EU gleichzeitig demokratisieren und integrieren? (Ungewöhnliche) Anregungen aus der Schweiz

Im Rahmen eines durch den Schweizer Nationalfonds geförderten Projektes konnte Prof. Dr. Joachim Blatter seinen unkonventionellen Vorschlag, wie man die EU gleichzeitig demokratisieren und effektiver gestalten kann, weiterentwickeln. Die Schweiz liefert zum einen Anregungen für den Vorschlag, zum anderen würde eine solchermassen veränderte EU es den Schweizer:innen leichter machen, sich der EU anzunähern.

Problemdiagnose: Intergovernmentalismus führt zu «Verformungen» der Demokratie und unterminiert die Voraussetzung zur effektiven Zusammenarbeit

Die Europäische Union – und darüber hinaus auch alle anderen Formen der internationalen Zusammenarbeit – ist durch eine Dominanz der nationalen Exekutiven und durch eine grosse Rolle von bürokratischen oder wissenschaftlich-technischen Expert:innen gekennzeichnet. Auf immer häufigeren Gipfeltreffen versuchen sich die Regierungschefs von Nationalstaaten auf eine gemeinsame Politik zu verständen; grenzüberschreitende Netzwerke von Expert:innen bereiten diese Gipfel vor und ihnen wird zum z.T. auch ganz die Verantwortung übertragen, um nationale Egoismen zu überwinden (wie z.B. bei der Finanz- und Geldpolitik durch die Europäische Zentralbank).

Dies trägt massiv zu dem bei, was Nadia Urbinati als «Verformung» («Disfiguration») der Willensbildung bezeichnet hat. Verformungen treten dann auf, wenn eines der drei Elemente einer guten Willensbildung auf Kosten der anderen Elemente die Überhand gewinnt:

In der in der EU und in den internationalen Beziehungen dominierenden Form der «technokratischen Willensbildung» herrscht die Vorstellung von Politik als rationaler Problemlösungsprozess vor; Die Rolle von Interessen, Identitäten, Ideologien und Emotionen wird entweder ignoriert oder es wird versucht, sie zu reduzieren. Begleitet wird die Technokratie von «plebiszitären» Formen der Politikvermittlung, in denen sich Regierungschefs als heroische Kämpfer:innen für ihre nationalen Interessen oder als Retter:innen in der Not inszenieren. Diese Überzeugung hat v.a. durch die Eurokrise Risse bekommen; als Konsequenz machte sich eine dritte Verformung der demokratischen Willensbildung breit: der Populismus, der gesellschaftliche Interessengegensätze auf eine Gegenüberstellung von «korrupter Elite» und «integrem Volk» zuspitzt.

Diese durch den Intergovernmentalismus massiv beförderten Deformationen der demokratischen Willensbildung haben alle eines gemeinsam: Sie unterminieren zwei intermediäre Institutionen, die in der repräsentativen Demokratie zentrale Rollen in der Interessensvermittlung und öffentlichen Debatte spielten – politische Parteien und nationale Parlamente. Beide werden zur Seite gedrängt und verlieren ihre Glaubwürdigkeit als legitime und effektive Vermittlungsinstanzen zwischen Regierenden und Regierten. Darüber hinaus verbindet sich der Populismus sehr oft mit dem Nationalismus, und das wiederum führt dazu, dass sich Demokratien immer schwerer tun, auf Herausforderungen (z.B. Klima- oder technologischer Wandel) oder Herausforderer (Autokratien wie Russland und China) gemeinsam zu reagieren.

Europäische Demokratie als Lösung? Bürgernähere Inspirationen aus der Schweiz

In der Europäischen Union versuchen ihre Mitglieder eine gemeinschaftliche Handlungsfähigkeit primär dadurch herzustellen, dass Politikfelder «vergemeinschaftlicht» werden – d.h. die Mitglieder «poolen» ihre Souveränität und entscheiden gemeinschaftlich. Dies führt aber zu den beschriebenen Deformationen der demokratischen Willensbildung und zur Unterminierung der Zusammenarbeit, weil sich innerhalb der Mitgliedsländer ein nationalistischer Populismus ausbreitet.

