Die Bedeutung sozialer Normen in der Pandemie – Befunde des Projekts «Covid-Norms»

Sozia­le Nor­men regeln die Ein­hal­tung von Prä­ven­ti­ons­mass­nah­men, wie Mas­ke­tra­gen, Abstand­hal­ten und Imp­fen, zwi­schen­mensch­lich. Sie stel­len somit ein legi­ti­mes Mit­tel der Pan­de­mie­be­kämp­fung, ins­be­son­de­re in demo­kra­ti­schen Gesell­schaf­ten, dar. Doch wie haben sich sozia­le Nor­men zu Prä­ven­ti­ons­ver­hal­ten wäh­rend der Covid-19-Pan­de­mie in der Schweiz ent­wi­ckelt? Damit beschäf­tigt sich das Pro­jekt «Covid-Norms».

Sozia­le Nor­men sind Hand­lungs­re­geln einer sozia­len Grup­pe oder Gesell­schaft. Im Kon­text der Covid-19-Pan­de­mie regeln sie die Ein­hal­tung von Prä­ven­ti­ons­mass­nah­men, wie Mas­ke­tra­gen, Abstand­hal­ten und Imp­fen. Sie tun dies sozi­al und nicht gesetz­lich, wor­in das Poten­zi­al von sozia­len Nor­men für Demo­kra­tien begrün­det liegt, die im Wesent­li­chen auf Frei­heit und Selbst­be­stimmt­heit basie­ren. Die Eta­blie­rung von sozia­len Nor­men zu Prä­ven­ti­ons­ver­hal­ten steht im Ein­klang mit die­sen Prin­zi­pi­en und stellt damit ein lang­fris­ti­ges und legi­ti­mes Mit­tel der Pan­de­mie­be­kämp­fung in demo­kra­ti­schen Gesell­schaf­ten dar. Ange­sichts die­ses Poten­zi­als von sozia­len Nor­men stellt sich die Fra­ge, wie sich sozia­le Nor­men zum Prä­ven­ti­ons­ver­hal­ten wäh­rend der Covid-19-Pan­de­mie in der Schweiz ent­wi­ckeln. Der Bei­trag trägt Befun­de zu die­ser Fra­ge zusam­men, die im Kon­text des Pro­jekts «Covid-Norms» gewon­nen wurden. 

Kommunikation, soziale Normen und Abstandhalten – Ergebnisse einer Befragungsstudie

Nor­ma­ti­ve Vor­stel­lun­gen davon, was ande­re tun und was sie gut fin­den, wer­den über Kom­mu­ni­ka­ti­on geprägt (Geber & Hef­ner, 2019). Dies ist ins­be­son­de­re in Kri­sen­zei­ten der Fall, da in Zei­ten der Unsi­cher­heit das Bedürf­nis nach Ori­en­tie­rung und an Infor­ma­tio­nen beson­ders gross ist (Rimal & Storey, 2020). Im Zusam­men­hang mit der Ein­füh­rung der Social Distancing-Mass­nah­me zu Beginn der Pan­de­mie unter­such­te eine Stu­die (Frie­mel & Geber, 2021), wie nor­ma­ti­ve Vor­stel­lun­gen zum Abstand­hal­ten mit dem indi­vi­du­el­len Prä­ven­ti­ons­ver­hal­ten zusam­men­hän­gen, und wie die­se Vor­stel­lun­gen wie­der­um von ver­schie­de­nen For­men der Kom­mu­ni­ka­ti­on (Nach­rich­ten­me­di­en, Social Media und per­sön­li­cher Aus­tausch) geprägt wer­den. Die im März 2020 durch­ge­führ­te Online-Befra­gung von 1‘005 Schweizer*innen der deutsch­spra­chi­gen Schweiz (51% weib­lich, Alter: M = 47.8, SD = 17.98) zeigt fol­gen­de Zusam­men­hän­ge (metho­di­sche Details und wei­te­re Ergeb­nis­se sind der Publi­ka­ti­on Frie­mel & Geber, 2021, zu entnehmen):

