Die Erfolgschancen von Asylbeschwerden sind tiefer wenn Asylthemen in der Öffentlichkeit präsenter sind

Das Wahl­ver­hal­ten von Bürger:innen wird durch die Pro­mi­nenz von The­men, etwa im Par­la­ment, in den Medi­en und öffent­li­chen Debat­ten, beein­flusst – ins­be­son­de­re bei Asylthe­men. Doch trifft dies auch bei Richter:innen zu?

The­men rund um Asyl­mi­gra­ti­on sind vie­ler­orts sehr prä­sent – im Par­la­ment, in den Medi­en und öffent­li­chen Debat­ten. Stu­di­en zei­gen[1] dass die Pro­mi­nenz, also Sali­enz und Sicht­bar­keit, eines The­mas Ein­stel­lun­gen und Wahl­ver­hal­ten von Bürger:innen beein­flusst, beson­ders wenn es sich beim The­ma um Immi­gra­ti­on han­delt. In Zei­ten in denen Asylthe­men prä­sen­ter sind, sind aus­län­der­feind­li­che Ein­stel­lun­gen ver­brei­te­ter und fin­den ein grös­se­res Gewicht in Wahl­ent­schei­dun­gen.[2] Die­se Stu­die unter­sucht nun, ob sich die Sicht­bar­keit eines The­mas auch auf rich­ter­li­che Ent­schei­de aus­wirkt. Las­sen sich nicht nur Wähler:innen, son­dern auch Richter:innen durch die Pro­mi­nenz von Asyl- und Flucht­the­men beeinflussen?

Um die­se Fra­ge­stel­lung zu ver­deut­li­chen, hilft es, sich fol­gen­des Sze­na­rio vor­zu­stel­len: Unab­hän­gig von­ein­an­der ersu­chen zwei Per­so­nen aus Sri Lan­ka in der Schweiz um Asyl. Bei­de erhal­ten einen nega­ti­ven Asy­l­ent­scheid und bei­de rei­chen eine Beschwer­de dage­gen ein. Bei­de Beschwer­den wer­den dem­sel­ben vor­sit­zen­den Rich­ter, bzw. der­sel­ben vor­sit­zen­den Rich­te­rin, zuge­teilt und im glei­chen Kalen­der­jahr ent­schie­den. Nebst all die­sen Gemein­sam­kei­ten gibt es einen Unter­schied: Wäh­rend des ers­ten Beschwer­de­ver­fah­rens wird in Zei­tun­gen mehr über Asyl-und Flucht­the­men berich­tet als wäh­rend des zwei­ten Beschwer­de­ver­fah­rens. Führt dies dazu, dass die ers­te Beschwer­de eher abge­lehnt wird als die zweite?

Richterliche Entscheidungsfindung und Themensichtbarkeit – Theorie

Es gibt meh­re­re Grün­de anzu­neh­men, dass die Pro­mi­nenz eines The­mas rich­ter­li­che Ent­schei­de nicht beein­flusst. Das Prin­zip der “Gleich­heit vor dem Gesetz” ist durch vie­le Ver­fas­sun­gen garan­tiert. Zudem zei­gen wis­sen­schaft­li­che Unter­su­chun­gen, dass poli­ti­sche Ein­stel­lun­gen von Per­so­nen mit viel Fach­wis­sen und Erfah­rung rela­tiv sta­bil, also wenig beein­fluss­bar, sind.[3] Stu­di­en zur rich­ter­li­chen Ent­schei­dungs­fin­dung zei­gen aber auch, dass das Ent­schei­dungs­ver­hal­ten von Richter:innen in vie­ler­lei Hin­sicht von ähn­li­chen Fak­to­ren geprägt ist, wie das poli­ti­sche Ver­hal­ten von Bürger:innen. So kön­nen Wert­vor­stel­lun­gen und (poli­ti­sche) Ein­stel­lun­gen sowohl in Wahl- und Abstim­mungs­ent­schei­den von Bürger:innen wie auch in Gerichts­ent­schei­den von Richter:innen eine Rol­le spie­len.[4]

Bis­her ist nicht geklärt, ob und wie sich die Pro­mi­nenz eines The­mas auf rich­ter­li­che Ent­schei­de in dem­sel­ben The­men­be­reich aus­wirkt. Gera­de für stark poli­ti­sier­te und pro­mi­nen­te The­men­be­rei­che wie Asyl­mi­gra­ti­on, wo rich­ter­li­che Ent­schei­de ein­schnei­den­de Aus­wir­kun­gen auf das Leben der Beschwer­de­füh­ren­den haben, ist dies jedoch wich­tig zu verstehen.