Lange Zeit schien das «poolen» von nationaler Souveränität nur ein Zwischenschritt zu einer Verlagerung von Souveränität auf eine eigenständige, europäische Ebene. Dort sollte dann eine europäische Demokratie nach dem Vorbild der nationalen Demokratien entstehen, mit einem europäischen Volk, ausbalancierten Meinungsbildungsprozessen, sowie effizienten Entscheidungsfindungsprozessen und Umsetzungsstrukturen. Dies wird heute immer mehr als nicht wünschbar betrachtet, v.a. weil die Verbindungen zwischen Regierenden und Regierten noch dünner werden würden, als sie dies auf nationaler Ebene bereits geworden sind.

An dieser Stelle kommt nun die Schweiz ins Spiel. In der Schweiz ist das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit und Stabilität der Demokratie längst nicht so sehr ins Schwanken geraten, wie in anderen Demokratien. Allerdings ist die Schweiz alles andere als ein leuchtendes Vorbild für die Stärkung der Zusammenarbeit von Demokratien (Blatter 2015). Letzteres ist u.a. der direkten Demokratie zu verdanken (Blatter 2020), so dass sie für einmal nicht als Inspirationsquelle für demokratische Reformen herangezogen wird. Stattdessen werden die bedeutendsten Wirkungen vielfältiger Mitbestimmungsmöglichkeiten in Erinnerung gerufen (a) und es wird auf eine grundlegende, aber bisher weitgehend ignorierte Veränderung der Internationalen Ordnung hingewiesen, bei der die Schweiz eine Vorreiterrolle einnimmt (b).

  1. Die Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch vielfältige direktdemokratische Instrumente hat eine Wirkung, die in unserem Kontext sehr zentral sind. Sie wird z.T. als «Ventilfunktion» bezeichnet, da Bürger:innen mit diesen Instrumenten ihren Unmut über (Nicht-)Entscheidungen ihrer Repräsentanten einen Ausdruck bringen können. Entscheidend ist allerdings, dass dieser in einer «sachlichen» Form geschieht: Bei Initiativen und Referenden geht es «um die Sache» – und nicht um die Ablösung von Regierungen oder Repräsentant:innen. Darüber hinaus spielen Parteien und Parlamente eine grosse Rolle bei der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung (z.B. durch die Lancierung eines Gegenvorschlages).
  2. Die Schweiz war eines der ersten Länder, welches die Doppelte Staatsbürgerschaft akzeptierte. Heute haben 25% aller Schweizer:innen eine weiter Staatsbürgerschaft, was die Schweiz zu einer Vorreiterin eines weltweiten Trends macht (Blatter, Sochin D’Elia, und Buess 2018). Demokratien akzeptieren aber nicht nur immer mehr die Zugehörigkeit ihrer Bürger:innen zu einem anderen Staat, sondern sie ermöglichen gleichzeitig immer mehr Emigrant:innen bzw. Auslandsbürger:inen und Immigrant:innen bzw. ausländischen Bewohner:innen auf nationaler oder lokaler Ebene mitzuwählen (Arrighi und Bauböck 2017). Insgesamt führen diese beiden Entwicklungen zu einer zunehmenden Überlappung der Stimmbevölkerung (demoi) von Nationalstaaten. Falls sich die Demokratien nicht gemeinsam um eine Regulierung dieser bisher weitgehend unbemerkten Entwicklung kümmern, wird es in Zukunft zu einer immer grösseren politischen Ungleichheit zwischen verschiedenen Bürgerschaftsgruppen kommen: Während sesshafte Einfachbürger:innen weiterhin (nur) in einem Staat mitbestimmen können, wird es unter den (mobilen) Mehrfachbürger:innen deutliche Verlierer:innen und Gewinner:innen geben: manche werden in keinem Land, andere in mehreren Ländern mitstimmen können. Demokratien (in der EU und darüber hinaus) können diese Entwicklung aber auch als Chance sehen. Wie im Folgenden skizziert, könnten sie durch eine gemeinsame Konstitutionalisierung des entstehenden Systems überlappender Stimmvölker ihre Zusammenarbeit gleichzeitig demokratischer und effizienter machen.
Vorschlag: Die Entwicklung eines Systems von horizontal erweiterten und sich überlappenden nationalen Demokratien

