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Neutral auf der Seite der Völkerrechts: Ungebrochene Unterstützung für die Ukraine in der Schweizer Bevölkerung

Sabine Frenzel, Stefanie Walter
24th Juni 2022

Auf den Tag genau vor vier Monaten marschierte Russland in die Ukraine ein. Wie beurteilt die Schweizer Bevölkerung den Ukraine-Krieg, die Reaktion des Bundesrates darauf, und die Neutralität ganz generell? In der Schweiz hat das Bedrohungsempfinden im Vergleich zum Kriegsausbruch leicht abgenommen, die Situation wird aber immer noch als bedrohlich eingeschätzt. Die Bereitschaft, die Ukraine zu unterstützen, ist noch immer ungemindert. Auch das Konzept der «kooperativen Neutralität» findet in der Bevölkerung weiterhin grosse Unterstützung, wie unsere Analysen zeigen.

In der Schweiz ist die Besorgnis über eine mögliche weitere Eskalation des Ukraine-Krieges hoch. Nach vier Monaten Kriegsdauer äussert eine grosse Mehrheit der Befragten die Sorge, dass Russland Chemiewaffen (81%) oder Atomwaffen (73%) einsetzen könnte. Etwa zwei von drei Befragten (63%) fürchten sich, dass der Konflikt zu einem dritten Weltkrieg führen könnte, und fast jeder zweite (48%) zeigt sich besorgt vor der Ausweitung des Konfliktes zu einem grösseren Krieg, von dem auch die Schweiz betroffen sein könnte (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: Besorgnis über konkrete Eskalationszenarien

Auffällig ist dabei, dass die Besorgnis trotz dieser hohen Zahlen im Vergleich zu Mitte März 2022 zum Teil deutlich zurückgegangen ist. Dies lässt sich jedoch nicht auf eine Abnahme im wahrgenommenen Eskalationsrisiko zurückführen (vgl. Abbildung 2). Im Gegenteil: die Wahrscheinlichkeiten, mit welcher die verschiedenen Szenarien eingeschätzt werden, sind erstaunlich stabil und bewegen sich zwischen 22% (Ausweitung des Krieges auch auf die Schweiz) und 63% (Einsatz von Chemiewaffen). Dies lässt auf einen gewissen Gewöhnungseffekt schliessen. Konfrontiert mit täglichen Schreckensbildern vom Krieg ist den Befragten die Bedrohung zwar weiterhin bewusst, sie macht ihnen aber weniger Angst noch als vor 3 Monaten.

Abbildung 2: Eingeschätzte Wahrscheinlichkeit mit der konkrete Eskalationszenarien eintreffen könnten

Gleichzeitig ist den Befragten in den letzten Wochen bewusster geworden, dass der Ukraine-Krieg auch Auswirkungen in der Schweiz hat (vgl. Abbildung 3). Im Vergleich zu unserer ersten Befragung im März ist ein deutlicher Trend hin zu stärkeren negativen finanziellen Auswirkungen auf die Befragten persönlich zu erkennen (+14 Prozentpunkte).

Abbildung 3: Einschätzung der persönlichen finanziellen Auswirkungen

Trotz finanzieller Sorgen weiterhin hohe Solidarität mit der Ukraine

Wie stark sind die Schweizerinnen und Schweizer angesichts der Bedrohungslage und der wirtschaftlichen Konsequenzen des Krieges bereit, politische Massnahmen gegen Russland zu unterstützen? In dieser Frage wird stark zwischen den verschiedenen Arten von Massnahmen unterschieden (vgl. Abbildung 4). Militärische Massnahmen wie die Entsendung eigener Truppen (W2 = 7 %), Luft- bzw. Cyberangriffe (W2 = 16 % bzw. 33 %) oder auch Waffenlieferungen (W2 = 36 %) werden sehr kritisch beurteilt. Dagegen finden wirtschaftliche Massnahmen weiterhin eine hohe Unterstützung. Weitere Wirtschaftssanktionen gegen Russland, Importstopps von russischem Öl und Gas (72 % bzw. 70 %), und sogar die Beschlagnahmung von russischen Oligarchenvermögen (68 %) werden jeweils von einer grossen Mehrheit unterstützt (vgl. Abb. 4).

Abbildung 4: Zustimmung zu weiteren Massnahmen, als Reaktion auf die Situation in Russland und der Ukraine

Eine Mehrheit ist also weiterhin bereit, die Wirtschaftssanktionen mitzutragen, obwohl dies zu persönlichen finanziellen Einbussen führen könnte (vgl. Abbildung 5), und würde sogar auch dann einer Verschärfung der Sanktionen zustimmen, wenn dies Öl- und Gasknappheit (56 %), einen signifikanten Anstieg der Energiepreis (54 %) oder der allgemeinen Lebenshaltungskosten (52 %) zur Folge hätte.

Abbildung 5: Unterstützung von Verschärfung der Sanktionen trotz Konsequenzen

«Kooperative» oder «Integrale» Neutralität?