  • Nach­rich­ten­me­di­en kor­re­lie­ren posi­tiv mit nor­ma­ti­ven Vor­stel­lun­gen: Je wich­ti­ger die Befrag­ten Nach­rich­ten­me­di­en zur Infor­ma­ti­on über Coro­na fan­den, des­to eher nah­men sie Abstand­hal­ten als ein weit ver­brei­te­tes und sozi­al akzep­tier­tes Ver­hal­ten wahr.
  • Social Media kor­re­liert nega­tiv mit nor­ma­ti­ven Vor­stel­lun­gen: Je bedeut­sa­mer Social Media, wie Face­book, Twit­ter und Insta­gram, zur Infor­ma­ti­on über Coro­na war, des­to weni­ger nah­men die Befrag­ten Abstand­hal­ten als ein weit ver­brei­te­tes und sozi­al akzep­tier­tes Ver­hal­ten wahr.
  • Aus­tausch im per­sön­li­chen Umfeld kor­re­liert posi­tiv mit nor­ma­ti­ven Vor­stel­lun­gen: Je wich­ti­ger die Befrag­ten den Aus­tausch im per­sön­li­chen Umfeld – münd­lich, via (Video-)Telefonie oder über Instant Mes­sen­ger – fan­den, des­to eher war Abstand­hal­ten in ihrer Wahr­neh­mung ein nor­ma­ti­ves Verhalten.
  • Nor­ma­ti­ve Vor­stel­lun­gen kor­re­lie­ren posi­tiv mit indi­vi­du­el­lem Abstand­hal­ten: Je stär­ker die Befrag­ten wahr­nah­men, dass Abstand­hal­ten im all­täg­li­chen Umfeld ver­brei­tet und sozi­al akzep­tiert ist, des­to kon­se­quen­ter hiel­ten sie sich selbst im All­tag daran.

Die­se Ergeb­nis­se unter­strei­chen die Bedeu­tung ver­schie­de­ner Kom­mu­ni­ka­ti­ons­for­men hin­sicht­lich nor­ma­ti­ver Vor­stel­lun­gen sowie die Rele­vanz sozia­ler Nor­men als Prä­dik­to­ren indi­vi­du­el­len Ver­hal­tens. Die Stu­die hat jedoch metho­di­sche Limi­ta­tio­nen, wel­che die Inter­pre­ta­ti­on der Ergeb­nis­se ein­schrän­ken. Zum einen erlaubt das quer­schnitt­li­che Design der Befra­gungs­stu­die kei­ne kau­sa­le Prü­fung der Annah­men; es kann dem­nach nicht empi­risch über­prüft wer­den, ob Kom­mu­ni­ka­ti­on nor­ma­ti­ve Vor­stel­lun­gen prägt und ob die­se Vor­stel­lun­gen wie­der­um Ver­hal­ten beein­flus­sen oder ob (auch) gegen­läu­fi­ge Ein­flüs­se vor­lie­gen. Zudem feh­len Daten zu den Kom­mu­ni­ka­ti­ons­in­hal­ten, wel­che die Zusam­men­hän­ge zwi­schen Kom­mu­ni­ka­ti­on und nor­ma­ti­ve Vor­stel­lun­gen bes­ser ein­ord­nen wür­den. Dies wäre ins­be­son­de­re mit Blick auf die nega­ti­ve Kor­re­la­ti­on zwi­schen Social Media-Zuwen­dung und nor­ma­ti­ven Vor­stel­lun­gen auf­schluss­reich. Die­se metho­di­schen Ein­schrän­kun­gen wer­den in der umfas­sen­den Trend­stu­die des Pro­jekts «Covid-Norms» überwunden.

