Was zu tun ist, damit sich Jugendliche politisch stärker engagieren

Das Schwei­ze­ri­sche Miliz­sys­tem kann nur Bestand haben, wenn  Bür­ge­rin­nen und Bür­ger auch in Zukunft in gros­sem Aus­mass bereit sind, ent­spre­chen­de Auf­ga­ben aus­zu­füh­ren. Rund ein Drit­tel der Jugend­li­chen ist poli­tisch enga­giert, doch wie bringt man Jugend­li­che dazu, auch im Erwach­se­nen­al­ter in poli­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen aktiv zu blei­ben? Eine neue Unter­su­chung lie­fert Antworten.

Das frei­wil­li­ge Enga­ge­ment in poli­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen stärkt nicht nur den Zusam­men­halt der Gesell­schaft, son­dern spielt auch eine wich­ti­ge Rol­le hin­sicht­lich einer funk­tio­nie­ren­den Demo­kra­tie (Kol­ler, 2017). Gera­de das dezen­tra­le poli­ti­sche Sys­tem der Schweiz ist auf loka­ler Ebe­ne auf unbe­zahl­te Miliz­ar­beit ange­wie­sen (Frei­tag et al. 2019). Gleich­zei­tig hat die Betei­li­gung an der insti­tu­tio­na­li­sier­ten Frei­wil­li­gen­ar­beit im poli­ti­schen Bereich seit 1997 über­pro­por­tio­nal abge­nom­men. Ange­sichts die­ser Tat­sa­che ist die Suche nach poten­zi­el­len Trei­bern eines poli­ti­schen Enga­ge­ments zentral.

Das Potenzial der jungen Generation

Bis­her ver­nach­läs­sigt wur­de das Poten­zi­al der jun­gen Genera­ti­on, geeig­ne­ten Nach­wuchs für das Miliz­sys­tem zu stel­len. Aller­dings bestä­ti­gen meh­re­re Daten­er­he­bun­gen, dass sich rund ein Drit­tel der jun­gen Genera­ti­on poli­tisch enga­giert und etwa die Hälf­te Inter­es­se dar­an hat oder sich in Zukunft noch mehr enga­gie­ren möch­te (u.A. Frei­tag et al. 2016).

Genau mit die­ser Ziel­grup­pe haben wir uns in unse­rer Stu­die Das Enga­ge­ment jun­ger Men­schen in poli­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen beschäf­tigt (sie­he Info­box). Die Ergeb­nis­se unse­rer Ana­ly­sen zeu­gen von einem beträcht­li­chen Poten­ti­al an jun­gen Frei­wil­li­gen im poli­ti­schen Bereich: Rund jede vier­te befrag­te Per­son war Mit­glied in einer poli­ti­schen Orga­ni­sa­ti­on. 78 Pro­zent der jun­gen Erwach­se­nen betei­lig­ten sich pas­siv in poli­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen, 37 Pro­zent waren aktiv oder aus­füh­rend enga­giert und zwan­zig Pro­zent gaben an, eine lei­ten­de Funk­ti­on inner­halb der Orga­ni­sa­ti­on zu übernehmen.

Daten und Projektbasis
Unter ande­rem stützt sich die Stu­die auf Befra­gungs­da­ten zum poli­ti­schen Enga­ge­ment von Jugend­li­chen und jun­gen Erwach­se­nen, die in Zusam­men­ar­beit mit der Fach­hoch­schu­le Grau­bün­den im Rah­men des Pro­jekts Pro­mo 35 – Poli­ti­sche Nach­wuchs­för­de­rung erho­ben wurden.

In der Online-Befra­gung wur­den das Enga­ge­ment der 14- bis 25-Jäh­ri­gen und der 26- bis 35-Jäh­ri­gen im Bereich poli­ti­scher Orga­ni­sa­tio­nen sowie ihre Ein­stel­lun­gen zum frei­wil­li­gen Enga­ge­ment im poli­ti­schen Bereich erfragt. Die Umfra­ge wur­de vom For­schungs­in­sti­tut gfs.bern durch­ge­führt. Es han­delt sich um eine reprä­sen­ta­ti­ve Umfra­ge der Schwei­zer Bevöl­ke­rung der genann­ten Alters­grup­pen aus der deutsch- und fran­zö­sisch­spra­chi­gen Schweiz. Ins­ge­samt wur­den 2000 Per­so­nen befragt, jeweils 1000 Per­so­nen pro Alters­ko­hor­te. Für die hier prä­sen­tier­ten Aus­wer­tun­gen wur­den ledig­lich die Infor­ma­tio­nen zu den 14- bis 25-jäh­ri­gen Befrag­ten verwendet.

Warum das Geschlecht eine Rolle spielt

Ein zen­tra­ler Befund ist, dass sich Frau­en und Män­ner unter­schied­lich häu­fig in poli­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen enga­gie­ren. Jun­ge Män­ner waren ins­ge­samt deut­lich öfter in poli­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen enga­giert als jun­ge Frau­en und mach­ten jeweils unge­fähr zwei Drit­tel jener Per­so­nen aus, die Mit­glied in einer poli­ti­schen Orga­ni­sa­ti­on waren oder ein poli­ti­sches Amt innehatten.

Zudem lässt sich fest­hal­ten, dass der Geschlech­ter­un­ter­schied mit der Inten­si­tät des Enga­ge­ments zunahm (sie­he Abbil­dung 1). Wäh­rend Män­ner signi­fi­kant öfters enga­giert sind (43 % der in poli­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen enga­gier­ten Män­ner gegen­über 28% bei den enga­gier­ten Frau­en), sind Frau­en häu­fi­ger ledig­lich pas­siv in poli­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen dabei. Schliess­lich über­nahm knapp ein Vier­tel der in poli­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen enga­gier­ten Män­ner eine Lei­tungs­funk­ti­on (N=38), wäh­rend dies bei den Frau­en auf ledig­lich 15 Pro­zent (N=14) zutraf.

Abbildung 1: Freiwilliges politisches Engagement nach Geschlecht

Wäh­rend die Unter­ver­tre­tung der Frau­en in der Poli­tik und im Bereich der bezahl­ten sowie for­mell frei­wil­li­gen Arbeit bekannt ist und oft dis­ku­tiert wird, schei­nen sich bei der spe­zi­fi­schen Art des Enga­ge­ments in poli­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen die Hür­den für die Frau­en zu kumulieren.

Auf der einen Sei­te sind jun­ge Frau­en weni­ger an Poli­tik inter­es­siert und füh­len sich auch weni­ger kom­pe­tent und hand­lungs­fä­hig (Beye­ler et al. 2015). Auf der ande­ren Sei­te wer­den eine gerin­ge­re Res­sour­cen­aus­stat­tung, nicht zuletzt die ver­füg­ba­re Zeit und Netz­wer­ke, aber auch das weni­ger aus­ge­präg­te Stre­ben nach Ein­fluss und das gerin­ge­re Ver­trau­en in die eige­nen Fähig­kei­ten als wich­ti­ge Grün­de dafür betrach­tet, war­um sich Frau­en weni­ger oft for­mell frei­wil­lig betä­ti­gen (Frei­tag et al. 2016; Sta­del­mann-Stef­fen et al. 2007; Sta­del­mann et al. 2010) und im Arbeits­markt sel­te­ner Füh­rungs­po­si­tio­nen inne­ha­ben (Wilz 2008).

Die­se Aspek­te schei­nen im Bereich des poli­ti­schen Enga­ge­ments in Orga­ni­sa­tio­nen eben­falls eine Rol­le zu spie­len. Ins­ge­samt scheint die hier betrach­te­te spe­zi­fi­sche Form des Enga­ge­ments, an der Schnitt­stel­le von poli­ti­scher Par­ti­zi­pa­ti­on und (bezahl­ter oder frei­wil­li­ger) Arbeit, beson­ders hohe Hür­den für die Frau­en bereit­zu­hal­ten, was sich in deut­lich gerin­ge­ren Enga­ge­men­tra­ten widerspiegelt.

Konkrete und einfache Massnahmen gibt es durchaus

Eine zen­tra­le, in bis­he­ri­gen Stu­di­en noch kaum unter­such­te Fra­ge ist, wes­halb sich jun­ge Erwach­se­ne frei­wil­lig oder ehren­amt­lich poli­tisch enga­gie­ren bzw. wes­halb sie dies nicht tun. Kennt­nis­se über die Moti­ve und Hin­de­rungs­grün­de hin­ter einem sol­chen Enga­ge­ment wären dabei wich­tig, um Mass­nah­men zu for­mu­lie­ren, die hel­fen, das Poten­zi­al der jun­gen Genera­ti­on bes­ser auszuschöpfen.

Unse­re Stu­die lie­fert hier­zu neue Erkennt­nis­se basie­rend auf Fokus­grup­pen­ge­sprä­chen mit Jugend­li­chen im Alter von 16 – 23 Jah­ren, die bereits im poli­ti­schen Bereich frei­wil­lig tätig sind, aber auch sol­chen, die sich noch nicht für ein sol­ches Enga­ge­ment ent­schie­den haben, es sich aber vor­stel­len könnten.

Wäh­rend sich die Mass­nah­men für bereits poli­tisch enga­gier­te Jugend­li­che und (noch) nicht poli­tisch enga­gier­te Jugend­li­che teil­wei­se unter­schei­den, kris­tal­li­sier­ten sich eini­ge Punk­te als beson­ders rele­vant heraus.

Fol­gen­de Emp­feh­lun­gen für die Stär­kung des poli­ti­schen Enga­ge­ments Jugend­li­cher und jun­ger Erwach­se­ner kön­nen dar­aus abge­lei­tet werden:

  • Das poli­ti­sche Enga­ge­ment von Jugend­li­chen und jun­gen Erwach­se­nen muss von einer fle­xi­blen Zeit­ge­stal­tung beglei­tet wer­den. Dazu gehört u.A. ein begrenz­ter und kla­rer Zeit­auf­wand sowie die Mög­lich­keit, das Enga­ge­ment in die Schul-/Ar­beits­zeit zu inte­grie­ren. Jugend­li­che und jun­ge Erwach­se­ne sind in einer sehr dyna­mi­schen und akti­ven Lebens­pha­se, in der Frei­zeit einen hohen Stel­len­wert ein­nimmt. Ein Enga­ge­ment geschieht stets auf frei­wil­li­ger Basis und gehört somit zur Frei­zeit, wes­halb es mög­lichst ein­fach und fle­xi­ble in ihre Lebens­welt inte­griert wer­den sollte.
  • Das poli­ti­sche Enga­ge­ment von Jugend­li­chen und jun­gen Erwach­se­nen muss im Ver­gleich zu ihren erwach­se­nen Kol­le­gIn­nen als gleich­wer­ti­ge und unbe­zahl­te Arbeit aner­kennt wer­den: das Aus­stel­len von Diplo­men oder Refe­ren­zen ist genau­so wich­tig wie eine Gleich­be­hand­lung durch die erwach­se­nen Kol­le­gIn­nen oder eine klei­ne, finan­zi­el­le Ent­schä­di­gung. Aner­ken­nung ist ins­be­son­de­re auch in Bezug auf die Geschlech­ter­un­ter­schie­de wich­tig, da jun­ge Frau­en oft stär­ker von Ungleich­be­hand­lung betrof­fen sind. Durch eine Aner­ken­nung wird auch die Mög­lich­keit gege­ben, dass trotz unbe­zahl­tem und frei­wil­li­gem Enga­ge­ment Jugend­li­che und jun­ge Erwach­se­ne einen per­sön­li­chen Vor­teil zie­hen kön­nen – was wie­der­um das Enga­ge­ment attrak­ti­ver macht.
  • Jugend­li­che und jun­ge Erwach­se­ne müs­sen bes­ser über ein poli­ti­sches Enga­ge­ment und des­sen Mög­lich­kei­ten oder Vor­tei­le infor­miert wer­den: Wie viel Zeit nimmt das Enga­ge­ment in Anspruch? Kann die­se Zeit fle­xi­bel ein­ge­teilt wer­den? Wel­che Mög­lich­kei­ten gibt es zur Aus­ge­stal­tung? Ins­be­son­de­re Jugend­li­che, die einem Enga­ge­ment noch nicht nach­ge­hen, sich aber dafür inter­es­sie­ren, kön­nen mit geziel­ter Infor­ma­ti­on eher abge­holt wer­den. Gute Bei­spie­le sind hier unver­bind­li­che und nie­der­schwel­li­ge Set­tings wie Polit­lun­ches oder Schnuppertage.
  • Das poli­ti­sche Inter­es­se ist Grund­la­ge für ein poli­ti­sches Enga­ge­ment und muss des­halb früh­zei­tig geför­dert wer­den, sei es durch Poli­tik­un­ter­richt in der Schu­le oder durch das Ermög­li­chen von unver­bind­li­chen Aus­tausch­ge­fäs­sen, in denen Jugend­li­che mit Poli­ti­ke­rIn­nen über ihre poli­ti­schen Inter­es­sen reden kön­nen. Das poli­ti­sche Inter­es­se beein­flusst, ob und wes­halb sich Jugend­li­che und jun­ge Erwach­se­ne in poli­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen engagieren.
  • Das Selbst­ver­trau­en von Jugend­li­chen und jun­gen Erwach­se­nen hat einen bedeu­ten­den Ein­fluss auf ihr poli­ti­sches Enga­ge­ment. Nur wer sich selbst als kom­pe­tent ein­schätzt, wird sich für ein sol­ches Enga­ge­ment ent­schei­den. Beson­ders jun­ge Frau­en füh­len sich oft dar­an gehin­dert, ein poli­ti­sches Enga­ge­ment zu ergrei­fen, da sie sich selbst als nicht kom­pe­tent genug ein­schät­zen oder Beden­ken vor öffent­li­cher Kri­tik haben. Des­halb sind Mass­nah­men, wie die Frau­en­för­de­rung in poli­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen oder die Kon­takt­ver­mitt­lung zu Frau­en in der Poli­tik, zen­tral. Da sich die Jugend­li­chen viel in der digi­ta­len Welt auf­hal­ten, soll ins­be­son­de­re auch ein siche­rer, digi­ta­ler Raum geför­dert wer­den. Ein Mit­tel dafür ist die Ermög­li­chung von Anony­mi­tät auf digi­ta­len Plattformen.

