Ein gefährlicher Abschied? Was der Abzug von Friedensmissionen für die internationale Sicherheit bedeutet 


Bis­he­ri­ge For­schung zeigt, dass Frie­dens­mis­sio­nen der Ver­ein­ten Natio­nen (VN) beim Auf­bau sta­bi­li­täts­för­dern­der und demo­kra­ti­scher Insti­tu­tio­nen in Kon­flikt­län­dern hel­fen kön­nen. Auch nach dem Abzug einer Frie­dens­mis­si­on blei­ben Zuge­win­ne an Sta­bi­li­tät und Demo­kra­tie­qua­li­tät bestehen. Doch der Abzug einer Frie­dens­mis­si­on birgt immer auch Risi­ken, ins­be­son­de­re wenn das mili­tä­ri­sche Per­so­nal der Frie­dens­mis­si­on das Ein­satz­land kurz vor oder nach natio­na­len Wah­len ver­lässt. Um nega­ti­ve Kon­se­quen­zen zu ver­hin­dern, braucht es eine sorg­fäl­ti­ge Über­prü­fung des loka­len Kon­tex­tes und des Ein­sat­zes zivi­ler Nach­fol­ge­mis­sio­nen. Mit dem Ein­zug in den VN Sicher­heits­rat kann die Schweiz gera­de durch ihre Exper­ti­se in die­sem Bereich einen posi­ti­ven Bei­trag zur Frie­dens­si­che­rung leisten.

Ausgangslage

Allein in den letz­ten fünf Jah­ren wur­den vier Frie­dens­mis­sio­nen der Ver­ein­ten Natio­nen been­det: in Hai­ti, Côte d’Ivoire, Libe­ria, und Sudan. Der Trend könn­te sich fort­set­zen. Die Demons­tra­tio­nen gegen die Prä­senz der Ver­ein­ten Natio­nen in der Demo­kra­ti­schen Repu­blik Kon­go und der Kon­fron­ta­ti­ons­kurs der Mili­tär­re­gie­rung in Mali machen das Ende bei­der Frie­dens­mis­sio­nen wahr­schein­li­cher. Mit dem Ein­zug in den Sicher­heits­rat der Ver­ein­ten Natio­nen Anfang 2023 kann die Schweiz über den even­tu­el­len Abzug von Frie­dens­mis­sio­nen und sei­ne Aus­ge­stal­tung mitbestimmen.

Des­halb ist wich­tig zu wis­sen, was die Fol­gen einer Been­di­gung von Frie­dens­mis­sio­nen in ehe­mals (oder immer noch) von Krieg und Gewalt geplag­ten Ein­satz­län­dern sind. Wel­che Bei­trä­ge zu Sta­bi­li­tät und Demo­kra­tie blei­ben über das Ende der Mis­sio­nen hin­aus bestehen? Kön­nen sich nach­hal­ti­ge Ver­bes­se­run­gen für das Land und des­sen Bevöl­ke­rung ein­stel­len? Oder ver­sin­ken Ein­satz­län­der nach dem Abzug von Frie­dens­mis­sio­nen im Chaos?

Positive Auswirkungen der Friedensmissionen

Forscher:innen sind sich einig: Die Frie­dens­mis­sio­nen der Ver­ein­ten Natio­nen leis­ten einen weit­rei­chen­den Bei­trag zur Frie­dens­för­de­rung in Kon­flikt­län­dern. Frie­dens­mis­sio­nen ver­min­dern Gewalt gegen Zivi­lis­ten, ermög­li­chen die Ein­hal­tung von Waf­fen­still­stands­ab­kom­men, redu­zie­ren Span­nun­gen bei Wah­len und hel­fen beim Auf­bau demo­kra­ti­scher Struk­tu­ren.

Auch bestä­ti­gen Forscher:innen den Frie­dens­mis­sio­nen ein über­wie­gend posi­ti­ves Erbe: Infor­ma­tio­nen zu den Ent­wick­lun­gen in allen Gast­län­dern von Frie­dens­mis­sio­nen der Ver­ein­ten Natio­nen von 1990 bis 2015 zei­gen, dass sich frie­dens­för­dern­de Bedin­gun­gen bis zu zehn Jah­re nach dem Abzug ste­tig ver­bes­sern. Ehe­ma­li­ge Gast­län­der sind beim Ende einer Frie­dens­mis­si­on demo­kra­ti­scher, geschlech­ter­ge­rech­ter und sta­bi­ler als vor­her und die­se Ent­wick­lun­gen set­zen sich über die Lebens­dau­er der Mis­si­on hin­aus fort. Anschei­nend kön­nen Frie­dens­mis­sio­nen Ein­stel­lun­gen in der Bevöl­ke­rung för­dern, Insti­tu­tio­nen auf­bau­en und Pfad­ab­hän­gig­kei­ten bei poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen schaf­fen, wel­che die Geschi­cke des Ein­satz­lan­des über Jah­re posi­tiv beein­flus­sen. Es gibt aller­dings erheb­li­che Unter­schie­de zwi­schen Län­dern. Zum Bei­spiel machen Hai­ti die Nach­wir­kun­gen repres­si­ver Poli­zei­tak­ti­ken der Frie­dens­mis­si­on der Ver­ein­ten Natio­nen zu schaf­fen. Auch in Mali scheint der enor­me Fokus auf die mili­tä­ri­sche Kom­po­nen­te der Frie­dens­mis­si­on posi­ti­ve Lang­zeit­ef­fek­te weni­ger wahr­schein­lich zu machen. War­um die Hin­ter­las­sen­schaf­ten so unter­schied­lich sind und wie lang­fris­tig posi­ti­ve Gewin­ne für das Ein­satz­land gestärkt wer­den kön­nen, blei­ben wich­ti­ge Fra­gen für zukünf­ti­ge län­der­ver­glei­chen­de For­schung (wie z. B. an der Uni­ver­si­tät Oxford).

