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Uneinigkeit in Partei und Koalition wegen moralischen Fragen: Parlamentarische Debatten zur Gleichstellung der Ehe im Deutschen Bundestag

Dana Siobhan Atzpodien
18th April 2023

Die Studie zeigt, welche Faktoren die argumentativen Strategien von Parteien in moralpolitischen Debatten beeinflussen: Es ist Uneinigkeit – innerhalb einer Partei und in der Koalition! Intern gespaltene Parteien und ihre Koalitionsparteien wenden in moralpolitischen Debatten diskursive Vermeidungsstrategien an, wenn sie die für sie unvorteilhaften Themen nicht durch Themenbetonung von der parlamentarischen Agenda entfernen können: Sie und ihre Koalitionsparteien framen die polarisierenden Themen neu, verwischen so ihre Positionen und verschleiern Uneinigkeit in ihrer Partei oder Koalition. Damit vermeiden Sie einen öffentlich sichtbaren Konflikt, der die Partei oder Koalition in Zukunft oder bei Diskussionen anderer Themen schwächen würde. Die Ergebnisse ergänzen sowohl die politikwissenschaftliche Literatur über Argumentationsstrategien parlamentarischen Parteien in der „Wedge Issue Competition“ sowie die des Analyserahmens der „Zwei Welten der Moralpolitik“.

Moralpolitischer Parteienwettbewerb

Moralpolitische Themen wie Euthanasie, Abtreibung und die Ehe für alle haben im 21. Jahrhundert als Folge gesellschaftlichen Wandels in der westlichen Welt zunehmend an Bedeutung gewonnen. In diesen moralpolitischen Diskursen spielen politische Parteien eine entscheidende Rolle. Zur Analyse ihres Verhaltens in Parlamenten ist dabei nicht nur das Abstimmungsverhalten der Parteien wichtig, sondern auch ihre Argumentationen in den Parlamentsdebatten. In ihnen rechtfertigen die Parteien ihre ideologischen Positionen und ihr Handeln vor ihrer Wählerschaft und der Öffentlichkeit. Jedoch ist es bisher wenig erforscht, wie Parteien in parlamentarischen Reden argumentieren, um mit in moralpolitischen Debatten oft auftretenden partei- und koalitionsinternen Streitigkeiten umzugehen.

Ich stelle die Frage danach, welche Faktoren die argumentativen Strategien von Parteien in moralpolitischen Debatten beeinflussen und argumentiere, dass die interne Spaltung der (Koalitions-)Parteien einen Einfluss ausübt. Theoretisch folgt meine Analyse dabei der Idee der „Zwei Welten der Moralpolitik“. Demnach können Länder in zwei „Welten“ eingeordnet werden: in die säkulare und die religiöse Welt. Die Einteilung hängt davon ab, ob eine religiös-säkulare Spaltung in der Gesellschaft zur Etablierung einer religiösen Partei im Parteiensystem geführt hat. Deutschland gehört mit den beiden christdemokratischen Parteien CDU und CSU zur religiösen Welt, in der der moralpolitische Parteienwettbewerb der Logik der „Wedge Issue Competition“ folgt. Das bedeutet, dass (Oppositions-)Parteien moralpolitische spaltende „Wedge Issues“ politisieren und ausnutzen, um (Regierungs-)Parteien oder Koalitionen zu schwächen.  

Wenn ein moralpolitisches Thema durch öffentlichen Druck oder die Politisierung von Parteien auf der Agenda steht, können intern nicht gespaltene Parteien in moralpolitischen Diskursen einheitlich argumentieren. Intern gespaltene Parteien hingegen wenden diskursive Vermeidungsstrategien an, um konsistent zu argumentieren. Auch Parteien, die intern nicht gespalten, aber Koalitionspartner einer intern gespaltenen Partei sind, nutzen diskursive Vermeidungsstrategien, um mit ihrer Koalitionspartei konsistent argumentieren zu können.

Der Deutsche Bundestag und die Gleichstellung der Ehe

Um dies empirisch zu überprüfen, habe ich die Argumentationen der deutschen Parteien in den Parlamentsdebatten zum Lebenspartnerschaftsgesetz von 2000 und zur Ehe für Alle in den Jahren 2016 und 2017 analysiert. Der deutsche Fall ist interessant, da die religiöse CDU diese moralpolitische Entscheidung 2017 überraschend mit einer Gewissensabstimmung im Bundestag ermöglichte und damit kurz vor der Bundestagswahl von der Agenda nahm. In den Jahren davor stand die intern gespaltene CDU vor der Herausforderung, ihre christdemokratischen Wurzeln mit ihrem neueren säkularen, wirtschaftsorientierten Profil in Einklang zu bringen und blockierte gemeinsam mit der SPD Diskussionen über Gesetze zur Gleichstellung der Ehe.