Dazu sollten sich die Vertreter:innen demokratischer Völker auf eine «Joint Declaration of Interdependence and Identification» einigen. In dieser Deklaration bekräftigen sie ihren Willen, ihre Zusammenarbeit und gemeinsame Regelsetzung zu demokratisieren und wirksamer zu machen. Als zentrales Instrument dazu bieten die beteiligen Staaten den Bürger:innen der anderen beteiligten Staaten den Status einer/s «konsoziativen Bürger:in» an.

Die Bürger:innen aller beteiligten Nationalstaaten haben regelmässig (z.B. im Zusammenhang mit ihren nationalen Wahlen) die Gelegenheit diese Angebote der anderen Staaten anzunehmen, in dem sie eine «Declaration of Interest and Identification» unterzeichnen. Dadurch erhalten sie für eine bestimmte Zeit (z.B. eine Legislaturperiode) das Recht, in dem anderen Staat bei nationalen Wahlen mitstimmen zu können. Insgesamt bedeutet dass, das nationale Völker und individuelle Bürger:innen die nationalen Stimmvölker so erweitern, dass sich ein System überlappender und multipler Wahlvölker ergibt, bei dem alle – Sesshafte und Mobile, Einfach- und Mehrfachbürger:innen – die Gelegenheit erhalten, sich in mehreren Staaten an nationalen Wahlen zu beteiligen.

Gleichzeitig werden in den nationalen Parlamenten eine beschränkte Anzahl von Sitzen für die Repräsentant:innen der «konsoziativen Bürger:innen» eingerichtet, wie dies z.B. in Frankreich und Italien für die Repräsentant:innen der Auslandsbürger:innen bereits der Fall ist. Diesen transnational erweiterten nationalen Parlamenten wird ausserdem eine umfangreichere Mitsprache in der Aussen- und Internationalen Politik gegeben. Damit kann die Exekutivenlastigkeit des gegenwärtigen Intergovernmentalismus reduziert werden, ohne dass man mit der Stärkung der nationalen Parlamente riskiert, dass die Zusammenarbeit noch schwieriger wird.

National verankerte Parteien können (müssen aber nicht) ihr Programm und ihre Wahlkampfaktivitäten auch auf die konsoziativen Bürger:innen ausrichten, um deren Stimmen zu gewinnen. Dadurch ist zu erwarten, dass sich eine Vernetzung der europäischen nationalen Parteien in einem «bottom-up» Prozess entwickelt, statt dass dies «top-down» im Europaparlament geschieht.

Von einem solchen System horizontal erweiterter und überlappender Wahlvölker ist eine «Refiguration» der demokratischen Willensbildung und einer effizientere Entscheidungsfindung im Rahmen der gemeinsamen Politikgestaltung zu erwarten. Die Bürger:innen haben nun viel produktivere Möglichkeiten ihrem Unmut über die europäische Politik Ausdruck zu verleihen. Sie müssen nicht mehr nationalistische Populist:innen unterstützen, sondern können Verterter:innen überall dorthin schicken, wo sie davon ausgehen, dass Einfluss auf sie ausgeübt wird. So könnten z.B. Italiener:innen Vertreter:innen nach Berlin schicken, wenn sie davon ausgehen, dass die deutsche Position von grosser Bedeutung für die Europäische Währungs- und Finanzpolitik ist und diese wiederum das Wirtschaftswachstum und die soziale Sicherheit in Italien massiv beeinflusst. Auf der anderen Seite könnten aber auch die Deutschen Vertreter:innen ins italienische Parlament schicken, wenn sie davon ausgehen, dass die italienische Finanzpolitik eine entscheidende Bedeutung für die Stabilität und die Werthaftigkeit des Euro besitzt. Nationale Parlamente und Parteien würden wieder ein grössere Rolle und mehr Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn sie nicht ständig zwischen der notwenigen «Responsivität» gegenüber einem rein nationalen Wahlvolk während des Wahlkampfes und der notwendigen «Verantwortung/Responsibilty» gegenüber den Interessen aller Beteiligter hin- und herschwanken müssten.

