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Die Volksinitiative: Nur ein weiteres politisches Instrument?

Philippe Etienne Rochat, Thomas Milic, Nadja Braun Binder
23rd September 2022

Die Volksinitiative erscheint auf den ersten Blick als antiparlamentarisches Instrument, mit dem auf das Parlament eingewirkt und der Rechtsetzungsprozess von ausserhalb des Parlaments angestossen werden kann. In einer empirischen Untersuchung der Nutzung der Institution Volksinitiative durch parlamentarische Akteur:innen kommen wir jedoch zum Schluss, dass auch Mitglieder der eidgenössischen Räte und Parteien häufig zum Instrument der Volksinitiative greifen, obwohl ihnen eine ganze Reihe weiterer politischer Einflussinstrumente zur Verfügung stehen.

Geschichte der Volksinitiative
Im Jahr 1891 wurde die Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung eingeführt, um politisch Aussenstehenden und Minderheiten, die im parlamentarischen Prozess ungenügend zum Zuge kommen, die Möglichkeit zu geben, mittels politischer Forderungen eine Veränderung des Status quo auszulösen. Im öffentlichen Diskurs werden Volksinitiativen aber häufig mit den im Parlament vertretenen politischen Parteien in Verbindung gebracht. Zu denken ist etwa an die Steuergerechtigkeitsinitiative der SP oder die Durchsetzungsinitiative der SVP. Dadurch entsteht der Eindruck, dass parlamentarische Gruppierungen das Instrument der Volksinitiative für ihre eigenen Zwecke nutzen, obwohl ihnen verschiedene Instrumente wie etwa die Motion oder das Postulat zur Verfügung stehen, um ihre Anliegen direkt im Parlament einzubringen. Diese werden von den Parlamentarier:innen auch rege genutzt. Nichtsdestotrotz fällt es ihnen nicht immer leicht, ihre Anliegen im Parlament durchzubringen und eine Änderung der Rechtslage herbeizuführen. Dies zeigt sich nicht zuletzt an den insgesamt niedrigen Erfolgsquoten der parlamentarischen Instrumente. Zwischen 1994 und 2014 wurden über 7'000 Motionen und über 3'000 Postulate eingereicht, deren Erfolgsquote bei nur 18 (Motionen) bzw. 43 (Postulate) Prozent liegt (Brüschweiler & Vatter 2018).

Die Volksinitiative als valable Alternative zu den parlamentarischen Instrumenten

Seit ihrer Einführung wurden 493 eidgenössische Volksinitiativen lanciert (Stand Mitte März 2022). Von den 348 zustande gekommenen Initiativen wurden 105 zurückgezogen und 227 Volk und Ständen zur Abstimmung unterbreitet – davon schafften es jedoch nur 25 über die Hürde des doppelten Mehrs. Die Wirkung einer Volksinitiative beschränkt sich allerdings nicht nur auf ihren Erfolg an der Urne. Mit ihr können vielmehr auch weitere, ganz unterschiedliche Ziele verfolgt werden, wie zum Beispiel:

  • der indirekte Erfolg einer Volksinitiative (Berücksichtigung in Teilbereichen der Gesetzgebung; Gegenvorschläge);
  • das Einführen als extrem empfundener Themen in die öffentliche Diskussion und das Anstossen neuer politischer Tendenzen;
  • das Verhindern von Protesten in der Bevölkerung;
  • das allgemeine Einwirken auf die politische Agenda (Agenda-Setting) sowie
  • die Steigerung des Bekanntheitsgrades einer Gruppierung und der damit verbundenen Mobilisierung von Mitgliedern (z. B. Imagepflege der Parteien).

Seit Einführung der Proporzwahl für die Nationalratswahlen 1919 verfügt keine Partei mehr über eine absolute Mehrheit an Sitzen im National- und Ständerat. Anstatt einer institutionalisierten kennt die Schweiz eine fallweise, von den jeweiligen Geschäften abhängige Opposition. Die Volksinitiative kann folglich auch für individuelle Parlamentsmitglieder ein Mittel der direkten politischen Einflussnahme sein, wenn sie mit den ihnen zu Gebote stehenden parlamentarischen Instrumenten nicht durchdringen.