Rückzug der Friedensmissionen

Neben die­sen Lang­zeit­ef­fek­ten von Frie­dens­mis­sio­nen rücken auch ver­stärkt die unmit­tel­ba­ren Aus­wir­kun­gen der Art und Wei­se sowie des Zeit­punkts des Abzugs selbst in den Fokus der Forscher:innen. Aller­dings ist ein über­eil­ter Abzug, wie der­je­ni­ge der NATO-Mis­si­on in Afgha­ni­stan, bei Frie­dens­mis­sio­nen der Ver­ein­ten Natio­nen eine Aus­nah­me. Schon Jah­re vor dem Ende einer Frie­dens­mis­si­on schrumpft die Anzahl ihrer Soldat:innen. Selbst wenn das End­da­tum für eine Mis­si­on noch nicht bestimmt ist, set­zen trup­pen­stel­len­de Län­der eine eige­ne Frist für ihre Betei­li­gung am inter­na­tio­na­len Ein­satz. Nach dem Ende der fran­zö­si­schen Mili­tär­ope­ra­ti­on Bark­ha­ne und dem Ent­scheid meh­re­rer afri­ka­ni­scher Staa­ten, ihre Trup­pen aus Mali abzu­zie­hen, kün­dig­te neben Gross­bri­tan­ni­en auch Deutsch­land im Novem­ber letz­ten Jah­res den Rück­zug sei­ner 1400 Soldat:innen aus der Frie­dens­mis­si­on in Mali bis Mai 2024 an.

Es drän­gen sich Fra­gen auf: Wie reagie­ren nicht-staat­li­che bewaff­ne­te Grup­pie­run­gen und aus­län­di­sche Mili­zen auf den loka­len Abzug von Trup­pen­kon­tin­gen­ten aus Frie­dens­mis­sio­nen? Wie kann die Zivil­be­völ­ke­rung trotz des pro­gres­si­ven Abzugs von inter­na­tio­na­lem Per­so­nal vor Gewalt geschützt wer­den? Kön­nen natio­na­les Mili­tär und Poli­zei durch den Abzug ent­ste­hen­de Sicher­heits­lü­cken schlies­sen? Im Ver­gleich zur Debat­te um die lang­fris­ti­gen Hin­ter­las­sen­schaf­ten von Frie­dens­mis­sio­nen fin­den Forscher:innen bei die­sen Fra­gen weni­ger opti­mis­ti­sche Antworten.

Mili­tä­ri­sches Per­so­nal in Frie­dens­mis­sio­nen der Ver­ein­ten Natio­nen ver­lässt das Ein­satz­land häu­fig zu einem ungüns­ti­gen Zeit­punkt — näm­lich dann, wenn natio­na­le Wah­len anste­hen. «Exit durch Wah­len» ist nicht nur eine Stra­te­gie der Ver­ein­ten Natio­nen, son­dern auch der trup­pen­stel­len­den Län­der. Bei­spiels­wei­se plant die deut­sche Regie­rung einen «geord­ne­ten Abzug» der Bundeswehrsoldat:innen im Dienst der Frie­dens­mis­si­on MINUSMA in Mali. Die Rück­füh­rung der Soldat:innen soll im Som­mer 2023 star­ten und nur zwei Mona­te nach den mali­schen Wah­len im Mai 2024 enden. Die­se Ter­mi­nie­rung des Trup­pen­ab­zugs ist pro­ble­ma­tisch: Die Orga­ni­sa­ti­on demo­kra­ti­scher und fried­li­cher Wah­len einer­seits und die Koor­di­na­ti­on von Trup­pen­rück­füh­run­gen ande­rer­seits sind allein genom­men schon enor­me Kraft­an­stren­gun­gen für eine inter­na­tio­na­le Frie­dens­mis­si­on. Bei­des zum glei­chen Zeit­punkt kann eine Frie­dens­mis­si­on über­for­dern, sodass Sicher­heits­lü­cken u. a. bei der gere­gel­ten Durch­füh­rung von Wah­len ent­ste­hen könn­ten. Wenn Gewalt zur Beein­flus­sung des Wahl­er­geb­nis­ses genutzt wird, besteht die Gefahr, dass demo­kra­ti­sche Insti­tu­tio­nen und staat­li­che Legi­ti­mi­tät lang­fris­tig Scha­den nehmen.