Interessant sind diese Ergebnisse auch, weil sie ein Schlaglicht auf die laufende Diskussion über die Ausgestaltung der Neutralität werfen. Am WEF 2022 stellte Bundesrat Cassis das Konzept der «kooperativen Neutralität» vor, welches ein aktives Eingreifen zur Sicherung zentraler Werte wie den Menschenrechten oder grundlegenden Prinzipien wie dem Selbstbestimmungsrecht von Staaten propagiert, ohne durch ein militärisches Eingreifen die Verpflichtungen eines neutralen Staates zu verletzen. Dagegen ist eine Gruppe um Christoph Blocher dabei, eine Initiative zu lancieren, welche eine Definition der «integralen Neutralität» in der Verfassung verankern soll, bei der die Schweiz im Kriegsfall weder militärisch noch mit Sanktionen Partei ergreifen dürfte.

Die in Abbildung 6 dargestellten Ergebnisse legen nahe, dass das Konzept der «kooperativen Neutralität» in der Schweiz auf grosse Unterstützung stösst. Die Befragten wollen kein militärisches Eingreifen jedweder Art, dafür wirtschaftliche Massnahmen und Sanktionen, die sich gegen das völkerrechtwidrige Verhalten Russlands richten. Fast zwei Drittel der Befragten (64%) stimmen in der Juni-Befragung auch der Aussage zu, dass sich die Schweiz klar zur Ukraine bekennen und die Sanktionen der EU gegen Russland vollumfänglich umsetzen sollte. Neutralität und wirtschaftliche Sanktionen stehen für die Mehrheit der Befragten also nicht im Widerspruch.

Abbildung 6: Haltung der Schweiz gegenüber der Kriegsparteien

Gleichzeitig wird die Neutralität an sich von der Bevölkerung sehr geschätzt. 59% geben an, dass sich die Schweiz gegenüber Russland und der Ukraine neutral verhalten sollte und eine grosse Mehrheit (78 %) findet, dass die Schweiz in diesem Konflikt eine Vermittlerrolle einnehmen sollte. Eine NATO-Mitgliedschaft lehnt im Juni 2022 die Hälfte der Befragten ab. Diese Ablehnung ist zwar seit März gesunken, ist jedoch immernoch mehr als doppelt so hoch wie die Zustimmung  zu einem NATO-Beitritt der Schweiz (23%) (vgl. Abbildung 7). Eine engere Kooperation der Schweizt mit der NATO findet dagegen mit 55% der Befragten klare Zustimmung.

Zusammengenommen zeigt sich ein Bild, bei dem die Öffentlichkeit die Neutralität der Schweiz weiterhin schätzt, eine gewisse Kooperation mit Staaten, die die Grundwerte der Schweiz teilen und sich für die regelbasierte und multilateralisierte Weltordnung einsetzen, jedoch befürwortet.

Abbildung 7: Die Haltung der Schweiz zur NATO

Interessant sind im Kontext der Diskussion über die Definition der Neutralität auch die Unterschiede zwischen den politischen Lagern. Während eine überparteiliche Mehrheit die Sanktionen und einer Vermittlerrolle für die Schweiz befürwortet, gibt es im Bezug auf  grundsätzliche Fragen der Neutralität und den NATO-Beitritt einen politische Graben (vg. Abbildung 5). Hier gewichten Befragte des rechten Spektrums und aus der Mitte die Neutralität der Schweiz klar höher als Befragte des linken Spektrums. Dieser Graben hat sich in den letzten Monaten leicht vertieft. In der Mitte hat sich seit März die stärkste Veränderung gezeigt. Mit +11 Prozentpunkten ist der Anteil derjenigen, die einen Beitritt zur NATO eher befürworten (Welle 1 = 12 %; Welle 2 = 23 %) signifikant angestiegen.

Insgesamt zeigt sich in den Ergebnissen, dass die aktuelle Ukraine-Politik des Bundesrates von einer grossen Mehrheit der Bevölkerung befürwortet wird. Wirtschaftliche Massnahmen gegen Russland werden befürwortet, militärische Unterstützung jedweder Art dagegen abgelehnt. Die Daten zeigt sich aber auch, dass die Meinungen dynamisch sind und über die Zeit verändern. Die anstehenden Debatten über die Neutralität versprechen also auch in Bezug auf die öffentliche Meinung intensiv und spannend zu werden.

Datenerhebung und Analyse
Es wurden zwei Online-Befragungen über das LINK Panel in allen Sprachregionen der Schweiz durchgeführt.

Grundgesamtheiten: 1’206 (Welle 1) bzw. 1'216 (Welle 2) wohnhafte Personen in der Schweiz im Alter von 15-79 Jahren, die repräsentativ für die dortige Wohnbevölkerung sind, mindestens einmal pro Woche zu privaten Zwecken das Internet nutzen und den Fragebogen in den Landessprachen ausfüllen können.

Studienzeitraum Welle 1: 17. bis 21. März 2022, Welle 2: 03. bis 10. Juni 2022.


Quellenangabe: