Das neue Handbuch der Schweizer Politik ist da!

Im soeben bei NZZ Libro erschie­ne­nen Hand­buch der Schwei­zer Poli­tik wer­den die Grund­la­gen des poli­ti­schen Sys­tems, die Insti­tu­tio­nen, die Kan­to­ne und Gemein­den, die Akteu­re, die Wah­len und Abstim­mun­gen, die Ent­schei­dungs­pro­zes­se sowie ver­schie­de­ne Poli­tik­fel­der detail­liert behan­delt. Im Fol­gen­den geben wir mit­tels kur­zen Zusam­men­fas­sun­gen zen­tra­ler The­men einen Vorgeschmack.

Auch wenn sich die Schwei­zer Poli­tik in den letz­ten Jah­ren nicht von Grund auf ver­än­dert hat, zeigt das Hand­buch doch die weit­rei­chen­den Ver­än­de­run­gen auf, die die Schwei­zer Poli­tik an der Wen­de zum 21. Jahr­hun­dert durch­lebt hat.

Das umfas­sen­de Werk geht auch den Fort­schrit­ten der poli­tik­wis­sen­schaft­li­chen For­schung auf den Grund, wel­che immer fun­dier­te­re Kennt­nis­se über die poli­ti­schen Pro­zes­se in der Schweiz her­vor­bringt. Auf die Gefahr hin, dass vie­le inter­es­san­te und bis­wei­len über­ra­schen­de Erkennt­nis­se aus­ge­blen­det wer­den, möch­ten wir an die­ser Stel­le eine klei­ne Aus­wahl der bedeu­tends­ten Ent­wick­lun­gen vorstellen.

Polarisierung: so what?

Die zuneh­men­de Pola­ri­sie­rung und die damit ein­her­ge­hen­den Her­aus­for­de­run­gen für die Kon­kor­danz­de­mo­kra­tie sind die offen­kun­digs­ten Ver­än­de­run­gen der Schwei­zer Poli­tik der jüngs­ten Zeit.

Im Natio­nal­rat wird mitt­ler­wei­le nur noch eine klei­ne Min­der­heit der Geset­zes­vor­la­gen von allen Regie­rungs­par­tei­en unter­stützt, was in einem par­la­men­ta­ri­schen Sys­tem unvor­stell­bar wäre. Bei fakul­ta­ti­ven Refe­ren­den stel­len sich mit der SVP und SP die bei­den gröss­ten Par­tei­en immer häu­fi­ger gegen die Posi­ti­on des Bundesrates.

Die star­ken ideo­lo­gi­schen Gegen­sät­ze zwi­schen den in der Regie­rung ver­tre­te­nen Par­tei­en tra­gen zum Koor­di­na­ti­ons- und Füh­rungs­de­fi­zit der Regie­rung bei. Die­ses Defi­zit ent­steht auch aus dem geschwäch­ten Kol­le­gia­li­täts­prin­zip, der bis­wei­len man­gel­haf­ten Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen den Depar­te­men­ten und der hohen Arbeits­be­las­tung der Mit­glie­der des Bundesrats.

All dies ändert jedoch nichts dar­an, dass das Sys­tem sei­ne Legi­ti­mi­tät auf­recht erhal­ten kann. So scheint die par­tei­po­li­ti­sche Pola­ri­sie­rung kei­ne tie­fen Ris­se in der poli­ti­schen Kul­tur des Lan­des hin­ter­las­sen zu haben. Die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger sind ver­gleichs­wei­se immer noch sehr zufrie­den mit der Funk­ti­ons­wei­se der Schwei­zer Demo­kra­tie und ihrer Institutionen.

Das kann sicher­lich auch auf die weit­rei­chen­den poli­ti­schen Rech­te zurück­ge­führt wer­den, wel­che die Bevöl­ke­rung als sehr wich­tig erach­tet. Zudem wur­de die Schweiz nicht unre­gier­bar, trotz zuneh­men­der Pola­ri­sie­rung. Das Zwei­kam­mer­sys­tem setzt eine gewis­se Kom­pro­miss­be­reit­schaft vor­aus, was dazu führt, dass sich die bei­den Rats­kam­mern trotz unter­schied­li­cher Zusam­men­set­zung sehr häu­fig eini­gen kön­nen. Selbst im stär­ker pola­ri­sier­ten Natio­nal­rat bil­den sich je nach Vor­la­ge breit abge­stütz­te Mehr­hei­ten. Unter dem Strich erreicht die gros­se Mehr­heit der Geset­zes­vor­la­gen im Par­la­ment nach wie vor genug Unter­stüt­zung, um ein Refe­ren­dum zu.