Die Rolle der Parlamentsmitglieder im Initiativprozess

Die Mitglieder der Bundesversammlung können selbst Volksinitiativen lancieren. Das Parlament hat zwar keinen Einfluss auf den Wortlaut einer eingereichten Initiative, allerdings entscheidet es über deren Gültigkeit, gibt eine Empfehlung auf Annahme oder Ablehnung derselben ab und kann einen direkten oder indirekten Gegenentwurf beschliessen. Aus dieser Perspektive kann es für ein Initiativkomitee einen Mehrwert bringen, eines seiner Mitglieder im Parlament zu wissen. Gemäss unserer Untersuchung von 346 Initiativkomitees der Jahre 1973 bis 2019 sind Parlamentsmitglieder in Initiativkomitees sogar eher Normal- als Spezialfall.

  • In beinahe 2 von 3 der insgesamt 346 untersuchten Initiativkomitees gab es mindestens ein aktives Parlamentsmitglied.
  • Zu keinem Zeitpunkt kamen weniger als 30 Prozent der Initiativkomitees gänzlich ohne aktive Parlamentsmitglieder aus.
  • Jeweils zwischen 9 und 57 Prozent der Mitglieder der Bundesversammlung waren für mindestens eine Initiative tätig.
  • Ein Parlamentsmitglied kann mehreren Komitees angehören – eine aktive Parlamentarierin sass zwischen Juni und September 1998 gleichzeitig in zehn Initiativkomitees.

Es fällt auf, dass Volksinitiativen mit aktiven Parlamentsmitgliedern in ihren Komitees häufiger zustande kommen als Initiativen mit Komitees ohne Parlamentsmitglieder. Vermutungsweise bedarf der komplexe Prozess bis zur Einreichung einer Volksinitiative einer gewissen Expertise, zu der Parlamentsmitglieder wesentlich beitragen können.

  • Zwischen 1973 und 2019 scheiterten 23 % der Volksinitiativen mit aktiven Parlamentsmitgliedern in ihren Komitees bereits in der Phase der Unterschriftensammlung.
  • Im gleichen Zeitraum schafften es 64 % der Volksinitiativen ohne Parlamentsmitglieder in ihren Komitees nicht über die Hürde der Unterschriftensammlung.

Die individuellen Mitglieder von Initiativkomitees repräsentieren die Gruppierungen, die «hinter der Volksinitiative stehen». Dabei sind etablierte Akteur:innen von zentraler Bedeutung, da sie aufgrund ihrer Ressourcen, Erfahrungen und Verbindungen eher in der Lage sind, Volksinitiativen erfolgreich an die Urne zu bringen.

  • Hinter weniger als zehn Prozent der Begehren, die zustande kamen und anschliessend zur Abstimmung vorgelegt wurden, stehen politisch aussenstehende Gruppierungen.
  • Der Anteil Parteiinitiativen jener Begehren beträgt hingegen rund 35 Prozent.
Wer dominiert die Initiativwelt?

Gruppierungen, die ausserhalb der institutionalisierten Entscheidungsstrukturen stehen und nicht über eine dauerhafte Organisationsstruktur verfügen, haben die Initiativagenda zu keinem Zeitpunkt dominiert. Und selbst unter den Parteien sind es nicht zwingend Kleinstgruppierungen, die Volksbegehren lancieren. Im Gegenteil sind etwa die Polparteien, in besonderem Masse die SP, äusserst initiativfreudig, obwohl sie auf die herkömmlichen politischen Instrumente und Einflussmöglichkeiten zurückgreifen können.

Die politromantische Vorstellung, wonach in der Schweiz «das Volk» Verfassungsänderungen initiiert, ist oftmals unzutreffend. Die Volksinitiative erscheint nicht nur als Instrument der ausserparlamentarischen Opposition, sondern vor allem auch als Instrument der parlamentarischen Opposition, womit ihr Bild als antiparlamentarisches Instrument zumindest teilweise relativiert wird.


Hinweis: Dieser Beitrag ist die schriftliche Kurzfassung des Buchkapitels «Die Volksinitiative: Nur ein weiteres parlamentarisches Instrument?», in: Schaub Hans-Peter/Bühlmann Marc (Hrsg.). Direkte Demokratie in der Schweiz, Neue Erkenntnisse aus der Abstimmungsforschung. Zürich: Seismo. S. 23 – 42.

Bild: wikimedia commons