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Ein gefährlicher Abschied? Was der Abzug von Friedensmissionen für die internationale Sicherheit bedeutet 

Hannah Smidt, Jana Kissling
23rd Dezember 2022


Bisherige Forschung zeigt, dass Friedensmissionen der Vereinten Nationen (VN) beim Aufbau stabilitätsfördernder und demokratischer Institutionen in Konfliktländern helfen können. Auch nach dem Abzug einer Friedensmission bleiben Zugewinne an Stabilität und Demokratiequalität bestehen. Doch der Abzug einer Friedensmission birgt immer auch Risiken, insbesondere wenn das militärische Personal der Friedensmission das Einsatzland kurz vor oder nach nationalen Wahlen verlässt. Um negative Konsequenzen zu verhindern, braucht es eine sorgfältige Überprüfung des lokalen Kontextes und des Einsatzes ziviler Nachfolgemissionen. Mit dem Einzug in den VN Sicherheitsrat kann die Schweiz gerade durch ihre Expertise in diesem Bereich einen positiven Beitrag zur Friedenssicherung leisten.

Ausgangslage

Allein in den letzten fünf Jahren wurden vier Friedensmissionen der Vereinten Nationen beendet: in Haiti, Côte d’Ivoire, Liberia, und Sudan. Der Trend könnte sich fortsetzen. Die Demonstrationen gegen die Präsenz der Vereinten Nationen in der Demokratischen Republik Kongo und der Konfrontationskurs der Militärregierung in Mali machen das Ende beider Friedensmissionen wahrscheinlicher. Mit dem Einzug in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Anfang 2023 kann die Schweiz über den eventuellen Abzug von Friedensmissionen und seine Ausgestaltung mitbestimmen.

Deshalb ist wichtig zu wissen, was die Folgen einer Beendigung von Friedensmissionen in ehemals (oder immer noch) von Krieg und Gewalt geplagten Einsatzländern sind. Welche Beiträge zu Stabilität und Demokratie bleiben über das Ende der Missionen hinaus bestehen? Können sich nachhaltige Verbesserungen für das Land und dessen Bevölkerung einstellen? Oder versinken Einsatzländer nach dem Abzug von Friedensmissionen im Chaos?

Positive Auswirkungen der Friedensmissionen

Forscher:innen sind sich einig: Die Friedensmissionen der Vereinten Nationen leisten einen weitreichenden Beitrag zur Friedensförderung in Konfliktländern. Friedensmissionen vermindern Gewalt gegen Zivilisten, ermöglichen die Einhaltung von Waffenstillstandsabkommen, reduzieren Spannungen bei Wahlen und helfen beim Aufbau demokratischer Strukturen.

Auch bestätigen Forscher:innen den Friedensmissionen ein überwiegend positives Erbe: Informationen zu den Entwicklungen in allen Gastländern von Friedensmissionen der Vereinten Nationen von 1990 bis 2015 zeigen, dass sich friedensfördernde Bedingungen bis zu zehn Jahre nach dem Abzug stetig verbessern. Ehemalige Gastländer sind beim Ende einer Friedensmission demokratischer, geschlechtergerechter und stabiler als vorher und diese Entwicklungen setzen sich über die Lebensdauer der Mission hinaus fort. Anscheinend können Friedensmissionen Einstellungen in der Bevölkerung fördern, Institutionen aufbauen und Pfadabhängigkeiten bei politischen Entscheidungen schaffen, welche die Geschicke des Einsatzlandes über Jahre positiv beeinflussen. Es gibt allerdings erhebliche Unterschiede zwischen Ländern. Zum Beispiel machen Haiti die Nachwirkungen repressiver Polizeitaktiken der Friedensmission der Vereinten Nationen zu schaffen. Auch in Mali scheint der enorme Fokus auf die militärische Komponente der Friedensmission positive Langzeiteffekte weniger wahrscheinlich zu machen. Warum die Hinterlassenschaften so unterschiedlich sind und wie langfristig positive Gewinne für das Einsatzland gestärkt werden können, bleiben wichtige Fragen für zukünftige ländervergleichende Forschung (wie z. B. an der Universität Oxford).

Rückzug der Friedensmissionen

Neben diesen Langzeiteffekten von Friedensmissionen rücken auch verstärkt die unmittelbaren Auswirkungen der Art und Weise sowie des Zeitpunkts des Abzugs selbst in den Fokus der Forscher:innen. Allerdings ist ein übereilter Abzug, wie derjenige der NATO-Mission in Afghanistan, bei Friedensmissionen der Vereinten Nationen eine Ausnahme. Schon Jahre vor dem Ende einer Friedensmission schrumpft die Anzahl ihrer Soldat:innen. Selbst wenn das Enddatum für eine Mission noch nicht bestimmt ist, setzen truppenstellende Länder eine eigene Frist für ihre Beteiligung am internationalen Einsatz. Nach dem Ende der französischen Militäroperation Barkhane und dem Entscheid mehrerer afrikanischer Staaten, ihre Truppen aus Mali abzuziehen, kündigte neben Grossbritannien auch Deutschland im November letzten Jahres den Rückzug seiner 1400 Soldat:innen aus der Friedensmission in Mali bis Mai 2024 an.

