Kandidatenstatus für die Ukraine: mehr als eine symbolische Geste

Vie­le Beob­ach­ter bezeich­ne­ten die Ent­schei­dung, der Ukrai­ne den Sta­tus eines EU-Kan­di­da­ten zu ver­lei­hen, als sym­bo­lisch und nur inso­fern von Bedeu­tung, als sie die Unter­stüt­zung der EU für die Ukrai­ne bekräf­tigt. Ande­re stell­ten fest, dass die­se Ent­schei­dung über die­sen sym­bo­li­schen Wert hin­aus kei­ne unmit­tel­ba­ren Fol­gen für das Land haben werde.

Die Ankün­di­gung, der Ukrai­ne Kan­di­da­ten­sta­tus zu ver­lei­hen, war in der Tat sehr sym­bo­lisch für die Ukrai­ne. Aber das ist nur ein Teil der Geschich­te. Die Annah­me, dass der Sta­tus eines Bei­tritts­kan­di­da­ten für die EU nur einen rein sym­bo­li­schen Wert hat, ist ver­fehlt, lässt sich aber teil­wei­se durch den Ton der euro­päi­schen Erklä­run­gen zur Erwei­te­rung und teil­wei­se durch das unge­wöhn­lich hohe Tem­po des ursprüng­li­chen Bewer­bungs­pro­zes­ses erklä­ren. Doch in Wirk­lich­keit hat es für ein Land erheb­li­che finan­zi­el­le, stra­te­gi­sche und logis­ti­sche Aus­wir­kun­gen, wenn es von der EU in den Sta­tus eines Kan­di­da­ten­staa­tes erho­ben wird.

Die symbolische Interpretation

Auf rhe­to­ri­scher Ebe­ne haben sich die Erklä­run­gen der EU zur Erwei­te­rung in den letz­ten Jah­ren zu einem zuneh­mend iden­ti­täts­stif­ten­den und auf euro­päi­schen Wer­ten basie­ren­den Dis­kurs ent­wi­ckelt, indem der Bei­tritt als Ver­wirk­li­chung der euro­päi­schen Idea­le und als Zusam­men­füh­rung der euro­päi­schen Völ­ker dar­ge­stellt wird. Die jüngs­ten Äus­se­run­gen von EU-Beam­ten über den Bei­tritts­an­trag der Ukrai­ne beton­ten, dass die Ukrai­ne zur euro­päi­schen Fami­lie gehört, dass sie für die euro­päi­schen Wer­te ein­tritt und uns an die Bedeu­tung der EU als Frie­dens­pro­jekt erinnert.

Die Prä­si­den­tin der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on, Ursu­la von der Ley­en, sag­te bei­spiels­wei­se, dass “die Ukrai­ner bereit sind, für die euro­päi­sche Per­spek­ti­ve zu ster­ben” und “wir wol­len, dass sie mit uns den euro­päi­schen Traum leben”. Dies sind star­ke und ein­dring­li­che Wor­te der Unter­stüt­zung für die Ukrai­ne, aber sie ver­pflich­ten die EU nicht zur tat­säch­li­chen Inte­gra­ti­on der Ukraine.

Auf­bau­end auf die­sen auf euro­päi­schen Wer­ten basie­ren­den Iden­ti­täts­dis­kur­sen wur­de der Pro­zess, der Ukrai­ne den Kan­di­da­ten­sta­tus zu ver­lei­hen, in etwas mehr als drei Mona­ten abge­schlos­sen, was im Ver­gleich zu dem Pro­zess, den die ande­ren der­zei­ti­gen Kan­di­da­ten­staa­ten durch­lau­fen haben, extrem schnell und mutig ist. Bei den Bal­kan­staa­ten dau­er­te es von zwei Jah­ren (Ser­bi­en, Nord­ma­ze­do­ni­en und Mon­te­ne­gro) bis zu über fünf Jah­ren (Alba­ni­en) und meh­re­ren Run­den neu­er Fra­gen, bis die Emp­feh­lung der Kom­mis­si­on für den Kan­di­da­ten­sta­tus vorlag.