Dies kann jedoch einen Preis haben, wenn es um die Fähig­keit geht, auf Pro­ble­me zu reagie­ren. So haben im Bereich des Sozi­al­staats Ent­schei­dungs­pro­zes­se meh­re­re Jah­re oder sogar Jahr­zehn­te gedau­ert, bis teil­wei­se Fort­schrit­te erzielt wur­den, in der Wirt­schafts­po­li­tik sind umfas­sen­de Refor­men bei wei­tem nicht die Regel, und die Bezie­hung zu Euro­pa ist blo­ckiert. Den­noch darf man nicht ver­all­ge­mei­nern, wie jün­ge­re Ent­wick­lun­gen im Bereich der Fami­li­en­po­li­tik gezeigt haben (z.B. bezüg­lich der Aus­wei­tung von fami­li­en­er­gän­zen­den Betreu­ungs­struk­tu­ren und der Ein­füh­rung eines Vater­schafts­ur­laubs): Es ist mög­lich, einen Rück­stand teil­wei­se auf­zu­ho­len, aller­dings führt der Föde­ra­lis­mus zu einer gewis­sen Hete­ro­ge­ni­tät.    

Entparlamentarisierung: what’s next?

Auch die poli­ti­schen Ent­schei­dungs­pro­zes­se auf natio­na­ler Ebe­ne haben sich stark ver­än­dert. Die vor­par­la­men­ta­ri­sche Pha­se galt tra­di­tio­nel­ler­wei­se als die Pha­se, in der Kom­pro­mis­se geschmie­det wur­den. Die­se Pha­se hat jedoch gemäss der poli­ti­schen Akteu­re zuguns­ten der par­la­men­ta­ri­schen Pha­se an Bedeu­tung verloren.

Inter­es­sen­grup­pen kom­pen­sie­ren ihren rela­ti­ven Ein­fluss­ver­lust im vor­par­la­men­ta­ri­schen Pro­zes­se, indem sie sich ver­mehrt auf das Knüp­fen von Bezie­hun­gen zu Mit­glie­dern der bei­den Kam­mern kon­zen­trie­ren, um auf die­sem Weg ihren Ein­fluss auf die par­la­men­ta­ri­sche Arbeit zu ver­stär­ken. Als Bei­spiel kann die gestärk­te Rol­le von Kon­su­men­ten­schutz- oder Umwelt­or­ga­ni­sa­tio­nen die­nen. Aller­dings ist das Lob­by­ing in der Schweiz im inter­na­tio­na­len Ver­gleich nach wie vor wenig trans­pa­rent. So kön­nen sich im par­la­men­ta­ri­schen Pro­zess bis­wei­len Ein­zel­in­ter­es­sen Gehör ver­schaf­fen, die sich beson­ders aktiv dar­um bemü­hen, aber gleich­zei­tig wenig reprä­sen­ta­tiv sind.

Ist die Bun­des­ver­samm­lung wirk­lich die “obers­te Gewalt im Bund”, wie es in der Bun­des­ver­fas­sung geschrie­ben steht? Als Reak­ti­on auf eine Macht­ver­schie­bung hin zur Exe­ku­ti­ve — ein in eta­blier­ten Demo­kra­tien häu­fig anzu­tref­fen­des Phä­no­men der “Ent­par­la­men­ta­ri­sie­rung” — ist das Schwei­zer Par­la­ment gegen­über Regie­rungs­vor­la­gen kri­ti­scher gewor­den und hat sich akti­ver an der Gesetz­ge­bung betei­ligt. Inwie­weit sich dies jedoch in einer tat­säch­li­chen Stär­kung des Ein­flus­ses bei der Ent­schei­dungs­fin­dung und vor allem bezüg­lich der Fähig­keit nie­der­schlägt, die Regie­rung zu kon­trol­lie­ren, bleibt umstritten.

Ins­be­son­de­re besteht zwi­schen den for­ma­len Kom­pe­ten­zen der Bun­des­ver­samm­lung — die im Ver­gleich zu den meis­ten par­la­men­ta­ri­schen Sys­te­men in Euro­pa stark sind — und den gerin­gen Res­sour­cen der Par­la­ments­mit­glie­der eine gewis­se Dis­kre­panz. Zwar ist ein immer grös­se­rer Teil der Par­la­ments­mit­glie­der mitt­ler­wei­le als Voll­zeit­po­li­ti­ke­rin­nen und ‑poli­ti­ker tätig (auch die Par­tei­en wer­den zu pro­fes­sio­nel­le­ren Orga­ni­sa­tio­nen), doch fehlt es ihnen an Res­sour­cen, um ihr Infor­ma­ti­ons­de­fi­zit im Ver­gleich zur Bun­des­ver­wal­tung auszugleichen.

Dar­über hin­aus bestimmt das Par­la­ment zwar teil­wei­se sei­ne eige­ne Agen­da, doch die Impul­se durch die Regie­rung und in jüngs­ter Zeit auch durch inter­na­tio­na­le Ent­wick­lun­gen sind nicht weg­zu­dis­ku­tie­ren. Des Wei­te­ren wird die poli­ti­sche Tages­ord­nung zuneh­mend durch Volks­in­itia­ti­ven bestimmt, deren Zunah­me in den letz­ten Jahr­zehn­ten sowohl das Auf­kom­men neu­er poli­ti­scher For­de­run­gen, als auch das Bedürf­nis nach Pro­fi­lie­rung der poli­ti­schen Akteu­re wider­spie­gelt. Dies ist eine der Fol­gen der ver­stärk­ten Media­ti­sie­rung, wäh­rend ande­re Aus­wir­kun­gen, bei­spiels­wei­se die Per­so­na­li­sie­rung der Poli­tik oder das nega­tiv cam­pai­gning, in der Schweiz weni­ger prä­sent sind.

