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Ach, Europa: Entstehung und Wandel parteipolitischer Positionen zur Beziehung Schweiz – EU

Marc Bühlmann
13th December 2022

In den letzten 50 Jahren suchten die vier grossen Schweizer Parteien – CVP, FDP, SP und SVP – nach einer kohärenten Position in ihrer Europapolitik und orientierten sich dabei auch an den Präferenzen ihrer Wähler:innenschaft. Alle vier Parteien starteten mit einem europafreundlichen Kurs, um auf mehr oder weniger langen Umwegen ihre eigene Position zu finden, die von Ablehnung der Integration (SVP), über Bevorzugung bilateraler Beziehungen (CVP, FDP) bis hin zu moderat integrationsfreundlichem Kurs (SP) reichen. Die Bedeutung, die die Parteien der Europapolitik zumessen, variiert allerdings stark.

Die gesellschaftliche Bedeutung der Europapolitik als Kontext

Parteien basieren ihre Positionen auf ideologischen Überlegungen, gesellschaftlichem Diskurs und der vermuteten Haltung ihrer Wähler:innen. Dies trifft auch für die Europapolitik zu, die in der Schweiz erstmals mit der Abstimmung über das Freihandelsabkommen mit der EWG (1972) in ein breiteres gesellschaftliches Bewusstsein gerät und mit der Diskussion um den Beitritt zum EWR an Virulenz gewinnt. «Europa» bleibt in den 1990er Jahren laut Sorgenbarometer ein drängendes Problem, das aber nach der erfolgreichen Etablierung der Bilateralen Abkommen wieder an Bedeutung verliert. Die Parteien beginnen in den 1990er Jahren ihre Suche nach einer eigenständigen Position in der Europapolitik zu verstärken. Als Orientierungshilfe für diese Suche dienen ihnen auch die elf europapolitischen Abstimmungen, weil daraus auch ablesbar ist, ob die Präferenzen der eigenen Klientel der aktuellen Parteiposition entsprechen.

Tabelle: Parteiparolen, abweichende Kantonalsektionen und Parolentreue der Anhängerschaft bei elf europapolitischen Abstimmungen

  CVP FDP SP SVP
Pa aK PT Pa aK PT Pa aK PT Pa aK PT
1979 Freihandelsabkommen* ja 0   ja 0   ja 1   ja 1  
1992 EWR-Beitritt ja 2 53 ja 2 62 ja 0 69 ne 3 68
1997 «EU-Beitrittsverhandlungen vors Volk!» ne 0 93 ne 0 92 ne 0 82 ne 1 58
2000 Bilaterale Abkommen mit der EU ja 0 69 ja 0 83 ja 0 93 ja 14 24
2001 Initiative «Ja zu Europa!» ja 18 16 ne 4 82 ja 0 58 ne 0 84
2005 Abkommen Schengen und Dublin ja 0 72 ja 0 79 ja 0 86 ne 2 92
2005 Ausdehnung FZA auf neue EU-Staaten ja 0 81 ja 0 74 ja 0 89 ne 5 87
2006 Zusammenarbeit mit Staaten Osteuropas ja 0 65 ja 0 71 ja 0 86 ne 1 90
2009 Weiterführung FZA/Ausdehnung ja 0 75 ja 0 77 ja 0 80 ne 1 94
2014 Masseneinwanderungsinitiative ne 0 66 ne 0 60 ne 0 84 ja 0 95
2020 Begrenzungsinitiative ne 0 67 ne 0 72 ne 0 86 ja 0 87
Ringen um Positionen

Interessanterweise zeichnen sich alle vier Parteien in den 1970er Jahren noch durch einen europafreundlichen Modernisierungskurs aus. Sogar die SVP zeigt sich bei der Frage der Intensität der Beziehungen zur EU lange intern gespalten. Letztlich ist es der Zürcher Flügel, der die Partei im Zuge der EWR-Abstimmung auf eine konservative Position und auf eine explizit ablehnende Haltung einzuschwören beginnt. Spätestens nach der Ja-Empfehlung für die Bilateralen Abkommen I (2000), bei der sich der gemässigte Flügel der SVP letztmals durchsetzt, wird deutlich, dass die Mehrheit der Klientel der SVP nur noch eine konsequente Nein-Linie akzeptiert. Seither vertritt die SVP eine Anti-EU-Position. Als einzige Partei bewirbt sie diese auch bei den eidgenössischen Wahlen, was durchaus mit ein Grund für ihre Erfolge sein dürfte.

