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Die Unterschriftensammlung: Ein geeigneter Relevanzfilter?

Hans-Peter Schaub, Karin Frick
23rd September 2022

Die Unterschriftensammlung bestimmt, welche Initiativen und Referenden vors Stimmvolk kommen – sie soll die Spreu vom Weizen trennen. Dahinter steht die Vorstellung, dass für politisch gewichtige Anliegen mehr Unterschriften zusammenkommen als für irrelevante Forderungen. Doch stimmt das mit der politischen Wirklichkeit überein? Ein Blick auf die Abstimmungen der letzten 130 Jahre zeigt: Ja, aber nur für Volksinitiativen. Bei fakultativen Referenden lässt die Unterschriftensammlung hingegen keine Rückschlüsse auf die politische Relevanz des Anliegens zu.

Die Unterschriftensammlung spielt in der schweizerischen direkten Demokratie eine zentrale Rolle: Sie entscheidet darüber, welche Anliegen überhaupt dem Stimmvolk vorgelegt werden. Die Idee dahinter: Als Filter sollen die Unterschriftenhürden dafür sorgen, «dass nur relevante und gleichzeitig alle relevanten Anträge aus dem Volk der Volksabstimmung zugeführt werden» (Bisaz 2020, 505). Die Stimmbevölkerung soll sich also nur mit politisch gewichtigen Anliegen befassen müssen, der Rest soll dem Parlament überlassen bleiben. Gleichzeitig sollen die Hürden nicht zu hoch sein, sodass möglichst keine Anliegen daran hängen bleiben, die eigentlich wichtig wären.

Die Annahme: Unterschriftenhürden als Relevanz-Filter

Hinter dieser Regelung steht die Annahme, dass das Unterschriftensammeln für gewichtige, zugkräftige Anliegen leichter falle: Die Unterschriften sollten in umso grösserer Zahl und/oder in umso kürzerer Zeit zusammenkommen, je mehr Gewicht eine Forderung in der Stimmbevölkerung geniesst.

Ob es einen solchen Zusammenhang zwischen der Anzahl gesammelter Unterschriften bzw. dem Sammeltempo einerseits und der politischen Relevanz der Anliegen andererseits auch tatsächlich gibt, haben wir anhand aller Volksinitiativen und fakultativen Referenden untersucht, über die seit den 1890er Jahren abgestimmt worden ist. Denn es ist auch denkbar, dass der Erfolg in der Unterschriftensammlung von ganz anderen Faktoren abhängt als von der politischen Relevanz eines Anliegens – etwa von den Ressourcen seiner Urheber:innen.

Vier Kriterien für die politische Relevanz direktdemokratischer Anliegen

Die politische Relevanz haben wir an vier verschiedenen Faktoren festgemacht:

  • Erstens kann man argumentieren, dass (nur) all jene Initiativen und Referenden relevant seien, die in der Abstimmung eine Mehrheit erzielen, d.h. wenn die Initiative angenommen bzw. die mit dem Referendum bekämpfte Vorlage letztlich abgelehnt wird.
  • Ein feineres Kriterium misst die Relevanz am Stimmenanteil: Je höher der Anteil der Stimmenden, die in der Abstimmung im Sinn der Initiant:innen (Ja) bzw. der Referendumsführenden (Nein) stimmen, desto relevanter das Anliegen.
  • Unser drittes Kriterium ist die Stimmbeteiligung: Ist diese hoch, hat die aufgeworfene Frage offenbar einen Nerv der Zeit getroffen und wird in der Stimmbevölkerung als wichtig empfunden – unabhängig vom Ausgang der Abstimmung.
  • Unser vierter Indikator für die Relevanz eines Anliegens ist die Intensität der öffentlichen Debatte, die es auszulösen vermag: Unabhängig vom Abstimmungsresultat können Abstimmungen grosse inhaltliche Wirkung entfalten, wenn sie die Themenkonjunktur im öffentlichen Diskurs beeinflussen und langfristig neue politische Tendenzen und Themen mobilisieren. Konkret haben wir die Intensität der öffentlichen Debatte daran gemessen, wie viele Medienberichte zur jeweiligen Vorlage im Abstimmungskampf erschienen sind.
Ergebnisse: Unterschriftensammlung hängt nur bei Initiativen mit Relevanz zusammen

Bei Initiativen gibt die Unterschriftensammlung tatsächlich Anhaltspunkte zu Rückhalt und Resonanz eines Anliegens in der Stimmbevölkerung. Zwar holten Initiativen, für die viele Unterschriften zusammengekommen waren, ebenso selten eine Mehrheit wie solche mit weniger Unterzeichnenden; aber sie erzielten im Durchschnitt einen höheren Ja-Stimmenanteil, lockten mehr Stimmberechtigte an die Urne und stiessen intensivere mediale Debatten an.

Beim fakultativen Referendum hingegen trägt die Unterschriftensammlung – so, wie die Anforderungen heute ausgestaltet sind – nichts dazu bei, um zu erkennen, welche Parlamentsbeschlüsse in der breiten Bevölkerung besonders umstritten sind und/oder für besonderen Diskussionsbedarf sorgen. Von unseren vier Kriterien hängt einzig die Stimmbeteiligung mit der erzielten Unterschriftenzahl bei Referenden zusammen.

