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Das neue Handbuch der Schweizer Politik ist da!

Yannis Papadopoulos, Pascal Sciarini, Adrian Vatter, Silja Häusermann, Patrick Emmenegger, Flavia Fossati
13th April 2022

Im soeben bei NZZ Libro erschienenen Handbuch der Schweizer Politik werden die Grundlagen des politischen Systems, die Institutionen, die Kantone und Gemeinden, die Akteure, die Wahlen und Abstimmungen, die Entscheidungsprozesse sowie verschiedene Politikfelder detailliert behandelt. Im Folgenden geben wir mittels kurzen Zusammenfassungen zentraler Themen einen Vorgeschmack.

Auch wenn sich die Schweizer Politik in den letzten Jahren nicht von Grund auf verändert hat, zeigt das Handbuch doch die weitreichenden Veränderungen auf, die die Schweizer Politik an der Wende zum 21. Jahrhundert durchlebt hat.

Das umfassende Werk geht auch den Fortschritten der politikwissenschaftlichen Forschung auf den Grund, welche immer fundiertere Kenntnisse über die politischen Prozesse in der Schweiz hervorbringt. Auf die Gefahr hin, dass viele interessante und bisweilen überraschende Erkenntnisse ausgeblendet werden, möchten wir an dieser Stelle eine kleine Auswahl der bedeutendsten Entwicklungen vorstellen.

Polarisierung: so what?

Die zunehmende Polarisierung und die damit einhergehenden Herausforderungen für die Konkordanzdemokratie sind die offenkundigsten Veränderungen der Schweizer Politik der jüngsten Zeit.

Im Nationalrat wird mittlerweile nur noch eine kleine Minderheit der Gesetzesvorlagen von allen Regierungsparteien unterstützt, was in einem parlamentarischen System unvorstellbar wäre. Bei fakultativen Referenden stellen sich mit der SVP und SP die beiden grössten Parteien immer häufiger gegen die Position des Bundesrates.

Die starken ideologischen Gegensätze zwischen den in der Regierung vertretenen Parteien tragen zum Koordinations- und Führungsdefizit der Regierung bei. Dieses Defizit entsteht auch aus dem geschwächten Kollegialitätsprinzip, der bisweilen mangelhaften Kommunikation zwischen den Departementen und der hohen Arbeitsbelastung der Mitglieder des Bundesrats.

All dies ändert jedoch nichts daran, dass das System seine Legitimität aufrecht erhalten kann. So scheint die parteipolitische Polarisierung keine tiefen Risse in der politischen Kultur des Landes hinterlassen zu haben. Die Bürgerinnen und Bürger sind vergleichsweise immer noch sehr zufrieden mit der Funktionsweise der Schweizer Demokratie und ihrer Institutionen.

Das kann sicherlich auch auf die weitreichenden politischen Rechte zurückgeführt werden, welche die Bevölkerung als sehr wichtig erachtet. Zudem wurde die Schweiz nicht unregierbar, trotz zunehmender Polarisierung. Das Zweikammersystem setzt eine gewisse Kompromissbereitschaft voraus, was dazu führt, dass sich die beiden Ratskammern trotz unterschiedlicher Zusammensetzung sehr häufig einigen können. Selbst im stärker polarisierten Nationalrat bilden sich je nach Vorlage breit abgestützte Mehrheiten. Unter dem Strich erreicht die grosse Mehrheit der Gesetzesvorlagen im Parlament nach wie vor genug Unterstützung, um ein Referendum zu.

Dies kann jedoch einen Preis haben, wenn es um die Fähigkeit geht, auf Probleme zu reagieren. So haben im Bereich des Sozialstaats Entscheidungsprozesse mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte gedauert, bis teilweise Fortschritte erzielt wurden, in der Wirtschaftspolitik sind umfassende Reformen bei weitem nicht die Regel, und die Beziehung zu Europa ist blockiert. Dennoch darf man nicht verallgemeinern, wie jüngere Entwicklungen im Bereich der Familienpolitik gezeigt haben (z.B. bezüglich der Ausweitung von familienergänzenden Betreuungsstrukturen und der Einführung eines Vaterschaftsurlaubs): Es ist möglich, einen Rückstand teilweise aufzuholen, allerdings führt der Föderalismus zu einer gewissen Heterogenität.    

Entparlamentarisierung: what’s next?

Auch die politischen Entscheidungsprozesse auf nationaler Ebene haben sich stark verändert. Die vorparlamentarische Phase galt traditionellerweise als die Phase, in der Kompromisse geschmiedet wurden. Diese Phase hat jedoch gemäss der politischen Akteure zugunsten der parlamentarischen Phase an Bedeutung verloren.

Interessengruppen kompensieren ihren relativen Einflussverlust im vorparlamentarischen Prozesse, indem sie sich vermehrt auf das Knüpfen von Beziehungen zu Mitgliedern der beiden Kammern konzentrieren, um auf diesem Weg ihren Einfluss auf die parlamentarische Arbeit zu verstärken. Als Beispiel kann die gestärkte Rolle von Konsumentenschutz- oder Umweltorganisationen dienen. Allerdings ist das Lobbying in der Schweiz im internationalen Vergleich nach wie vor wenig transparent. So können sich im parlamentarischen Prozess bisweilen Einzelinteressen Gehör verschaffen, die sich besonders aktiv darum bemühen, aber gleichzeitig wenig repräsentativ sind.

