richt vom 13. Mai 2022. Zürich: For­schungs­zen­trum Öffent­lich­keit und Gesell­schaft der Uni­ver­si­tät Zürich.
  • gfs.bern (2022). VOX-Ana­ly­se Mai 2022. Nach­be­fra­gung und Ana­ly­se zur eid­ge­nös­si­schen Volks­ab­stim­mung vom 15. Mai 2022. Bern: gfs.bern.
  • Hei­del­ber­ger, Anja, und Marc Bühl­mann (2022). APS-Zei­tungs- und Inse­ra­te­ana­ly­se zu den Abstim­mun­gen vom 15. Mai 2022. Zwi­schen­stand vom 5.5.2022. Bern: Année Poli­tique Suis­se, Insti­tut für Poli­tik­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Bern.
  • Schneuw­ly, Joël­le, und Mar­lè­ne Ger­ber (2023). Aus­ge­wähl­te Bei­trä­ge zur Schwei­zer Poli­tik: «Organ­spen­de-Initia­ti­ve und indi­rek­ter Gegen­vor­schlag (BRG 20.090)», 2017–2022. Bern: Année Poli­tique Suis­se, Insti­tut für Poli­tik­wis­sen­schaft, Uni­ver­si­tät Bern. www.anneepolitique.swiss, abge­ru­fen am 28.07.2023.
  • Erläu­te­run­gen des Bun­des­ra­tes zur Abstim­mung vom 15.5.2022 (Abstim­mungs­büch­lein). Her­aus­ge­ge­ben von der Bundeskanzlei.
  • Amt­li­che Bul­le­tins des Natio­nal- und des Stän­de­rats (Geschäft 20.090).
  • Bun­des­blatt: BBl 2020 9547. BBl 2021 2328. BBl 2022 639. BBl 2022 2010.

Bild: unsplash.com

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