Asylbeschwerdeentscheide und Themensichtbarkeit – Empirie

Die vor­lie­gen­de Stu­die schliesst die­se Lücke und unter­sucht, ob es zwi­schen der Pro­mi­nenz des Asyl­the­mas und den Ent­schei­den der Asyl­ab­tei­lun­gen des Schwei­ze­ri­schen Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richts (im Zeit­raum 2007–2015) einen Zusam­men­hang gibt. Um Ver­än­de­run­gen in der The­men­sicht­bar­keit über Zeit zu mes­sen, stützt sich die Stu­die auf die Medi­en­be­richt­erstat­tung zu Asyl- und Flucht­the­men in 19 Schwei­zer Tages‑, Sonn­tags- und Wochen­zei­tun­gen. So lässt sich für jede ent­schie­de­ne Asyl­be­schwer­de die durch­schnitt­li­che The­men­sicht­bar­keit wäh­rend ihrer Behand­lungs­zeit berech­nen – sie ergibt sich aus der durch­schnitt­li­chen Anzahl Zei­tungs­ar­ti­kel zu Asyl- und Flucht­the­men pro Tag wäh­rend des Beschwer­de­ver­fah­rens. Wenn ansons­ten ähn­li­che Beschwer­den, die in Zei­ten höhe­rer The­men­sicht­bar­keit ent­schie­den wer­den, im Durch­schnitt eine tie­fe­re Wahr­schein­lich­keit haben, gut­ge­heis­sen zu wer­den, deu­tet dies dar­auf hin, dass die The­men­sicht­bar­keit eine Rol­le in rich­ter­li­chen Ent­schei­den spie­len kann.

Die Ana­ly­se von mehr als 30’000 Ent­schei­den zeigt, dass Richter:innen ähn­li­che Asyl­be­schwer­den eher ableh­nen, wenn wäh­rend des Beschwer­de­ver­fah­rens Asylthe­men pro­mi­nen­ter in den Medi­en erschei­nen. Ein klei­nes Zah­len­bei­spiel kann die Grös­sen­ord­nung der gemes­se­nen Effek­te ver­an­schau­li­chen. Ange­nom­men die oben beschrie­be­nen Beschwer­den von Per­so­nen aus Sri Lan­ka wer­den bei­de im ers­ten Quar­tal des Jah­res 2014 ent­schie­den. Im Monat vor dem Ent­scheid der ers­ten Beschwer­de erschei­nen täg­lich 23 Zei­tungs­ar­ti­kel zu Asylthe­men, im Monat vor dem Ent­scheid der zwei­ten Beschwer­de jedoch ledig­lich 14 Zei­tungs­ar­ti­kel pro Tag. Die­ser Unter­schied von 9 Arti­keln pro Tag führt dazu, dass die ers­te Beschwer­de eine um 3.2 Pro­zent­punk­te tie­fe­re Gut­heis­sungs­wahr­schein­lich­keit hat als die zwei­te Beschwer­de. Abbil­dung 1 stellt die­sen Zusam­men­hang detail­lier­ter dar.