Ist die Bundesversammlung wirklich die "oberste Gewalt im Bund”, wie es in der Bundesverfassung geschrieben steht? Als Reaktion auf eine Machtverschiebung hin zur Exekutive - ein in etablierten Demokratien häufig anzutreffendes Phänomen der "Entparlamentarisierung" - ist das Schweizer Parlament gegenüber Regierungsvorlagen kritischer geworden und hat sich aktiver an der Gesetzgebung beteiligt. Inwieweit sich dies jedoch in einer tatsächlichen Stärkung des Einflusses bei der Entscheidungsfindung und vor allem bezüglich der Fähigkeit niederschlägt, die Regierung zu kontrollieren, bleibt umstritten.

Insbesondere besteht zwischen den formalen Kompetenzen der Bundesversammlung - die im Vergleich zu den meisten parlamentarischen Systemen in Europa stark sind - und den geringen Ressourcen der Parlamentsmitglieder eine gewisse Diskrepanz. Zwar ist ein immer grösserer Teil der Parlamentsmitglieder mittlerweile als Vollzeitpolitikerinnen und -politiker tätig (auch die Parteien werden zu professionelleren Organisationen), doch fehlt es ihnen an Ressourcen, um ihr Informationsdefizit im Vergleich zur Bundesverwaltung auszugleichen.

Darüber hinaus bestimmt das Parlament zwar teilweise seine eigene Agenda, doch die Impulse durch die Regierung und in jüngster Zeit auch durch internationale Entwicklungen sind nicht wegzudiskutieren. Des Weiteren wird die politische Tagesordnung zunehmend durch Volksinitiativen bestimmt, deren Zunahme in den letzten Jahrzehnten sowohl das Aufkommen neuer politischer Forderungen, als auch das Bedürfnis nach Profilierung der politischen Akteure widerspiegelt. Dies ist eine der Folgen der verstärkten Mediatisierung, während andere Auswirkungen, beispielsweise die Personalisierung der Politik oder das negativ campaigning, in der Schweiz weniger präsent sind.

Nachhaltigkeit und Anpassung der institutionellen Hardware: der Fall des Föderalismus
Die zentralen Institutionen des politischen Systems der Schweiz zeichnen sich durch eine bemerkenswerte Dauerhaftigkeit aus. Nicht, dass dies nicht durchaus auf Kritik stösst, beispielsweise das doppelte Volks- und Ständemehr bei Verfassungsabstimmungen.

Aufgrund der sich veränderten demografischen Gleichgewichte zwischen den Kantonen und der zunehmenden Heterogenität der Schweizer Bevölkerung wird in regelmässigen Abständen über seine Berechtigung diskutiert. An Anpassungen mangelt es jedoch nicht, beispielsweise in Bezug auf den Föderalismus die immer intensiver werdende vertikale und horizontale Zusammenarbeit, die jedoch wenig sichtbar ist.

Im internationalen Vergleich verfügen die Kantone der Schweiz weiterhin über ein sehr hohes Mass an Autonomie, allerdings verfügt die Bundesebene über immer mehr Kompetenzen. So zeichnet sich denn auch die Umsetzung der Bundesverordnungen durch die Kantone durch eine starke Heterogenität aus und zwar sowohl in Bezug auf die Handlungsinstrumente als auch auf die beteiligten Akteure. Diese Vielfalt mag im Hinblick auf die normative Kohärenz fragwürdig erscheinen, ermöglicht aber manchmal regionale Experimente und spiegelt letztlich die Vielfalt der lokalen Kontexte wider, was beispielsweise die Intensität der Problemwahrnehmung oder die politischen Kräfteverhältnisse betrifft.


Referenz:

Papadopoulos, Yannis, Pascal Sciarini, Adrian Vatter, Silja Häusermann,  Patrick Emmenegger et Flavia Fossati (Hrsg.). Handbuch der Schweizer Politik/Manuel de la politique suisse. Zurich : NZZ Libro, 2022 (7., vollständig überarbeitete Auflage).

Das Handbuch der Schweizer Politik
Die 7. Auflage der zweisprachigen Ausgabe (Deutsch-Französisch) des Handbuchs der Schweizer Politik/Manuel de la politique suisse ist im NZZ Libro Verlag erschienen. Das Handbuch wird von sechs Professor:innen von verschiedenen Schweizer Universitäten herausgegeben. Die siebte Auflage wurde stark überarbeitet, da die 6. Auflage des Handbuchs aus dem Jahr 2014 stammt. Die aktuelle Ausgabe umfasst 1000 Seiten und setzt sich aus 30 Kapiteln zusammen, die von rund 50 Autor:innen verfasst wurden. Die einzelnen Kapitel gehen den Grundlagen des politischen Systems, den Institutionen, den Kantonen und Gemeinden, den Akteuren, den Wahlen und Abstimmungen, den Entscheidungsprozessen sowie verschiedenen Politikfeldern auf den Grund. Die englische Ausgabe des Handbuchs, welche sich an ein internationales Publikum richtet und in der Reihe Handbooks of National Political Systems im Verlag Oxford University Press herausgegeben wird, ist in Bearbeitung. Es erscheint voraussichtlich 2023.