Die Stu­die «Das Enga­ge­ment jun­ger Men­schen in poli­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen» ist ein Koope­ra­ti­ons­pro­jekt der Uni­ver­si­tät Bern und dem Dach­ver­band Schwei­zer Jugend­par­la­men­te DSJ. Sie wur­de im Dezem­ber 2021 publi­ziert und ist als Online-Bro­schü­re verfügbar.


Refe­ren­zen:

  • Sta­del­mann-Stef­fen, Isa­bel­le, Schuler, Isa­bel, Oder­matt, Jas­min, und Qadire, Nadia (2021). Das Enga­ge­ment jun­ger Men­schen in poli­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen. Hrsg. Dach­ver­band Schwei­zer Jugend­par­la­men­te DSJ. Ver­füg­bar auf: https://www.dsj.ch/publikationen/studien/
  • Beye­ler, Michel­le, Büti­ko­fer, Sarah, und Sta­del­mann-Stef­fen, Isa­bel­le (2015). Ich und mei­ne Schweiz: Befra­gung von 17-jäh­ri­gen Jugend­li­chen in der Schweiz.
  • Kol­ler, Danie­la Andrea (2017). Poli­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on und poli­ti­sche Bil­dung in der Schweiz. Eine empi­ri­sche Unter­suchung des Par­ti­zi­pa­ti­ons­ver­hal­tens jun­ger Erwach­se­ner in der Schweiz (Doc­to­ral dis­ser­ta­ti­on, Uni­ver­si­tät Bern).
  • Frei­tag, Mar­kus, und Manat­schal, Ani­ta (2016). Frei­wil­li­gen-Moni­tor Schweiz 2016. K. Acker­mann, & M. Acker­mann (Eds.). Zürich: Seismo.
  • Frei­tag, Mar­kus, Bun­di, Pir­min, und Flick Wit­zig, Mar­ti­na (2019). Miliz­ar­beit in der Schweiz. Zah­len und Fak­ten zum poli­ti­schen Leben in der Gemein­de. NZZ Libro.
  • Sta­del­mann-Stef­fen, Isa­bel­le, Frei­tag, Mar­kus, und Bühl­mann, Marc (2007). Frei­wil­li­gen-Moni­tor Schweiz 2007. Zürich: Seis­mo Ver­lag — Édi­ti­ons Seis­mo — Seis­mo Press.
  • Sta­del­mann, Isa­bel­le, Traun­mül­ler, Richard, Gun­del­ach, Bir­te und Frei­tag, Mar­kus (2010). Frei­wil­li­gen-Moni­tor Schweiz 2010.
  • Wilz, Syl­via Mar­le­ne (2008). Geschlech­ter­dif­fe­ren­zen-Geschlech­ter­dif­fe­ren­zie­run­gen. In Geschlech­ter­dif­fe­ren­zen-Geschlech­ter­dif­fe­ren­zie­run­gen (pp. 7–17). VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.

Bild: Unsplash.com

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