Es drängen sich Fragen auf: Wie reagieren nicht-staatliche bewaffnete Gruppierungen und ausländische Milizen auf den lokalen Abzug von Truppenkontingenten aus Friedensmissionen? Wie kann die Zivilbevölkerung trotz des progressiven Abzugs von internationalem Personal vor Gewalt geschützt werden? Können nationales Militär und Polizei durch den Abzug entstehende Sicherheitslücken schliessen? Im Vergleich zur Debatte um die langfristigen Hinterlassenschaften von Friedensmissionen finden Forscher:innen bei diesen Fragen weniger optimistische Antworten.

Militärisches Personal in Friedensmissionen der Vereinten Nationen verlässt das Einsatzland häufig zu einem ungünstigen Zeitpunkt — nämlich dann, wenn nationale Wahlen anstehen. «Exit durch Wahlen» ist nicht nur eine Strategie der Vereinten Nationen, sondern auch der truppenstellenden Länder. Beispielsweise plant die deutsche Regierung einen «geordneten Abzug» der Bundeswehrsoldat:innen im Dienst der Friedensmission MINUSMA in Mali. Die Rückführung der Soldat:innen soll im Sommer 2023 starten und nur zwei Monate nach den malischen Wahlen im Mai 2024 enden. Diese Terminierung des Truppenabzugs ist problematisch: Die Organisation demokratischer und friedlicher Wahlen einerseits und die Koordination von Truppenrückführungen andererseits sind allein genommen schon enorme Kraftanstrengungen für eine internationale Friedensmission. Beides zum gleichen Zeitpunkt kann eine Friedensmission überfordern, sodass Sicherheitslücken u. a. bei der geregelten Durchführung von Wahlen entstehen könnten. Wenn Gewalt zur Beeinflussung des Wahlergebnisses genutzt wird, besteht die Gefahr, dass demokratische Institutionen und staatliche Legitimität langfristig Schaden nehmen.

Konsequenzen nach dem Rückzug

Unsere Forschung zur Sicherheitslage in afrikanischen Gastländern vor und nach lokalen Truppenabzügen der Vereinten Nationen zwischen 2001 und 2017 zeigt allerdings ein differenzierteres Ergebnis: Der Wegfall militärischer Präsenz in bestimmten Ortschaften führt nicht zu einem dortigen Anstieg an wahlbezogener Gewalt. Dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Zum einen könnte es sein, dass die von Friedensmissionen ausgebildeten nationalen Sicherheitskräfte die lokal auftretende Sicherheitslücke schliessen. Zum anderen bleiben oft mobile Einheiten der internationalen Friedenstruppen zurück, welche das Ziel haben, den Wahlprozess zu sichern.

Doch durch die Fokussierung auf die Sicherheitslage bei nationalen Wahlen geraten andere Konflikte, die nicht direkt mit den Wahlen zusammenhängen, aus dem Blickfeld. Unsere Studie zeigt, dass ein lokaler Abzug von mindestens 150 Blauhelmen — wie die Friedenstruppen der Vereinten Nationen aufgrund der Farbe ihrer Helme genannt werden — mit einem signifikanten Anstieg von lokalen Gewaltereignissen einhergeht, die in erster Linie nicht auf Beeinflussung der Wahlen abzielen. Im sudanesischen Darfur beispielsweise berichtete ein Einwohner aus Basi im Jahr 2017: «Die Anzahl der UNAMID Truppen ist sichtbar zurückgegangen. Dies brachte und bringt die Lokalbevölkerung in Gefahr und macht sie zu leichter Beute für die Pro-Regierungsmilizen». Dieser Befund deckt sich mit Forschung zu Afghanistan: Die Taliban-Kämpfer verübten mehr Gewalt gegen die Regierungstruppen in Provinzen, die kurz zuvor von NATO-Truppen verlassen wurden.

Wie sieht ein besseres Vorgehen aus?

Entscheidungsträger:innen in Regierungen und internationalen Organisationen können aus diesen Forschungsergebnissen Folgendes lernen: Duale Transitionen — von internationalen zu nationalen Sicherheitskräften und von einer alten zu einer neu gewählten Regierung — bergen Risiken. Dabei ist allerdings nicht die Gefährdung der Sicherheit von Wahlen selbst das Hauptproblem, sondern die Vernachlässigung von politischer Gewalt, die nicht direkt mit Wahlen im Zusammenhang steht. Die Strategie «Exit durch Wahlen» muss daher überdacht werden. Wo die Sicherheitslage es erlaubt, könnten Risiken, die durch den Wegfall militärischer Präsenz entstehen, durch internationale zivile Missionen teilweise abgemildert werden. Entscheidungen über die Geschwindigkeit und Geografie des Truppenabzugs sollten lokale Konfliktrisiken einbeziehen, um die Bevölkerung bestmöglich zu schützen und das positive Erbe von Friedensmissionen nicht zu gefährden.


Referenz:

Smidt, Hannah und Jana R. Kissling. Erscheint 2023. «(UN-)protected Elections – Left for Good? Withdrawal of United Nations Peacekeeping Operations and its Effects on Violence during Electoral Periods in War-Affected Countries». Journal of International Peacekeeping (preprint version).

Bild: unsplash.com