Abbildung 1: Gutheissungsrate nach Prominenz des Asylthemas

Anmerkung: Die Linie präsentiert modell-basierte Wahrscheinlichkeitsvorhersagen in Abhängigkeit der Themensichtbarkeit. Sie beziehen sich auf eine (hypothetische) Asylbeschwerde einer Person aus Sri Lanka, die im ersten Quartal des Jahres 2014 von einem Spruchkörper, welchem der/die Medianrichter:in der BVGer Abteilungen IV und V vorsitzt, entschieden wird. Lesebeispiel: Bei einer Themensichtbarkeit von 14 im Monat vor dem Beschwerdeentscheid liegt die modell-basierte Gutheissungswahrscheinlichkeit bei ca. 25%. Wenn die Themensichtbarkeit um 9 Artikel pro Tag auf 23 Artikel pro Tag steigt, reduziert sich die Gutheissungswahrscheinlichkeit um 3.2 Prozentpunkte auf ca. 22%. Dies stellt eine Reduktion der Gutheissungswahrscheinlichkeit um ca. 13% dar.

Wei­te­re Ana­ly­sen deu­ten dar­auf hin, dass die­ser Effekt eher nicht durch stra­te­gi­sches Ver­hal­ten der Richter:innen zustan­de kommt, und mög­li­cher­wei­se auf einer unbe­wuss­ten Ebe­ne statt­fin­det. So gibt es weder Anzei­chen dafür, dass aus­schliess­lich Richter:innen lin­ker oder rech­ter Par­tei­en auf The­men­sicht­bar­keit reagie­ren, noch dass Sicht­bar­keits­ef­fek­te nur zu gewis­sen Zeit­punk­ten – z.B. vor den Richter:innenwahlen – exis­tie­ren. Eine auto­ma­ti­sier­te Text­ana­ly­se der Zei­tungs­ar­ti­kel zeigt zudem, dass der Sicht­bar­keits­ef­fekt grös­ser ist, wenn Zei­tun­gen mehr über Asylthe­men berich­ten, die nach­weis­lich gene­rell asyl­kri­ti­sche Ein­stel­lun­gen bei Bür­ge­rin­nen und Bür­gern begüns­ti­gen. Zusam­men­ge­fasst zeigt die Stu­die, dass Inkon­sis­tenz bei rich­ter­li­chen Ent­schei­den nicht nur durch Unter­schie­de zwi­schen Richter:innen resul­tie­ren kann, son­dern auch, wenn die­sel­ben Richter:innen zu ver­schie­de­nen Zeit­punk­ten entscheiden.


[1] Sie­he z.B. Wea­ver (1991); Lavi­ne et al. (1996).

[2] Ben­esch et al. (2019); Den­ni­son and Ged­des (2019); Hop­kins (2010); Mader and Schoen (2019); Snider­man et al. (2004)

[3] Jen­nings (1992); Zal­ler (1992)

[4] Sun­stein et al. (2007)

Refe­renz: Deut­sche Zusam­men­fas­sung des wis­sen­schaft­li­chen Arti­kels Spi­rig, Judith (forth­co­m­ing) When Issue Sali­ence Affects Adju­di­ca­ti­on: Evi­dence from Swiss Asyl­um Appeal Decisi­ons, Ame­ri­can Jour­nal of Poli­ti­cal Sci­ence, online erschie­nen am 13. Mai 2021. Judith Spi­rig ist Lec­tu­rer (Assis­tenz­pro­fes­so­rin) am Depart­ment of Poli­ti­cal Sci­ence, Uni­ver­si­ty Col­le­ge Lon­don, 29/31 Tavistock Squa­re, Lon­don, WC1H 9QU, United King­dom; und Affi­lia­te, Immi­gra­ti­on Poli­cy Lab, ETH Zurich, Leon­hards­hal­de 21, 8090 Zurich, Schweiz ( j.spirig@ucl.ac.uk). Das For­schungs­pro­jekt wur­de vom Schwei­ze­ri­schen Natio­nal­fonds mit einem Doc.CH Sti­pen­di­um unter­stützt (Grant No. 159161). Die Autorin bedankt sich bei Expert:innen und Kolleg:innen für hilf­rei­che Kom­men­ta­re (cf. Arti­kel für aus­führ­li­che­re Dank­sa­gung) und beim Schwei­ze­ri­schen Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt für das Zur­ver­fu­gung­stel­len der Daten. (Zusam­men­fas­sungs­ver­si­on 4) 

Bild: unsplash.com

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