Neutral auf der Seite der Völkerrechts: Ungebrochene Unterstützung für die Ukraine in der Schweizer Bevölkerung

Auf den Tag genau vor vier Mona­ten mar­schier­te Russ­land in die Ukrai­ne ein. Wie beur­teilt die Schwei­zer Bevöl­ke­rung den Ukrai­ne-Krieg, die Reak­ti­on des Bun­des­ra­tes dar­auf, und die Neu­tra­li­tät ganz gene­rell? In der Schweiz hat das Bedro­hungs­emp­fin­den im Ver­gleich zum Kriegs­aus­bruch leicht abge­nom­men, die Situa­ti­on wird aber immer noch als bedroh­lich ein­ge­schätzt. Die Bereit­schaft, die Ukrai­ne zu unter­stüt­zen, ist noch immer unge­min­dert. Auch das Kon­zept der «koope­ra­ti­ven Neu­tra­li­tät» fin­det in der Bevöl­ke­rung wei­ter­hin gros­se Unter­stüt­zung, wie unse­re Ana­ly­sen zeigen.

In der Schweiz ist die Besorg­nis über eine mög­li­che wei­te­re Eska­la­ti­on des Ukrai­ne-Krie­ges hoch. Nach vier Mona­ten Kriegs­dau­er äus­sert eine gros­se Mehr­heit der Befrag­ten die Sor­ge, dass Russ­land Che­mie­waf­fen (81%) oder Atom­waf­fen (73%) ein­set­zen könn­te. Etwa zwei von drei Befrag­ten (63%) fürch­ten sich, dass der Kon­flikt zu einem drit­ten Welt­krieg füh­ren könn­te, und fast jeder zwei­te (48%) zeigt sich besorgt vor der Aus­wei­tung des Kon­flik­tes zu einem grös­se­ren Krieg, von dem auch die Schweiz betrof­fen sein könn­te (vgl. Abbil­dung 1).

Abbildung 1: Besorgnis über konkrete Eskalationszenarien

Auf­fäl­lig ist dabei, dass die Besorg­nis trotz die­ser hohen Zah­len im Ver­gleich zu Mit­te März 2022 zum Teil deut­lich zurück­ge­gan­gen ist. Dies lässt sich jedoch nicht auf eine Abnah­me im wahr­ge­nom­me­nen Eska­la­ti­ons­ri­si­ko zurück­füh­ren (vgl. Abbil­dung 2). Im Gegen­teil: die Wahr­schein­lich­kei­ten, mit wel­cher die ver­schie­de­nen Sze­na­ri­en ein­ge­schätzt wer­den, sind erstaun­lich sta­bil und bewe­gen sich zwi­schen 22% (Aus­wei­tung des Krie­ges auch auf die Schweiz) und 63% (Ein­satz von Che­mie­waf­fen). Dies lässt auf einen gewis­sen Gewöh­nungs­ef­fekt schlies­sen. Kon­fron­tiert mit täg­li­chen Schre­ckens­bil­dern vom Krieg ist den Befrag­ten die Bedro­hung zwar wei­ter­hin bewusst, sie macht ihnen aber weni­ger Angst noch als vor 3 Monaten.

Abbildung 2: Eingeschätzte Wahrscheinlichkeit mit der konkrete Eskalationszenarien eintreffen könnten

Gleich­zei­tig ist den Befrag­ten in den letz­ten Wochen bewuss­ter gewor­den, dass der Ukrai­ne-Krieg auch Aus­wir­kun­gen in der Schweiz hat (vgl. Abbil­dung 3). Im Ver­gleich zu unse­rer ers­ten Befra­gung im März ist ein deut­li­cher Trend hin zu stär­ke­ren nega­ti­ven finan­zi­el­len Aus­wir­kun­gen auf die Befrag­ten per­sön­lich zu erken­nen (+14 Prozentpunkte).

Abbildung 3: Einschätzung der persönlichen finanziellen Auswirkungen

Trotz finanzieller Sorgen weiterhin hohe Solidarität mit der Ukraine

Wie stark sind die Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer ange­sichts der Bedro­hungs­la­ge und der wirt­schaft­li­chen Kon­se­quen­zen des Krie­ges bereit, poli­ti­sche Mass­nah­men gegen Russ­land zu unter­stüt­zen? In die­ser Fra­ge wird stark zwi­schen den ver­schie­de­nen Arten von Mass­nah­men unter­schie­den (vgl. Abbil­dung 4). Mili­tä­ri­sche Mass­nah­men wie die Ent­sen­dung eige­ner Trup­pen (W2 = 7 %), Luft- bzw. Cyber­an­grif­fe (W2 = 16 % bzw. 33 %) oder auch Waf­fen­lie­fe­run­gen (W2 = 36 %) wer­den sehr kri­tisch beur­teilt. Dage­gen fin­den wirt­schaft­li­che Mass­nah­men wei­ter­hin eine hohe Unter­stüt­zung. Wei­te­re Wirt­schafts­sank­tio­nen gegen Russ­land, Import­stopps von rus­si­schem Öl und Gas (72 % bzw. 70 %), und sogar die Beschlag­nah­mung von rus­si­schen Olig­ar­chen­ver­mö­gen (68 %) wer­den jeweils von einer gros­sen Mehr­heit unter­stützt (vgl. Abb. 4).

Abbildung 4: Zustimmung zu weiteren Massnahmen, als Reaktion auf die Situation in Russland und der Ukraine

Eine Mehr­heit ist also wei­ter­hin bereit, die Wirt­schafts­sank­tio­nen mit­zu­tra­gen, obwohl dies zu per­sön­li­chen finan­zi­el­len Ein­bus­sen füh­ren könn­te (vgl. Abbil­dung 5), und wür­de sogar auch dann einer Ver­schär­fung der Sank­tio­nen zustim­men, wenn dies Öl- und Gas­knapp­heit (56 %), einen signi­fi­kan­ten Anstieg der Ener­gie­preis (54 %) oder der all­ge­mei­nen Lebens­hal­tungs­kos­ten (52 %) zur Fol­ge hätte.

Abbildung 5: Unterstützung von Verschärfung der Sanktionen trotz Konsequenzen

«Kooperative» oder «Integrale» Neutralität?

Inter­es­sant sind die­se Ergeb­nis­se auch, weil sie ein Schlag­licht auf die lau­fen­de Dis­kus­si­on über die Aus­ge­stal­tung der Neu­tra­li­tät wer­fen. Am WEF 2022 stell­te Bun­des­rat Cas­sis das Kon­zept der «koope­ra­ti­ven Neu­tra­li­tät» vor, wel­ches ein akti­ves Ein­grei­fen zur Siche­rung zen­tra­ler Wer­te wie den Men­schen­rech­ten oder grund­le­gen­den Prin­zi­pi­en wie dem Selbst­be­stim­mungs­recht von Staa­ten pro­pa­giert, ohne durch ein mili­tä­ri­sches Ein­grei­fen die Ver­pflich­tun­gen eines neu­tra­len Staa­tes zu ver­let­zen. Dage­gen ist eine Grup­pe um Chris­toph Blo­cher dabei, eine Initia­ti­ve zu lan­cie­ren, wel­che eine Defi­ni­ti­on der «inte­gra­len Neu­tra­li­tät» in der Ver­fas­sung ver­an­kern soll, bei der die Schweiz im Kriegs­fall weder mili­tä­risch noch mit Sank­tio­nen Par­tei ergrei­fen dürfte.

Die in Abbil­dung 6 dar­ge­stell­ten Ergeb­nis­se legen nahe, dass das Kon­zept der «koope­ra­ti­ven Neu­tra­li­tät» in der Schweiz auf gros­se Unter­stüt­zung stösst. Die Befrag­ten wol­len kein mili­tä­ri­sches Ein­grei­fen jed­we­der Art, dafür wirt­schaft­li­che Mass­nah­men und Sank­tio­nen, die sich gegen das völ­ker­recht­wid­ri­ge Ver­hal­ten Russ­lands rich­ten. Fast zwei Drit­tel der Befrag­ten (64%) stim­men in der Juni-Befra­gung auch der Aus­sa­ge zu, dass sich die Schweiz klar zur Ukrai­ne beken­nen und die Sank­tio­nen der EU gegen Russ­land voll­um­fäng­lich umset­zen soll­te. Neu­tra­li­tät und wirt­schaft­li­che Sank­tio­nen ste­hen für die Mehr­heit der Befrag­ten also nicht im Widerspruch.

Abbildung 6: Haltung der Schweiz gegenüber der Kriegsparteien

Gleich­zei­tig wird die Neu­tra­li­tät an sich von der Bevöl­ke­rung sehr geschätzt. 59% geben an, dass sich die Schweiz gegen­über Russ­land und der Ukrai­ne neu­tral ver­hal­ten soll­te und eine gros­se Mehr­heit (78 %) fin­det, dass die Schweiz in die­sem Kon­flikt eine Ver­mitt­ler­rol­le ein­neh­men soll­te. Eine NATO-Mit­glied­schaft lehnt im Juni 2022 die Hälf­te der Befrag­ten ab. Die­se Ableh­nung ist zwar seit März gesun­ken, ist jedoch immer­noch mehr als dop­pelt so hoch wie die Zustim­mung  zu einem NATO-Bei­tritt der Schweiz (23%) (vgl. Abbil­dung 7). Eine enge­re Koope­ra­ti­on der Schweizt mit der NATO fin­det dage­gen mit 55% der Befrag­ten kla­re Zustimmung.

Zusam­men­ge­nom­men zeigt sich ein Bild, bei dem die Öffent­lich­keit die Neu­tra­li­tät der Schweiz wei­ter­hin schätzt, eine gewis­se Koope­ra­ti­on mit Staa­ten, die die Grund­wer­te der Schweiz tei­len und sich für die regel­ba­sier­te und mul­ti­la­te­ra­li­sier­te Welt­ord­nung ein­set­zen, jedoch befürwortet.

Abbildung 7: Die Haltung der Schweiz zur NATO

Inter­es­sant sind im Kon­text der Dis­kus­si­on über die Defi­ni­ti­on der Neu­tra­li­tät auch die Unter­schie­de zwi­schen den poli­ti­schen Lagern. Wäh­rend eine über­par­tei­li­che Mehr­heit die Sank­tio­nen und einer Ver­mitt­ler­rol­le für die Schweiz befür­wor­tet, gibt es im Bezug auf  grund­sätz­li­che Fra­gen der Neu­tra­li­tät und den NATO-Bei­tritt einen poli­ti­sche Gra­ben (vg. Abbil­dung 5). Hier gewich­ten Befrag­te des rech­ten Spek­trums und aus der Mit­te die Neu­tra­li­tät der Schweiz klar höher als Befrag­te des lin­ken Spek­trums. Die­ser Gra­ben hat sich in den letz­ten Mona­ten leicht ver­tieft. In der Mit­te hat sich seit März die stärks­te Ver­än­de­rung gezeigt. Mit +11 Pro­zent­punk­ten ist der Anteil der­je­ni­gen, die einen Bei­tritt zur NATO eher befür­wor­ten (Wel­le 1 = 12 %; Wel­le 2 = 23 %) signi­fi­kant angestiegen.

Ins­ge­samt zeigt sich in den Ergeb­nis­sen, dass die aktu­el­le Ukrai­ne-Poli­tik des Bun­des­ra­tes von einer gros­sen Mehr­heit der Bevöl­ke­rung befür­wor­tet wird. Wirt­schaft­li­che Mass­nah­men gegen Russ­land wer­den befür­wor­tet, mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung jed­we­der Art dage­gen abge­lehnt. Die Daten zeigt sich aber auch, dass die Mei­nun­gen dyna­misch sind und über die Zeit ver­än­dern. Die anste­hen­den Debat­ten über die Neu­tra­li­tät ver­spre­chen also auch in Bezug auf die öffent­li­che Mei­nung inten­siv und span­nend zu werden.

Daten­er­he­bung und Analyse
Es wur­den zwei Online-Befra­gun­gen über das LINK Panel in allen Sprach­re­gio­nen der Schweiz durchgeführt.

Grund­ge­samt­hei­ten: 1’206 (Wel­le 1) bzw. 1’216 (Wel­le 2) wohn­haf­te Per­so­nen in der Schweiz im Alter von 15–79 Jah­ren, die reprä­sen­ta­tiv für die dor­ti­ge Wohn­be­völ­ke­rung sind, min­des­tens ein­mal pro Woche zu pri­va­ten Zwe­cken das Inter­net nut­zen und den Fra­ge­bo­gen in den Lan­des­spra­chen aus­fül­len können.

Stu­di­en­zeit­raum Wel­le 1: 17. bis 21. März 2022, Wel­le 2: 03. bis 10. Juni 2022.


Quel­len­an­ga­be:

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