Die­ser lan­ge Man­gel an Enga­ge­ment für die Bal­kan­län­der wur­de mit einer ver­dienst­ba­sier­ten Argu­men­ta­ti­on erklärt: Die­se Län­der waren ein­fach noch nicht bereit, Ver­hand­lun­gen mit der EU auf­zu­neh­men. Die gro­ße Beschleu­ni­gung des ursprüng­li­chen Bewer­bungs­pro­zes­ses durch die Ukrai­ne lässt die Emp­feh­lung im Ver­gleich dazu sym­bo­lisch erschei­nen, da die Ukrai­ne offen­sicht­lich in Bezug auf inter­ne Refor­men und Kon­ver­genz mit den EU-Stan­dards nicht wei­ter fort­ge­schrit­ten ist als vor sechs Mona­ten, als noch kei­ne Bei­tritts­ge­sprä­che auf dem Tisch lagen.

Doch da die euro­päi­sche Iden­ti­tät und die euro­päi­schen Wer­te auf dem Spiel ste­hen, muss die EU ihr Ver­spre­chen ein­lö­sen, ihre eige­nen Idea­le zu schüt­zen, indem sie die Ukrai­ne in die­sen Kampf ein­be­zieht, wohl wis­send, dass die Schnel­lig­keit, mit der die Emp­feh­lung zur Kan­di­da­tur erteilt wur­de, nicht gleich­be­deu­tend mit einer Beschleu­ni­gung des eigent­li­chen Bei­tritts­pro­zes­ses ist. Wie­der ein­mal han­delt es sich dabei nur um Absich­ten, ohne ein wirk­li­ches Enga­ge­ment für einen kurz­fris­ti­gen Bei­tritt der Ukraine.

Mehr finanzielle und strukturelle Hilfe

Ohne jedoch die grund­le­gen­de Bedeu­tung sym­bo­li­scher Erklä­run­gen in der Diplo­ma­tie zu schmä­lern, wäre es ein Feh­ler, die Bedeu­tung die­ser Ankün­di­gung nur auf den sym­bo­li­schen Aspekt zu beschrän­ken. Da die Ukrai­ne den Kan­di­da­ten­sta­tus erhal­ten hat, wird sich für das Land in Bezug auf finan­zi­el­le und insti­tu­tio­nel­le Unter­stüt­zung tat­säch­lich vie­les ändern.

Zunächst ein­mal wird der Ukrai­ne eine erheb­li­che Erhö­hung der jähr­li­chen EU-Finanz­trans­fers garan­tiert. Seit Sep­tem­ber 2017 bil­det das Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men der Ukrai­ne die Grund­la­ge für die bila­te­ra­len Bezie­hun­gen des Lan­des mit der EU. Die­ses bie­tet sowohl finan­zi­el­le als auch insti­tu­tio­nel­le Unter­stüt­zung bei der Moder­ni­sie­rung und Reform der Rechts- und Regu­lie­rungs­struk­tur der Ukrai­ne in den vom Besitz­stand abge­deck­ten Bereichen.

Im Rah­men des Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens erhielt die Ukrai­ne für 2021 Hil­fen in Höhe von 141 Mil­lio­nen Euro. Zum Ver­gleich: Im sel­ben Jahr erhielt der weit­aus bevöl­ke­rungs­är­me­re Kan­di­da­ten­staat Ser­bi­en etwas mehr als 122 Mil­lio­nen Euro über das Instru­ment für Her­an­füh­rungs­hil­fe (IPA). Wenn die Ukrai­ne pro­por­tio­nal zu ihrer Bevöl­ke­rung ein ähn­li­ches Finan­zie­rungs­ni­veau erhal­ten soll­te, wür­de dies etwa dem Sechs­fa­chen der Hil­fe pro Jahr entsprechen.