Überdies sind die Debatten aufgrund der unterschiedlichen Regierungskonstellationen von besonderem Interesse: 2000 wurde der Bundestag von einer rot-grünen Mehrheit regiert, d.h. von den Grünen und der Sozialdemokratischen Partei (SPD), die das Lebenspartnerschaftsgesetz gegen den Widerstand der Oppositionsparteien und des Bundesrats verabschiedete. Die beiden christdemokratischen Schwesterparteien (CDU/CSU), die zu den schärfsten Gegnern gleichgeschlechtlicher Partnerschaftsgesetze in Europa gehören, waren zusammen mit der PDS/Die Linke und der liberalen FDP in der Opposition. Von 2013 bis 2017 bildeten die SPD und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion trotz ihrer unterschiedlichen Positionen in gesellschafts- und moralpolitischen Themen die "Große Koalition", während Die Linke und die Grünen in der Opposition waren. Die FDP hatte den Bundestag verlassen.

Umdeutung der moralpolitischen Debatte

Die Ergebnisse der qualitativen Inhaltsanalyse zeigen, dass der Diskurs über die Ehe für alle im Deutschen Bundestag eine theoretisch zu erwartende Diskursstruktur aufweist: eine parlamentarische Prozess- sowie eine inhaltliche Dimension. Die Parteien führten in der Prozessdimension prozedurale Argumente an, während sie in der inhaltlichen Dimension verfassungsrechtliche, moralische und liberale Argumente vorbrachten.

Tabelle 1: Die Argumentationsstrategien der Parteien zur Gleichstellung der Ehe im Deutschen Bundestag 2000 und 2016/17

  Ausweichende
Argumentationsstrategie
Interagierende
Argumentationsstrategie
Parlamentarische Prozessdimension Inhaltliche Dimension
Prozedurale Argumente Verfassungsrechtliche Argumente Moralische Argumente Liberale Argumente
PDS/
Die Linke
x x   x
Bündnis 90/
Die Grünen
x x   x
SPD x x   x
FDP x x   x
CDU x x x* x*
CSU x x x  

Wenn sich Abgeordnete derselben Partei widersprechen, ist dies in der Tabelle mit einem Sternchen vermerkt.

Tabelle 1 zeigt, dass alle Parteien Argumente aus der ausweichenden Argumentationsstrategie verwendeten, da es der CDU gelang, den gesamten Diskurs verfassungsrechtlich umzuframen. So nutzen auch die intern nicht gespaltenen Parteien Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ausweichenden Argumente, jedoch um ihre liberale Argumentation zu stärken. Es war vor allem die intern gespaltene CDU und ihre Koalitionsparteien CSU und SPD, die verfassungsrechtliche und prozedurale Argumente als Vermeidungsstrategie anwandten. Dasselbe galt auch für die FDP, die sich Koalitionsmöglichkeiten mit der CDU/CSU Fraktion erhoffte. Interessant ist ausserdem, dass sich Abgeordnete der CDU in der Verwendung liberaler und moralischer Argumente widersprachen und nur durch die Verwendung verfassungsrechtlicher und prozeduraler Argumente konsistent argumentierten.

Fazit

Damit zeigt die Studie am Fall der Debatten zur Gleichstellung der Ehe im Deutschen Bundestag, dass die Argumentationsstrategien von Parteien in moralpolitischen Debatten massgeblich von der (Un-)einigkeit innerhalb der Partei selbst und der Koalition sowie der Koalitionsparteien bestimmt wird. Mithilfe von argumentativen Ausweichstrategien framen intern gespaltene Parteien und ihre Koalitionspartner moralpolitische Diskurse um, um ihre Position zu verschleiern und Polarisierung zu vermeiden.


Hinweis: Dieser Artikel ist eine schriftliche Kurzfassung des folgenden Beitrags:

  • Atzpodien, D. S. (2023). Reconciling Intra‐Party and Intra‐Coalition Dissent in Morality Politics: Parliamentary Debates on Marriage Equality in the German Bundestag. Swiss Political Science Review, zunächst online erschienen. https://doi.org/10.1111/spsr.12558

Bild: unsplash.com