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Das innenpolitische Ringen um die Personenfreizügigkeit zum Schutz der bilateralen Beziehungen Schweiz-EU

Elia Heer
8th Dezember 2022

In den letzten dreissig Jahren stimmte die Schweizer Stimmbevölkerung ganze sieben Mal über die Personenfreizügigkeit (PFZ) mit der EU ab. Zweimal unterlag dabei das Lager der Befürworter und Befürworterinnen der PFZ – 1992 bei der Abstimmung über den EWR-Beitritt und 2014 bei der Masseneinwanderungsinitiative (MEI). Trotz dieser Niederlagen und trotz einer grundsätzlich einwanderungskritischen Einstellung der Bevölkerung ist die PFZ heute in Kraft. Das liegt nicht zuletzt an einer breiten pro-Bilateralen-Koalition. Die politischen Akteure in dieser Koalition waren wiederholt gewillt und in der Lage, die PFZ – und damit den bilateralen Weg – mittels unkonventioneller innenpolitischer Massnahmen zu schützen.

Einwanderungskritische Schweiz

Die Schweizer Stimmbevölkerung tat sich seit jeher schwer mit der PFZ. So gehörten Ängste im Zusammenhang mit der Zuwanderung zu den meistgenannten Beweggründen für ein ablehnendes Votum zum EWR. Und im Nachgang zur Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative gaben rund zwei Drittel der Befragten – darunter auch 35 Prozent der Nein-Stimmenden – an, die Schweiz müsse ihre Zuwanderung wieder eigenständig steuern können. Damit die Stimmbevölkerung in den anderen fünf die PFZ betreffenden Abstimmungen mehrheitlich für die Einführung (respektive den Erhalt) der PFZ stimmte, mussten die Befürwortenden sie demnach überzeugen, dass die Nachteile einer Abschaffung der PFZ die Vorteile einer eigenständigen Steuerung der Zuwanderung überwogen.

Die Verknüpfung der Bilateralen I durch die Guillotineklausel

Eine grosse Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Guillotineklausel, welche die einzelnen Verträge des Pakets der Bilateralen I miteinander verknüpft. Die EU hatte diese Verknüpfung gefordert – aus Angst, dass die Schweiz einen der Verträge aufkündigen könnte und das Paket dadurch unausgewogen sei. Da das PFZ als umstrittenstes Dossier der Bilateralen I galt, wurde sie für Befürworterinnen und Befürworter des bilateralen Weges zum zentralen Element, das es zu schützen galt, damit der bilaterale Weg weitergeführt werden konnte. Diese Befürworterinnen und Befürworter schlossen sich ab der Abstimmung über die Bilateralen I zu einer inoffiziellen Pro-Bilaterale-Koalition zusammen, welche die meisten grossen Parteien – abgesehen von der SVP –, den Bundesrat sowie die Sozialpartner umfasste.

Schutz durch unkonventionelle innenpolitische Massnahmen

Um die PFZ in den zahlreichen sie betreffenden Abstimmungen zu verteidigen, traten die Akteure dieser Koalition geschlossen auf und griffen zudem wiederholt zu unkonventionellen innenpolitischen Massnahmen. Um die Gewerkschaften und die linken Parteien an Bord zu holen, erarbeiteten die Sozialpartner ein Paket an flankierenden Massnahmen (FlaM), welche für Schweizer Verhältnisse ungewöhnlich stark in den Arbeitsmarkt eingriff. Der Bundesrat seinerseits versuchte im Vorfeld der verschiedenen Abstimmungen den Argumenten der PFZ-Gegnerschaft den Wind aus den Segeln zu nehmen. So rief er beispielsweise vor der Abstimmung über die MEI die Ventilklausel – also eine temporäre Wiedereinführung von Zuwanderungskontingenten – an, obwohl er dies noch wenige Jahre zuvor klar abgelehnt hatte. Und im Vorfeld der Abstimmung über die Begrenzungsinitiative der SVP legte der Bundesrat dem Parlament ein Gesetz über Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose (ÜLG) vor, womit mutmasslich Ängste vor Arbeitslosigkeit abgebaut werden sollten. Das Parlament trug das ÜLG mit und verabschiedete es in einem raschen Verfahren noch vor dem Urnengang über die Begrenzungsinitiative. Auch bereits zuvor hatte das Parlament die PFZ gestützt. So entschied es beispielsweise 2008, die Vorlage über die Weiterführung der PFZ mit der Ausdehnung der PFZ auf die neuen EU-Mitgliedstaaten Bulgarien und Rumänien zu verknüpfen. Eine Mehrheit des Parlaments war überzeugt, dass eine Ablehnung der Ausdehnung zu grossen Problemen mit der EU führen würde. Die Gegnerschaft erwartete davon hingegen nur geringe Auswirkungen auf die Beziehungen zur EU. Durch die Verknüpfung stellte sich diese Frage nun gar nicht erst, da eine Ablehnung nun automatisch zu einer Kündigung der PFZ geführt hätte. Und nicht zuletzt beschloss das Parlament 2016 in einem europapolitisch kritischen Moment mit dem sogenannten «Inländervorrang light» eine Personenfreizügigkeits-konforme Umsetzung der MEI.

Der Bruch der Koalition

Die Pro-Bilaterale-Koalition hat lange gut gehalten und die PFZ und damit den bilateralen Weg in zahlreichen Abstimmungen verteidigt. Der sozialpartnerschaftliche Kompromiss zu den FlaM bildete dabei den Grundstein für den Zusammenhalt. Das zeigte sich auch bei den Verhandlungen um ein Rahmenabkommen mit der EU (InstA). Diese wurden schliesslich abgebrochen – nicht zuletzt weil die Sozialpartner den mit den FlaM erreichten Kompromiss beim Lohnschutz im vom Bundesrat ausgehandelten InstA-Entwurf als zu stark beeinträchtigt erachteten und das Rahmenabkommen deshalb nicht unterstützen wollten.


Hinweis: Dieser Beitrag ist die schriftliche Kurzfassung des Buchkapitels «Angst vor der Guillotine: innenpolitische Massnahmen zur Sicherung der Personenfreizügigkeit in der Schweiz», in: Heer Elia, Heidelberger Anja, Bühlmann Marc (Hrsg.). Schweiz – EU: Sonderwege, Holzwege, Königswege. Die vielfältigen Beziehungen seit dem EWR-Nein. Zürich: NZZ Libro. S. 55 – 86.

Bild: unsplash.com