Das Projekt «Covid-Norms» – Monitoring und Analyse von Präventionsverhalten

Das Pro­jekt hat das Ziel, die Ent­wick­lung sozia­ler Nor­men zum Prä­ven­ti­ons­ver­hal­ten in der Schwei­zer Bevöl­ke­rung zu ver­ste­hen. Dafür geht es über die Betrach­tung von Zusam­men­hän­gen auf der Indi­vi­du­al­ebe­ne hin­aus und ver­knüpft mit­hil­fe der Kom­mu­ni­ka­ti­on die Indi­vi­du­al- mit der Gesell­schafts­ebe­ne (Geber & Sed­lan­der, 2022). Kern des Pro­jekts ist eine Trend­stu­die, die über 18 Mona­te (Sep­tem­ber 2020 – Febru­ar 2022) eine wöchent­li­che Befra­gung und eine halb­au­to­ma­ti­sier­te Inhalts­ana­ly­se kom­bi­niert. Basie­rend auf einem schweiz­wei­ten Sam­ple (N = 425 Befrag­te) erfasst die Online-Befra­gung wöchent­lich die nor­ma­ti­ven Vor­stel­lun­gen sowie die Ein­stel­lung und das Ver­hal­ten der Bevöl­ke­rung hin­sicht­lich ver­schie­de­ner Prä­ven­ti­ons­mass­nah­men (z. B. Mas­ke­tra­gen, Abstand­hal­ten, Imp­fen). Die Inhalts­ana­ly­se erhebt die The­ma­ti­sie­rung die­ser Mass­nah­men in 34 Schwei­zer Nach­rich­ten­me­di­en (Online, Print, TV/Radio). Die­se metho­di­sche Anla­ge erlaubt es, Ver­än­de­run­gen in nor­ma­ti­ven Vor­stel­lun­gen, Ein­stel­lun­gen und Prä­ven­ti­ons­ver­hal­ten in der Bevöl­ke­rung sowie die Medi­en­re­so­nanz poli­ti­scher Ent­schei­dun­gen und pan­de­mi­scher Ereig­nis­se zu moni­to­ren. Dar­über hin­aus ermög­licht die Zusam­men­füh­rung die­ser Daten, die Dyna­mi­ken zwi­schen Medi­en­be­richt­erstat­tung, wahr­ge­nom­me­nen Nor­men und Prä­ven­ti­ons­ver­hal­ten in der Schwei­zer Bevöl­ke­rung zu ana­ly­sie­ren. Wei­te­re Infor­ma­tio­nen zum Pro­jekt sowie Befun­de des Moni­to­rings sind auf der Web­sei­te covid-norms.ch zu finden.

Die Bedeutung sozialer Normen in der Pandemie

In ihrer Gesamt­schau demons­trie­ren die im Pro­jekt­kon­text durch­ge­führ­ten Stu­di­en, dass sozia­le Nor­men mit Blick auf Prä­ven­ti­ons­ver­hal­ten rele­vant sind. Das zei­gen nicht nur die zuvor dar­ge­leg­ten Ergeb­nis­se zum Abstands­hal­ten, dies brin­gen auch Stu­di­en zur Nut­zung der Tra­cing-App (Geber & Frie­mel, 2022) oder Imp­fen (Geber et al., 2022) her­vor. Zudem ste­hen die Ergeb­nis­se im Ein­klang mit der Idee von sozia­len Nor­men als Phä­no­me­ne, die über ver­schie­de­ne For­men der Kom­mu­ni­ka­ti­on, bei­spiels­wei­se über Nach­rich­ten­me­di­en und Social Media, geprägt wer­den (Frie­mel & Geber, 2021). Auf der Medi­en­in­halts­ebe­ne zeigt sich, dass Prä­ven­ti­ons­mass­nah­men zen­tra­ler Gegen­stand der Bericht­erstat­tung in den Schwei­zer Nach­rich­ten­me­di­en sind (Vog­ler et al., 2021). Ins­be­son­de­re der Impf­dis­kurs domi­nier­te lan­ge Zeit (bis zur Ukrai­ne-Inva­si­on) die Bericht­erstat­tung. Dabei hat sich Tele­gram als Kom­mu­ni­ka­ti­ons­platt­form für Corona-Massnahmengegner*innen eta­bliert (Sie­gen et al., 2022). Wei­te­re Ana­ly­sen und Stu­di­en wer­den Auf­schluss dar­über geben, wel­che Rol­le nor­ma­ti­ve Dis­kur­se in ver­schie­de­nen Tei­löf­fent­lich­kei­ten für die Ent­wick­lung sozia­ler Nor­men des Prä­ven­ti­ons­ver­hal­tens spielen.