Da die traditionellen Parteien und die Parlamente am meisten zu gewinnen haben, sind sie die «natürlichen» Protagonist:innen für die Entstehung eines solchen Systems überlappender nationaler Demokratien. Aber auch die Bürger:innen könnten für ein solches System gewonnen werden. Zum ersten Mal in der Geschichte der Erweiterung des Stimmvolkes (demos) müssen deren Protagnist:innen nicht alleine auf die «Moral» der gegenwärtigen «Ingroup» setzen. Wer andere (Demokratien) bei sich mitstimmen lässt, erhält im Gegenzug von diesen das gleiche Recht bei ihnen.


Quellen:

Die Hintergründe und konzeptionellen Grundlagen des Vorschlages wurden zuerst in einem Discussion Paper des Wissenschaftszentrums Berlin dargelegt:

  • Joachim Blatter (2018): Transnationalizing Democracy Properly: Principles and Rules for Granting Consociated Citizens Voting Rights and Partisan Representation in the Parliaments of Nation States. WZB-Discussion Paper SP IV 2018-102; https://bibliothek.wzb.eu/pdf/2018/iv18-102.pdf

Der Vorschlag wurde dann in einem Working Paper des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz skizziert und von internationalen Expert:innen diskutiert:

  • Joachim Blatter & Rainer Bauböck (eds.) (2019): Let Me Vote in Your Country, and I’ll Let You Vote in Mine. A Proposal for Transnational Democracy. EUI Working Paper RSCAS 2019/25. http://cadmus.eui.eu/handle/1814/62225

Schliesslich wurde der Vorschlag in Zusammenarbeit mit Johannes Schulz in einer der angesehensten europäischen Zeitschriften für Internationale Beziehungen theoretisch weiter fundiert und mit den wichtigsten grundlegenden Alternativen verglichen:

  • Blatter, J, and J. Schulz (2022): Intergovernmentalism and the Crisis of Democracy: The Case for for Creating a System of Horizontally Expanded and Overlapping National Democracies. European Journal of International Relations. Online first: https://doi.org/10.1177/13540661221106909

Weitere Referenzen:

  • Arrighi, Jean-Thomas, and Rainer Bauböck (2015): ‘A Multilevel Puzzle: Migrants’ Voting Rights in National and Local Elections’. European Journal of Political Research 56,3: 619–39.
  • Blatter, Joachim (2015): Switzerland. Bilateralism’s Polarizing Consequences in a Very Particular/ist Democracy. In E. O. Eriksen and J. E. Fossum (eds.), The European Union’s Non-Members. Independence under Hegemony? 53-74. Routledge.
  • Blatter, Joachim, Martina Sochin D’Elia, and Micheal Buess (2018): Bürgerschaft und Demokratie in Zeiten transnationaler Migration: Hintergründe, Chancen und Risiken der Doppelbürgerschaft. Studie im Auftrag der Eidgenössischen Migrationskommission (Herausgeber)
  • Blatter, Joachim (2020): Demokratiedefizite. In: Diggelmann, O.; M. Hertig Randall & B. Schindler (eds.), Verfassungsrecht der Schweiz, 445-460. Schulthess Verlag.

Bild: unsplash.com

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