Tabelle 1: Übersicht über die Analyseergebnisse

   
Kriterium für Relevanz   
   
Abstimmungs-erfolg   
Erzielter Stimmenanteil Stimmbeteiligung Medienresonanz
Fak. Referenden: Unterschriftenzahl (0) (0) X 0
Volksinitiativen: Unterschriftenzahl 0 X X X
Volksinitiativen: Sammeltempo 0 (0) (0) X

Erläuterung: X: Es besteht ein Zusammenhang in die theoretisch erwartete Richtung, der robust auf dem 95-Prozent-Niveau signifikant ist. – (0): Je nach Ausgestaltung des statistischen Modells besteht ein signifikanter Zusammenhang, aber dieser erreicht nur das 90-Prozent-Niveau und/oder ist nicht robust. – 0: Es besteht kein signifikanter Zusammenhang.

Eine plausible Erklärung für diese Unterschiede zwischen Initiative und Referendum sind die unterschiedlichen Anforderungen an die Ressourcen und die Organisationsfähigkeit der Unterschriftensammelnden: Für Initiativen braucht es zwar mehr Unterschriften, es steht aber auch deutlich mehr Zeit zur Verfügung (100'000 Unterschriften in 18 Monaten, d.h. im Schnitt 182 Unterschriften pro Tag). Für ein Referendum müssen hingegen in bloss 100 Tagen 50'000 Unterschriften gesammelt werden (500 Unterschriften pro Tag). Deshalb hängt die Unterschriftensammlung bei Referenden wohl stärker von den Ressourcen der Urheber:innen und weniger stark vom Inhalt des Anliegens und dessen Anklang in der Bevölkerung ab.

Schlussfolgerungen für die Diskussion um die Unterschriftenhürden

Weil wir nur jene Anliegen untersucht haben, die zur Abstimmung gelangt sind, und somit der Vergleich zu den im Sammelstadium gescheiterten Anliegen fehlt, ist keine direkte Aussage dazu möglich, wie gut die Unterschriftenhürden ihre staatsrechtliche Hauptfunktion erfüllen – die Herausfilterung jener und nur jener Vorlagen, die relevant sind. Dennoch lassen sich für die laufende Diskussion um die optimale Ausgestaltung der Unterschriftenhürden drei Hinweise ableiten:

  • Erstens besteht bei den Hürden für die fakultativen Referenden offenbar eher Handlungsbedarf als bei jenen für Volksinitiativen. Denn während bei Initiativen der Erfolg in der Unterschriftensammlung tatsächlich mit der späteren Relevanz des Anliegens zusammenhängt, tut er das bei den Referenden kaum. Dass bisher vor allem über mögliche Reformen bei den Initiativhürden diskutiert wird, wäre insofern zu hinterfragen.
  • Zweitens wäre eine Verschärfung des geforderten Sammeltempos (mehr Unterschriften in gleicher oder kürzerer Zeit) wohl besonders riskant: Dadurch würden womöglich nicht primär jene Anliegen aussortiert, die sich für die politische Auseinandersetzung als weniger relevant erweisen, sondern vielmehr jene Anliegen, deren Urheber:innen über weniger Ressourcen verfügen. Wenn überhaupt, wären wohl eher grosszügigere Sammelfristen bei allenfalls erhöhten Unterschriftenzahlen das Mittel der Wahl.
  • Drittens zeigen unsere differenzierten Ergebnisse, dass das Verhältnis zwischen der Unterschriftensammlung und der politischen Relevanz eines Anliegens kein simples ist, sondern sich je nach Rechtsform, Kontext und genauer Ausgestaltung der Hürden unterscheidet. Allzu mechanistische Vorstellungen, dass sich die Filterwirkung der Unterschriftenhürden quasi mit einem einfachen Handgriff zielgenau justieren lasse, sind insofern wohl verfehlt.

Daten und Methoden
Unsere Auswertungen beruhen grundsätzlich auf allen Volksabstimmungen seit den 1890er Jahren, soweit die nötigen Daten vorhanden waren. Eine Ausnahme sind die Analysen zur Medienresonanz, für die wir erst ab dem Jahr 2013 über Daten verfügen.

Bei allen Auswertungen verwendeten wir verschiedene Kontrollvariablen. Dazu zählten unter anderem die Anzahl Stimm- und Unterschriftsberechtigter im betreffenden Jahr, der betroffene Politikbereich oder der Zustimmungsgrad und die Umstrittenheit der Vorlagen im Parlament.

Den Zusammenhang zum Abstimmungserfolg (ja/nein) prüften wir mittels Logit-Regressionen, für die drei anderen Relevanzkriterien (siehe Haupttext) führten wir OLS-Regressionen durch.

Für nähere Ausführungen zu Daten, Operationalisierung und Methodik siehe Schaub/Frick (2022: 55–57).


Referenz:

  • Bisaz, Corsin (2020): Direktdemokratische Instrumente als «Anträge aus dem Volk an das Volk»: Eine Systematik des direktdemokratischen Verfahrensrechts in der Schweiz. Zürich/St.Gallen: Dike.

 

Hinweis: Dieser Beitrag ist die schriftliche Kurzfassung des Buchkapitels «Die Unterschriftensammlung: Ein geeigneter Prüfstein für die Relevanz von Initiativen und Referenden?», in: Schaub Hans-Peter/Bühlmann Marc (Hrsg.). Direkte Demokratie in der Schweiz, Neue Erkenntnisse aus der Abstimmungsforschung. Zürich: Seismo. S. 43 – 68.

Bild: unsplash.com