Konsequenzen nach dem Rückzug

Unse­re For­schung zur Sicher­heits­la­ge in afri­ka­ni­schen Gast­län­dern vor und nach loka­len Trup­pen­ab­zü­gen der Ver­ein­ten Natio­nen zwi­schen 2001 und 2017 zeigt aller­dings ein dif­fe­ren­zier­te­res Ergeb­nis: Der Weg­fall mili­tä­ri­scher Prä­senz in bestimm­ten Ort­schaf­ten führt nicht zu einem dor­ti­gen Anstieg an wahl­be­zo­ge­ner Gewalt. Dafür gibt es ver­schie­de­ne Erklä­run­gen. Zum einen könn­te es sein, dass die von Frie­dens­mis­sio­nen aus­ge­bil­de­ten natio­na­len Sicher­heits­kräf­te die lokal auf­tre­ten­de Sicher­heits­lü­cke schlies­sen. Zum ande­ren blei­ben oft mobi­le Ein­hei­ten der inter­na­tio­na­len Frie­dens­trup­pen zurück, wel­che das Ziel haben, den Wahl­pro­zess zu sichern.

Doch durch die Fokus­sie­rung auf die Sicher­heits­la­ge bei natio­na­len Wah­len gera­ten ande­re Kon­flik­te, die nicht direkt mit den Wah­len zusam­men­hän­gen, aus dem Blick­feld. Unse­re Stu­die zeigt, dass ein loka­ler Abzug von min­des­tens 150 Blau­hel­men — wie die Frie­dens­trup­pen der Ver­ein­ten Natio­nen auf­grund der Far­be ihrer Hel­me genannt wer­den — mit einem signi­fi­kan­ten Anstieg von loka­len Gewalt­er­eig­nis­sen ein­her­geht, die in ers­ter Linie nicht auf Beein­flus­sung der Wah­len abzie­len. Im suda­ne­si­schen Dar­fur bei­spiels­wei­se berich­te­te ein Ein­woh­ner aus Basi im Jahr 2017: «Die Anzahl der UNAMID Trup­pen ist sicht­bar zurück­ge­gan­gen. Dies brach­te und bringt die Lokal­be­völ­ke­rung in Gefahr und macht sie zu leich­ter Beu­te für die Pro-Regie­rungs­mi­li­zen». Die­ser Befund deckt sich mit For­schung zu Afgha­ni­stan: Die Tali­ban-Kämp­fer ver­üb­ten mehr Gewalt gegen die Regie­rungs­trup­pen in Pro­vin­zen, die kurz zuvor von NATO-Trup­pen ver­las­sen wurden.

Wie sieht ein besseres Vorgehen aus?

Entscheidungsträger:innen in Regie­run­gen und inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen kön­nen aus die­sen For­schungs­er­geb­nis­sen Fol­gen­des ler­nen: Dua­le Tran­si­tio­nen — von inter­na­tio­na­len zu natio­na­len Sicher­heits­kräf­ten und von einer alten zu einer neu gewähl­ten Regie­rung — ber­gen Risi­ken. Dabei ist aller­dings nicht die Gefähr­dung der Sicher­heit von Wah­len selbst das Haupt­pro­blem, son­dern die Ver­nach­läs­si­gung von poli­ti­scher Gewalt, die nicht direkt mit Wah­len im Zusam­men­hang steht. Die Stra­te­gie «Exit durch Wah­len» muss daher über­dacht wer­den. Wo die Sicher­heits­la­ge es erlaubt, könn­ten Risi­ken, die durch den Weg­fall mili­tä­ri­scher Prä­senz ent­ste­hen, durch inter­na­tio­na­le zivi­le Mis­sio­nen teil­wei­se abge­mil­dert wer­den. Ent­schei­dun­gen über die Geschwin­dig­keit und Geo­gra­fie des Trup­pen­ab­zugs soll­ten loka­le Kon­flik­t­ri­si­ken ein­be­zie­hen, um die Bevöl­ke­rung best­mög­lich zu schüt­zen und das posi­ti­ve Erbe von Frie­dens­mis­sio­nen nicht zu gefährden.


Refe­renz:

Smidt, Han­nah und Jana R. Kis­s­ling. Erscheint 2023. «(UN-)protected Elec­tions – Left for Good? With­dra­wal of United Nati­ons Peace­kee­ping Ope­ra­ti­ons and its Effects on Vio­lence during Elec­to­ral Peri­ods in War-Affec­ted Coun­tries». Jour­nal of Inter­na­tio­nal Peace­kee­ping (pre­print version).

Bild: unsplash.com

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