Nach­hal­tig­keit und Anpas­sung der insti­tu­tio­nel­len Hard­ware: der Fall des Föderalismus
Die zen­tra­len Insti­tu­tio­nen des poli­ti­schen Sys­tems der Schweiz zeich­nen sich durch eine bemer­kens­wer­te Dau­er­haf­tig­keit aus. Nicht, dass dies nicht durch­aus auf Kri­tik stösst, bei­spiels­wei­se das dop­pel­te Volks- und Stän­de­mehr bei Verfassungsabstimmungen.

Auf­grund der sich ver­än­der­ten demo­gra­fi­schen Gleich­ge­wich­te zwi­schen den Kan­to­nen und der zuneh­men­den Hete­ro­ge­ni­tät der Schwei­zer Bevöl­ke­rung wird in regel­mäs­si­gen Abstän­den über sei­ne Berech­ti­gung dis­ku­tiert. An Anpas­sun­gen man­gelt es jedoch nicht, bei­spiels­wei­se in Bezug auf den Föde­ra­lis­mus die immer inten­si­ver wer­den­de ver­ti­ka­le und hori­zon­ta­le Zusam­men­ar­beit, die jedoch wenig sicht­bar ist.

Im inter­na­tio­na­len Ver­gleich ver­fü­gen die Kan­to­ne der Schweiz wei­ter­hin über ein sehr hohes Mass an Auto­no­mie, aller­dings ver­fügt die Bun­des­ebe­ne über immer mehr Kom­pe­ten­zen. So zeich­net sich denn auch die Umset­zung der Bun­des­ver­ord­nun­gen durch die Kan­to­ne durch eine star­ke Hete­ro­ge­ni­tät aus und zwar sowohl in Bezug auf die Hand­lungs­in­stru­men­te als auch auf die betei­lig­ten Akteu­re. Die­se Viel­falt mag im Hin­blick auf die nor­ma­ti­ve Kohä­renz frag­wür­dig erschei­nen, ermög­licht aber manch­mal regio­na­le Expe­ri­men­te und spie­gelt letzt­lich die Viel­falt der loka­len Kon­tex­te wider, was bei­spiels­wei­se die Inten­si­tät der Pro­blem­wahr­neh­mung oder die poli­ti­schen Kräf­te­ver­hält­nis­se betrifft.


Refe­renz:

Papado­pou­los, Yan­nis, Pas­cal Scia­ri­ni, Adri­an Vat­ter, Sil­ja Häu­ser­mann,  Patrick Emmen­eg­ger et Fla­via Fos­sa­ti (Hrsg.). Hand­buch der Schwei­zer Politik/Manuel de la poli­tique suis­se. Zurich : NZZ Libro, 2022 (7., voll­stän­dig über­ar­bei­te­te Auflage).

Das Hand­buch der Schwei­zer Politik
Die 7. Auf­la­ge der zwei­spra­chi­gen Aus­ga­be (Deutsch-Fran­zö­sisch) des Hand­buchs der Schwei­zer Politik/Manuel de la poli­tique suis­se ist im NZZ Libro Ver­lag erschie­nen. Das Hand­buch wird von sechs Professor:innen von ver­schie­de­nen Schwei­zer Uni­ver­si­tä­ten her­aus­ge­ge­ben. Die sieb­te Auf­la­ge wur­de stark über­ar­bei­tet, da die 6. Auf­la­ge des Hand­buchs aus dem Jahr 2014 stammt. Die aktu­el­le Aus­ga­be umfasst 1000 Sei­ten und setzt sich aus 30 Kapi­teln zusam­men, die von rund 50 Autor:innen ver­fasst wur­den. Die ein­zel­nen Kapi­tel gehen den Grund­la­gen des poli­ti­schen Sys­tems, den Insti­tu­tio­nen, den Kan­to­nen und Gemein­den, den Akteu­ren, den Wah­len und Abstim­mun­gen, den Ent­schei­dungs­pro­zes­sen sowie ver­schie­de­nen Poli­tik­fel­dern auf den Grund. Die eng­li­sche Aus­ga­be des Hand­buchs, wel­che sich an ein inter­na­tio­na­les Publi­kum rich­tet und in der Rei­he Hand­books of Natio­nal Poli­ti­cal Sys­tems im Ver­lag Oxford Uni­ver­si­ty Press her­aus­ge­ge­ben wird, ist in Bear­bei­tung. Es erscheint vor­aus­sicht­lich 2023.

 

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