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Auch Netflix und Co. müssen den unabhängigen Schweizer Film unterstützen

Sarah Kuhn
26th May 2023

Kurzbeschreibung zur Abstimmung vom 15. Mai 2022 über das Filmgesetz.

Vorgeschichte

Im Rahmen der Kulturbotschaft 2021–2024 präsentiert der Bundesrat 2020 eine Revision des Filmgesetzes. Zur Förderung des unabhängigen Schweizer Filmschaffens will der Bundesrat für Anbietende von Online-Streamingdiensten eine Investitionspflicht sowie eine Mindestquote für europäische Produktionen einführen. Im Fehlen einer solchen Investitionspflicht und Mindestquote sieht der Bundesrat zum einen ungleiche Spiesse zwischen den Anbietenden, denn anders als für Onlinedienste gelten für nationale Fernsehsender solche Vorgaben bereits. Zum andern fehlten der Schweizer Filmbranche ohne solche Vorgaben Mittel, weil sich der Filmkonsum der Bevölkerung im Zug der Digitalisierung zunehmend auf Online-Angebote verlagert hat. In Anlehnung an den grössten solchen Streamingdienst etabliert sich für die Vorlage in den Medien alsbald die Bezeichnung «Lex Netflix».

Da diese Vorlage die umstrittenste in der Kulturbotschaft ist, entscheidet der Ständerat das Geschäft abzukoppeln und in einem ordentlichen Verfahren zu behandeln. Umstritten sind im Parlament insbesondere die Höhe der Investitionspflicht, wer von dieser ausgenommen werden soll und ob und bis zu welchem Betrag die Investitionsabgaben mit Gratis-Werbeleistungen für den Schweizer Film kompensiert werden können.

Der Nationalrat heisst die Vorlage in der Schlussabstimmung mit 124 zu 67 Stimmen bei drei Enthaltungen gut, der Ständerat mit 32 zu 8 Stimmen bei 4 Enthaltungen. Für die Gesetzesrevision stimmen die geschlossenen Fraktionen der SP, Grünen und GLP sowie Mehrheiten aus den Fraktionen der FDP.Liberalen und der Mitte. Die SVP-Fraktion stimmt geschlossen dagegen.

Ein Bündnis der Jungen SVP, der Jungfreisinnigen und der Jungen GLP ergreift das Referendum, welches im Frühling 2022 mit 51’872 gültigen Unterschriften zustande kommt. Kritisiert werden hauptsächlich die Investitionspflicht und die Mindestquote an europäischen Filmen. Gemäss den Jungparteien entstehen für Konsument:innen dadurch höhere Abonnementspreise für Filme, die sie gar nicht sehen möchten.

Gegenstand

Die Revision des Filmgesetzes verpflichtet Streamingdienste dazu, mindestens 4 Prozent ihres in der Schweiz erzielten Umsatzes in unabhängige Schweizer Filme zu investieren. Die Investitionspflicht für Schweizer TV-Anbietende in gleicher Höhe bleibt erhalten. Der Bund schätzt die Mehreinnahmen aufgrund der erweiterten Investitionspflicht auf CHF 18 Mio. Weiter muss das Angebot von Streamingdiensten neu zu mindestens 30 Prozent aus europäischen Filmen und Serien bestehen. Für Fernsehsender liegt diese Quote weiterhin bei 50 Prozent. Werbeleistungen können bis zu einem Betrag von 500 000 CHF an die Abgabe angerechnet werden.

Abstimmungskampf

Die bürgerlichen Jungparteien werden im Abstimmungskampf von FDP, SVP, EDU und SD unterstützt. Die Parolen der Parteien widerspiegeln somit grösstenteils die Haltungen im Parlament. Nur die FDP, welche in den Räten noch mehrheitlich für die Vorlage gestimmt hat, wechselt ins Nein-Lager; einige kantonale FDP-Sektionen aus der französischen und der italienischen Schweiz bleiben aber bei einem Ja. Ebenfalls ein Nein empfehlen insbesondere die Wirtschaftsverbände und Vertreter:innen der TV-Branche wie etwa die Verbände der Regionalfernsehen und der Schweizer Privatfernsehen. Für ein Ja werben linke und Mitte-Parteien, mit abweichenden kantonalen Sektionen bei der GLP (deren Jungpartei zu den Referendumsführenden gehört) und der Mitte. Unterstützung erhalten sie von den Gewerkschaften und diversen Organisationen von Film- und Kulturschaffenden.

Abbildung 1. Änderung des Filmgesetzes: Stimmempfehlungen und Ergebnisse

Quelle: Swissvotes

Im Abstimmungskampf stellen die Gegner:innen drei Hauptargumente ins Zentrum: Die Investitionspflicht sei eine «Zwangssteuer», welche zu einer Erhöhung der Abopreise für die Konsument:innen führen könnte. Die 30-Prozent-Quote an europäischem Filmmaterial wird als «eurozentrisch» und «bevormundend» kritisiert. Zuletzt wird bemängelt, dass Schweizer TV-Sender mit dieser Gesetzesänderung schlechter gestellt werden, da sie die Abgabe nun nicht mehr wie bis anhin vollumfänglich in Form von Gratiswerbung für den Schweizer Film leisten können.

Gemäss den Befürworter:innen bringt die Vorlage hingegen eine längst nötige Förderung des Schweizer Filmschaffens, die insbesondere wirtschaftlich positive Folgen für die Schweiz haben werde. So erwarten sie eine verstärkte inländische Filmproduktion und als Folge die Schaffung neuer Arbeitsstellen und Aufträge an die lokale Wirtschaft. Die Mindestquote führe zu einer Diversifizierung des Angebotes und helfe dabei den Schweizer Film bekannter zu machen. Zudem gelte es für Streaminganbietende gleiche Bedingungen wie für Schweizer Fernsehsender zu schaffen.

Für Aufsehen sorgt Mitte April ein Fehler im bereits verschickten Abstimmungsbüchlein. In einer Grafik, die aufzeigen soll, wo in Europa überall vergleichbare Investitionspflichten existieren, wurden auch Länder aufgenommen, auf die das nicht zutrifft. Die Bundeskanzlei korrigiert die Grafiken auf ihrer Website, das Referendumskomitee zieht den Streit aber vor Bundesgericht. Dieses entscheidet erst nach erfolgter Abstimmung: Das Abstimmungsergebnis bleibt gültig, weil der Inhalt des Abstimmungsbüchleins wegen einer gesetzlichen Lücke gar nicht gerichtlich anfechtbar sei; was aber die allgemeine Informationslage der Stimmberechtigten betreffe, so sei der Fehler gerade dank der Kritik durch das Referendumskomitee noch rechtzeitig bekannt und öffentlich richtig-gestellt worden.

Ergebnis

Der Ausgang der Volksabstimmung ist mit einem Anteil von 58.4% Ja-Stimmen relativ deutlich. Die Zustimmung ist insbesondere in der Westschweiz stark ausgeprägt (Waadt, Genf und Neuenburg mit über 70% Zustimmung). Nein-Mehrheiten gibt es nur in Teilen der ländlichen Deutschschweiz, am deutlichsten in Schaffhausen und Schwyz (58% Nein). Die Stimmbeteiligung beträgt 40%.

Abbildung 2. Abstimmung vom 15.05.2022 über das Filmgesetz, Abstimmungsergebnis nach Bezirken

Quelle: Bundesamt für Statistik

Die VOX-Nachbefragung (gfs.bern 2022) zeigt auf, dass die Befragten die persönliche Bedeutung der Lex Netflix für sich als aussergewöhnlich gering einschätzten, was – nebst dem Fehlen anderer zugkräftiger Vorlagen am selben Tag – die tiefe Beteiligungsrate erklären könnte. In den meisten Bevölkerungsgruppen stiess die Vorlage mehrheitlich auf Zustimmung, nicht aber bei Menschen, die sich im politischen Spektrum rechts einordnen oder SVP wählen. Als Hauptargument gegen die Vorlage wurde genannt, dass der Filmsektor bereits genug subventioniert werde. Ausschlaggebend für das Ja waren die erhofften wirtschaftlichen Vorteile und die Ansicht, dass die zusätzliche Finanzierung für die Filmförderung in der Schweiz wichtig sei.


Hinweis: Dieser Beitrag wurde für die Abstimmungsdatenbank Swissvotes erstellt. Das Original kann ebenso wie zahlreiche weiterführende Informationen rund um die Abstimmungsvorlage unter https://swissvotes.ch/vote/655 heruntergeladen werden.

Empfohlene Zitierweise: Kuhn, Sarah (2023): Auch Netflix und Co. müssen den unabhängigen Schweizer Film unterstützen. Swissvotes – die Datenbank der eidgenössischen Volksabstimmungen. Online: www.swissvotes.ch. Abgerufen am [Datum].

Referenzen:

  • Gerber, Marlène, und Sarah Kuhn (2023). Ausgewählte Beiträge zur Schweizer Politik: Revision des Filmgesetzes (Lex Netflix; BRG 20.030), 2020–2022. Bern: Année Politique Suisse, Institut für Politikwissenschaft, Universität Bern. www.anneepolitique.swiss, abgerufen am 28.2.2023.

  • Gökce, Melike (2023). Ausgewählte Beiträge zur Schweizer Politik: Kulturbotschaft 2021–2024 (BRG 20.030), 2020. Bern: Année Politique Suisse, Institut für Politikwissenschaft, Universität Bern. www.anneepolitique.swiss, abgerufen am 28.2.2023.

  • gfs.bern (2022). VOX-Analyse Mai 2022. Nachbefragung und Analyse zur eidgenössischen Volksabstimmung vom 15. Mai 2022. Bern: gfs.bern.

  • Heidelberger, Anja, und Marc Bühlmann (2022). APS-Zeitungs- und Inserateanalyse zu den Abstimmungen vom 15.5.2022. Bern: Année Politique Suisse, Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern.

  • Pressebeiträge: Tages-Anzeiger vom 24.1.2022, vom 13.4.2022 und vom 28.4.2022; St.Galler Tagblatt vom 30.3.2022; Aargauer Zeitung vom 23.4.2022; Neue Zürcher Zeitung vom 16.8.2022.

  • Erläuterungen des Bundesrates zur Abstimmung vom 15.5.2022 (Abstimmungsbüchlein). Herausgegeben von der Bundeskanzlei.

  • Amtliche Bulletins des National- und des Ständerats (Geschäft 20.030).

  • Bundesblatt: BBl 2020 3131. BBl 2021 2326. BBl 2022 640. BBI 2022 2010.

  • Bundesgerichtsurteil BGE 1C_225/2022.

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