Das Pro­jekt Covid-Norms
Das Pro­jekt Covid-Norms wird in Koope­ra­ti­on zwi­schen dem Insti­tut für Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaft und Medi­en­for­schung (IKMZ) und dem For­schungs­zen­trum Öffent­lich­keit und Gesell­schaft (fög) der Uni­ver­si­tät Zürich rea­li­siert. Finan­ziert wird es im Rah­men des Natio­na­len For­schungs­pro­gramms „Covid-19“ (NFP 78) des Schwei­ze­ri­schen Natio­nal­fonds (SNF) sowie vom Bun­des­amt für Gesund­heit (BAG). Wei­te­re Infor­ma­tio­nen zum Pro­jekt sind der Web­sei­te covid-norms.ch zu entnehmen.

Hin­weis: Die­ser Bei­trag ist die schrift­li­che Kurz­fas­sung des Refe­rats der Autorin, gehal­ten am 24. März 2022 im Rah­men der 14. Aar­au­er Demo­kra­tietage des Zen­trums für Demo­kra­tie, Aarau. 


Refe­ren­zen

  • Frie­mel, T. N. & Geber, S. (2021). Social distancing during the COVID-19 pan­de­mic: How com­mu­ni­ca­ti­on affects health pro­tec­ti­ve beha­vi­or through shaping per­cep­ti­ons of effi­cacy, norms, and thre­at. Health Com­mu­ni­ca­ti­on, 1–11. https://doi.org/10.1080/10410236.2021.197
  • Geber, S. & Frie­mel, T. N. (2022). Tra­cing-tech­no­lo­gy adop­ti­on during the COVID-19 pan­de­mic: The mul­ti­fa­ce­ted role of social norms. Inter­na­tio­nal Jour­nal of Com­mu­ni­ca­ti­on, 16, 247–266. https://ijoc.org/index.php/ijoc/article/view/18089
  • Geber, S. & Hef­ner, D. (2019). Social norms as com­mu­ni­ca­ti­ve phe­no­me­na: A com­mu­ni­ca­ti­on per­spec­ti­ve on the theo­ry of nor­ma­ti­ve social beha­vi­or. Stu­dies in Com­mu­ni­ca­ti­on and Media, 8(1), 6–28. https://doi.org/10.5771/2192–4007-2019–1‑6
  • Geber, S., Ho, S. S. & Ou, M. (Mai 2022). Com­mu­ni­ca­ti­ve and nor­ma­ti­ve influ­en­ces on the inten­ti­on to get vac­ci­na­ted against Covid-19: A cross-cul­tu­ral stu­dy in Sin­g­a­po­re and Swi­ter­land. Inter­na­tio­nal Com­mu­ni­ca­ti­on Asso­cia­ti­on, Paris, Frankreich.
  • Geber, S. & Sed­lan­der, E. (2022). Com­mu­ni­ca­ti­on as the cru­cial link: Toward a mul­ti­le­vel approach to nor­ma­ti­ve social influ­ence. Stu­dies in Com­mu­ni­ca­ti­on Sci­en­ces. Vor­ab-Online­pu­bli­ka­ti­on. https://doi.org/10.24434/j.scoms.2022.02.005
  • Rimal, R. N. & Storey, J. D. (2020). Con­struc­tion of mea­ning during a pan­de­mic: The for­got­ten role of social norms. Health Com­mu­ni­ca­ti­on, 35(14), 1732–1734. https://doi.org/10.1080/10410236.2020.1838091
  • Sie­gen, D., Eisen­eg­ger, M., Vog­ler, D. & Tri­bel­horn, L. (März 2022). Der Impf­dis­kurs auf Tele­gram. https://covid-norms.ch/die-impfthematik-auf-telegram/
  • Vog­ler, D., Eisen­eg­ger, M., Sie­gen, D. & Tri­bel­horn, L. (Febru­ar 2021). Beach­tung von Schutz­mas­ken und Imp­fen in den Schwei­zer Medi­en. https://covid-norms.ch/die-corona-pandemie-in-den-schweizer-medien/

Bild: unsplash.com

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