Der Systemwechsel bei der Organspende wird beschlossen
Marlène Gerber
4th August 2023
Kurzbeschreibung zur Abstimmung vom 15. Mai 2022 über die Änderung des Transplantationsgesetzes.
Vorgeschichte
2017 lanciert die «Jeune Chambre Internationale de la Riviera», eine ihren Angaben nach politisch und konfessionell unabhängige Non-Profit-Organisation für junge Führungskräfte, mit Unterstützung von Swisstransplant, der nationalen Stiftung für Organspende und Transplantation, eine Volksinitiative, die einen Systemwechsel bei der Organspende fordert. Um die im europäischen Vergleich tiefe und zu dem Zeitpunkt gar eher rückläufige Organspenderate zu erhöhen, soll die Schweiz die bisherige erweiterte Zustimmungslösung – also die Organentnahme nur nach expliziter Zustimmung der Spendenden oder, sofern deren Wille unbekannt ist, nach Zustimmung der nächsten Angehörigen – durch die Widerspruchslösung ersetzen. Gemäss letzterer ist die Organentnahme am Lebensende lediglich unzulässig, wenn sich jemand zu Lebzeiten explizit dagegen ausgesprochen hat.
Nach dem Zustandekommen der Initiative begrüsst der Bundesrat deren Stossrichtung. In anderen Ländern habe die Widerspruchslösung die gewünschte Wirkung von mehr verfügbaren Organen erzielt. Er befürwortet jedoch wegen ethischer Vorbehalte lediglich eine sogenannte erweiterte Widerspruchslösung, bei der die Angehörigen beigezogen werden, falls der Wille der verstorbenen Person nirgends festgehalten ist. Die Regierung präsentiert einen entsprechenden indirekten Gegenvorschlag. Nachdem der National- und Ständerat lediglich einige Präzisierungen und redaktionelle Änderungen am Entwurf vorgenommen haben, verabschieden sie diesen mit grossmehrheitlicher Zustimmung. Nein-Stimmen gibt es von der Mehrheit der SVP-Fraktion und einer Minderheit der Mitte-EVP-Fraktion. Das Initiativkomitee zieht sein Anliegen daraufhin bedingt zurück. Auch wenn dies im Wortlaut der Volksinitiative nicht explizit festgehalten worden sei, sei auch das Komitee der Ansicht, dass die Angehörigen im benannten Fall ein Mitspracherecht haben sollen.
Im Anschluss ergreift ein Komitee, angeführt von einer Hebamme und einem pensionierten Arzt und unterstützt von Philosophie-, Rechts- und Theologieprofessor:innen sowie von bekannten Köpfen verschiedenster Parteien, erfolgreich das Referendum gegen die beschlossene Änderung des Transplantationsgesetzes. Bekannte politische Persönlichkeiten im Referendumskomitee sind etwa die SVP-Nationalrätin Verena Herzog, der FDP-Ständerat Josef Dittli sowie die ehemaligen Parlamentarierinnen Verena Diener (GLP) und Gret Haller (SP).
Gegenstand
Die Änderung des Transplantationsgesetzes, die als indirekter Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten» beschlossen worden ist, sieht vor, dass Organe, Gewebe und Zellen einer verstorbenen Person entnommen werden dürfen, wenn kein zu Lebzeiten erfolgter Widerspruch der Person vorliegt. Wenn der Wille der verstorbenen Person jedoch unbekannt ist, können die nächsten Angehörigen einer Organentnahme widersprechen, sofern dies mutmasslich dem Willen der verstorbenen Person entspricht. Können keine nächsten Angehörigen erreicht werden, ist eine Organentnahme unzulässig.
Abstimmungskampf
Der Abstimmungskampf wird weitestgehend ohne Parteien geführt. Die Frage, wie man zur Organspende stehe, lasse sich nicht auf dem Links-Rechts-Spektrum einordnen, sondern sei eine rein persönliche und ethische Frage, lässt sich die eine Trägerin des Referendums, die Hebamme und Co-Präsidentin der SP Biel Susanne Clauss, in den Medien zitieren. Von den Parteien fassen die EDU, die EVP und die SVP schliesslich die Nein-Parole, wobei einzelne SVP-Kantonalsektionen und die Junge EVP Schweiz abweichende Empfehlungen abgeben. Als Hauptargument gegen die Widerspruchslösung führen die Gegner:innen ins Feld, dass es immer Leute geben werde, die nicht wissen, dass ihnen auch ohne ihre explizite Zustimmung Organe entnommen werden können. Dies verletze deren Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit und sei unethisch. Zudem würden dadurch bei Nichtvorliegen des Willens der verstorbenen Person die Angehörigen unter Druck gesetzt, da deren Ablehnung als unsolidarisches Verhalten aufgefasst werden könnte.
Die Befürworter:innen der Revision zeigen sich indes überzeugt, dass die Angehörigen mit der neuen Regelung gar eher entlastet würden: Da davon ausgegangen werden könne, dass das verstorbene Familienmitglied im Grunde zur Organspende bereit sei, bringe diese Lösung mehr Klarheit. Zudem solle die Bevölkerung umfassend und regelmässig über die neue Regelung informiert werden, um sicherzustellen, dass niemand wider Willen Organe spendet, versichert Gesundheitsminister Alain Berset. Mit der neuen Regelung erhoffen sich die Befürworter:innen in erster Linie eine Erhöhung der Organspenderate und somit eine Verkürzung der Wartefrist: Jährlich erhielten in der Schweiz nur etwa 450 Personen eine Organspende, Ende 2021 hätten jedoch insgesamt 1434 Menschen auf ein Organ gewartet. In den westeuropäischen Ländern mit Widerspruchslösung sei die Spenderate tendenziell höher als in der Schweiz. Umfragen zufolge sei das Organspendepotential in der Schweiz noch nicht ausgeschöpft. Zur Umsetzung der Vorlage werde der Bund ein neues Register schaffen, wo jede Person ihren Willen zur Organspende festhalten und laufend aktualisieren kann. Die SP, die Grünen, die GLP, die Mitte und die FDP fassen die Ja-Parole. Bei SP, Grünen und Mitte beschliessen vereinzelte Kantonalsektionen indessen Stimmenthaltung oder eine Nein-Parole.