Eigentlich hätte in den 1970er Jahren erwartet werden können, dass nicht die SVP, sondern die damals stark konservativ ausgerichtete CVP den anti-europäischen Pol einnimmt, der sich ja ideologisch auf die Konservierung einer schweizerischen Eigenständigkeit beruft. Die CVP schlägt allerdings einen ganz anderen Weg ein: Die Parteileitung will nicht nur in der Sozial- sondern auch in der Aussenpolitik einen Modernisierungs- und Öffnungskurs. Wie wenig dieser in europapolitischen Fragen allerdings von der eigenen Anhänger:innenschaft gutgeheissen wird, zeigt sich bereits bei der höchstens lauen Parolentreue beim (abgelehnten) Beitritt zum EWR und dann vor allem in der veritablen Ohrfeige, die der Partei bei der Abstimmung zur Initiative «Ja zu Europa» verpasst wird: Nur gerade 16 Prozent parolentreue Anhänger:innen tragen hier die Öffnungsstrategie mit. Die bilateralen Beziehungen erlauben es der CVP dann aber, eine Mitteposition zwischen dem von der Basis nicht unterstützten EU-Beitritt und konservativer EU-Skepsis einzunehmen. Europa spielt in den Wahlprogrammen der CVP allerdings nie eine prominente Rolle.

Auch für die FDP werden die Bilateralen sozusagen zum Königs(aus)weg, denn der Freisinn liebäugelt anfänglich ebenfalls mit einem europafreundlichen Kurs. Die 1995 als strategisches Ziel festgelegte Beitrittsidee wird allerdings relativ rasch wieder beerdigt und erhält auch in der Parteispitze nie dieselbe Bedeutung wie bei der CVP. Die Unterstützung für die bilateralen Beziehungen, die heute nicht nur von der FDP als «Königsweg» bezeichnet werden, ist innerhalb des Freisinns zu Beginn allerdings ebenfalls nur lau – insbesondere dann, wenn es bei den Beziehungen nicht primär um Wirtschafts-, sondern um Einwanderungsfragen geht. Erst nach der Masseneinwanderungsinitiative nimmt die FDP eine konsistentere Haltung «Pro Bilaterale» ein, die sie in der Folge gar bei den eidgenössischen Wahlen 2015 recht vehement bewirbt.

In einem eigentlichen Dilemma befindet sich die SP. Als Modernisierungspartei, die auch sie in den 1970er Jahren werden will, schreibt sie sich früh die Öffnung der Schweiz und den EU-Beitritt auf die Fahne. Als einzige der vier Bundesratsparteien bleibt sie durchgängig bei dieser Haltung. Dieser Kurs wird von ihrer ursprünglichen Arbeiter:innen-Klientel allerdings nur sehr bedingt mitgetragen. Die SP versucht zwei unterschiedliche Auswege aus diesem Dilemma: Auf der einen Seite wird das im Parteiprogramm verankerte Beitrittsziel zwar immer wieder erwähnt – sporadisch werden vom Bundesrat auch Beitrittsverhandlungen gefordert –, die Integration in die Europäische Union wird aber selten mit letzter Vehemenz verfochten. Das Thema ist denn auch kaum Gegenstand von Kampagnen bei eidgenössischen Wahlen. Auf der anderen Seite wird versucht, den Gewerkschaftsflügel und die traditionelle Klientel einzubinden, indem die EU-freundliche Haltung mit innenpolitischen Forderungen verknüpft wird.

Ausblick

In der verhältnismässig geringen Bedeutung, die drei der vier Parteien der Europapolitik lange Zeit zumessen, widerspiegelt sich auch der Burgfrieden, den die CVP, die FDP und die SP im Rahmen der Bilateralen Abkommen geschmiedet haben und der lange Zeit auch von der Stimmbevölkerung mitgetragen und an der Abstimmungsurne legitimiert wird. Die knappe Annahme der Masseneinwanderungsinitiative und die Reaktion der EU, die auf eine Dynamisierung der bilateralen Beziehungen und für eine Verfestigung der Beziehungen pocht, machen diesen Burgfrieden allerdings brüchig. Ob die Koalition «Pro Bilaterale» hält und für ein neues institutionelles Rahmenabkommen ausreicht, scheint alles andere als sicher – auch weil CVP, FDP und SP ganz unterschiedliche Forderungen für Neuverhandlungen stellen und die SVP aufgrund ihrer europaskeptischen Position diese wohl auch weiterhin eher ablehnen wird.


Hinweis: Dieser Beitrag ist die schriftliche Kurzfassung des Buchkapitels «Ach, Europa: Entstehung und Wandel parteipolitischer Positionen zur Beziehung Schweiz–Europa», in: Heer Elia, Heidelberger Anja, Bühlmann Marc (Hrsg.). Schweiz – EU: Sonderwege, Holzwege, Königswege. Die vielfältigen Beziehungen seit dem EWR-Nein. Zürich: NZZ Libro. S. 147 – 184.

Bild: Wikimedia Commons