Zwei­tens wird die Ukrai­ne nun von einer enge­ren inter­in­sti­tu­tio­nel­len und grenz­über­schrei­ten­den Zusam­men­ar­beit pro­fi­tie­ren, um die fünf Haupt­zie­le und The­men­fens­ter des IPA (Rechts­staat­lich­keit, ver­ant­wor­tungs­vol­le Staats­füh­rung, Nach­hal­tig­keit, Wett­be­werbs­fä­hig­keit und regio­na­le Zusam­men­ar­beit) gezielt anzu­ge­hen. Die­se Zie­le stel­len die wich­tigs­ten Ziel­vor­ga­ben für den Kon­di­tio­na­li­täts­pro­zess dar, der dar­auf abzielt, die Kon­ver­genz der Kan­di­da­ten­staa­ten mit den EU-Stan­dards zu gewährleisten.

Mit ande­ren Wor­ten: Die Kan­di­da­ten­län­der kön­nen sich auf die Bera­tung und Struk­tur der EU-Insti­tu­tio­nen ver­las­sen, um Berei­che zu iden­ti­fi­zie­ren, die vor dem Bei­tritt ver­bes­sert wer­den müs­sen, und um Fort­schrit­te bei der Umset­zung der Kri­te­ri­en zu erzie­len. Auf die­se Wei­se kann ein effek­ti­ve­res Reform­pro­gramm ent­wor­fen und umge­setzt wer­den, was zu einer ech­ten euro­päi­schen Per­spek­ti­ve führt.

Nichts ändert sich, aber alles ist anders

Die schnel­le Ent­schei­dung, der Ukrai­ne den Kan­di­da­ten­sta­tus zu gewäh­ren, stellt eine Ver­än­de­rung in der Art und Wei­se dar, wie die EU den Erwei­te­rungs­pro­zess seit dem Fall der Ber­li­ner Mau­er durch­ge­führt hat. Der Kon­flikt in der Ukrai­ne ist nicht der ers­te Krieg, der an den Gren­zen der EU tobt. Wäh­rend der gesam­ten 1990er Jah­re befan­den sich auch die Staa­ten des west­li­chen Bal­kans im Krieg und baten die EU um Hil­fe und Soli­da­ri­tät. Dies ver­an­lass­te die EU jedoch nicht dazu, beschleu­nig­te Maß­nah­men zur Inte­gra­ti­on die­ser Län­der zu ergrei­fen. Mehr als 20 Jah­re spä­ter sind die­se Län­der immer noch nicht Teil der EU und ihr Bei­tritts­pro­zess kommt nur lang­sam voran.

Im Fall der Ukrai­ne ent­schied sich die EU, die Din­ge anders anzu­ge­hen. Indem sie der Ukrai­ne zu Beginn der Kri­se den Kan­di­da­ten­sta­tus gewähr­ten, setz­ten die euro­päi­schen Staats- und Regie­rungs­chefs ein Signal mit rea­len und weit­rei­chen­den Aus­wir­kun­gen. Es war kein Ver­spre­chen für einen beschleu­nig­ten Bei­tritt. Aber es ist eine sym­bo­li­sche Ges­te zu einem Zeit­punkt, an dem die Ukrai­ne dar­auf ange­wie­sen ist, dass Euro­pa in ihrem Namen Stel­lung bezieht und ihr dar­über hin­aus ech­te und nach­hal­ti­ge finan­zi­el­le und struk­tu­rel­le Unter­stüt­zung bei ihrem Stre­ben nach Mit­glied­schaft gewährt. Dies ist das prä­zi­se Enga­ge­ment, das die Ukrai­ne in die­sem Moment braucht.


Quel­le:

Bélan­ger, Marie-Eve (2022). What pro­spect is the­re of Ukrai­ne joi­ning the EU? LSE Euro­pe Blog Series.

Bild: unsplash.com

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