Abbildung 1. Abstimmung über die Änderung des Transplantationsgesetzes: Stimmempfehlungen und Ergebnisse
Quelle: Swissvotes
Parteiparolen: Kumulierte Wähleranteile aller Parteien mit Ja-Parole, aller Parteien mit Nein-Parole sowie aller Parteien mit neutraler oder unbekannter Parole.
In den Medien wird unterdurchschnittlich viel über die Änderung des Transplantationsgesetzes berichtet. Gemäss fög (2022) fällt die Medienberichterstattung für eine Behördenvorlage auch erstaunlich ambivalent und weniger positiv als üblich aus. Inserate für oder gegen die neue Organspende-Regelung finden sich in den Printmedien kaum (Heidelberger/Bühlmann 2022).
Ergebnis
Bei einer tiefen Stimmbeteiligung von 40,3 Prozent spricht sich die Stimmbevölkerung am 15. Mai 2022 mit 60,2 Prozent Ja-Stimmen für die Widerspruchslösung aus. Weitaus die höchsten Ja-Anteile finden sich in den Westschweizer Kantonen (durchschnittlich 76%) gefolgt vom Tessin (66%) – der Sprachgraben zeigt sich bei dieser Vorlage deutlich (Durchschnitt Deutschschweizer Kantone: 53%), wenn auch fast überall die Ja-Stimmen überwiegen. Lediglich die Stimmenden in den beiden Appenzell, Schaffhausen und Schwyz lehnen die Änderung knapp ab.
Abbildung 2. Abstimmung vom 15.05.2022 über die Änderung des Transplantationsgesetzes, Abstimmungsergebnis nach Bezirken
Quelle: Bundesamt für Statistik
Gemäss der VOX-Nachbefragung (gfs.bern 2022) stuften die Befragten die Änderung des Transplantationsgesetzes als die wichtigste der drei Vorlagen des Abstimmungstags ein (nebst Filmgesetz und Frontexvorlage). Gleichzeitig schien es ihnen im Vergleich zu den anderen beiden Vorlagen besonders leicht zu fallen, sich eine Meinung zu bilden. Dabei sprachen sich lediglich Sympathisierende der SVP, Personen, die sich am rechten Rand der politischen Skala befinden, sowie Personen mit hohem Vertrauen in Freikirchen mehrheitlich gegen den Systemwechsel aus. Das Recht auf einen unversehrten Körper sei zentral und der Staat solle sich nicht in die Organspende einmischen, lauteten die zentralen Argumente für ein Nein. Die Befürwortenden waren umgekehrt überzeugt, dass es in der Schweiz momentan zu wenig Organspenden gebe und sich mit dieser staatlich geförderten Regelung Leben retten lassen. Zudem entlaste sie Angehörige, da diese nicht mehr stellvertretend für die verstorbene Person entscheiden müssten. Links stehende Personen befürworteten die Regelung besonders deutlich. Ebenfalls ausschlaggebend für ein Ja war, wie stark jemand der Schulmedizin, dem Spitalpersonal, der Wissenschaft und dem Bundesamt für Gesundheit vertraut.
Hinweis: Dieser Beitrag wurde für die Abstimmungsdatenbank Swissvotes erstellt. Das Original kann ebenso wie zahlreiche weiterführende Informationen rund um die Abstimmungsvorlage unter https://swissvotes.ch/vote/656 heruntergeladen werden.
Empfohlene Zitierweise: Gerber, Marlène (2023): Der Systemwechsel bei der Organspende wird beschlossen. Swissvotes – die Datenbank der eidgenössischen Volksabstimmungen. Online: www.swissvotes.ch. Abgerufen am [Datum].
Referenzen:
- fög (2022). Abstimmungsmonitor zu den Vorlagen vom 15. Mai 2022, Schlussbericht vom 13. Mai 2022. Zürich: Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich.
- gfs.bern (2022). VOX-Analyse Mai 2022. Nachbefragung und Analyse zur eidgenössischen Volksabstimmung vom 15. Mai 2022. Bern: gfs.bern.
- Heidelberger, Anja, und Marc Bühlmann (2022). APS-Zeitungs- und Inserateanalyse zu den Abstimmungen vom 15. Mai 2022. Zwischenstand vom 5.5.2022. Bern: Année Politique Suisse, Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern.
- Schneuwly, Joëlle, und Marlène Gerber (2023). Ausgewählte Beiträge zur Schweizer Politik: «Organspende-Initiative und indirekter Gegenvorschlag (BRG 20.090)», 2017–2022. Bern: Année Politique Suisse, Institut für Politikwissenschaft, Universität Bern. www.anneepolitique.swiss, abgerufen am 28.07.2023.
- Erläuterungen des Bundesrates zur Abstimmung vom 15.5.2022 (Abstimmungsbüchlein). Herausgegeben von der Bundeskanzlei.
- Amtliche Bulletins des National- und des Ständerats (Geschäft 20.090).
- Bundesblatt: BBl 2020 9547. BBl 2021 2328. BBl 2022 639. BBl 2022 2010.
Bild: unsplash.com