Wie geht es weiter in Afghanistan?

Seit­dem die Tali­ban offi­zi­ell die Kon­trol­le über Afgha­ni­stan über­nom­men haben, sind die indi­vi­du­el­len Frei­hei­ten und die Rech­te der Geschlech­ter bedroht. An ihrem von den 1990er Jah­ren inspi­rier­ten har­ten Regie­rungs­mo­dell fest­zu­hal­ten, wird aber schwierig.

Am 31. August 2021 been­de­te die US-Regie­rung ihren 20-jäh­ri­gen Krieg in Afgha­ni­stan. Fra­gen dräng­ten sich dar­über auf, mit wel­cher Leich­tig­keit die afgha­ni­schen Streit­kräf­te kata­pul­tier­ten, und wie schnell sich die Koali­ti­ons­grup­pen aus Kabul zurück­zo­gen. Infol­ge­des­sen über­nah­men die Tali­ban und ihre Ver­bün­de­ten die Haupt­stadt des Lan­des und voll­ende­ten ihre Über­nah­me Afgha­ni­stans. Mit die­sem Abzug wur­de das von mehr als vier Jahr­zehn­ten Krieg und Insta­bi­li­tät gezeich­ne­te Afgha­ni­stan — wie die BBC-Jour­na­lis­tin Lyse Dou­cet es aus­drück­te — “auf den Kopf gestellt und von innen nach außen gekehrt”.

Beob­ach­te­rin­nen und Beob­ach­ter inner­halb und außer­halb Afgha­ni­stans fra­gen sich, wie es dem Land unter der neu ange­kün­dig­ten Über­gangs­re­gie­rung erge­hen wird, wäh­rend die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft noch dar­über nach­denkt, ob sie mit den Tali­ban zusam­men­ar­bei­ten oder sie iso­lie­ren soll.

Eine “inklusive” Regierung?

Die rela­tiv ver­söhn­li­chen Anfän­ge (wenn auch nur in den Main­stream-Medi­en und in den sozia­len Medi­en), die Arbeits­be­schrän­kun­gen für Frau­en und das har­te Vor­ge­hen gegen Jour­na­lis­tin­nen und Jour­na­lis­ten sowie jun­ge Demons­tran­tin­nen und Demons­tran­ten, die sowohl gegen die Tali­ban als auch gegen die Rol­le Paki­stans im afgha­ni­schen Kon­flikt pro­tes­tier­ten, deu­ten auf den Weg eines von den Tali­ban regier­ten Afgha­ni­stans, gleich­zei­tig aber auch auf den Wider­stand hin, den die Grup­pe bei jun­gen und gebil­de­ten Afgha­nin­nen und Afgha­nen erfah­ren wird.

Ande­rer­seits kün­dig­ten die Tali­ban am 7. Sep­tem­ber 2021 die Ein­set­zung einer Über­gangs­re­gie­rung an. Die Tali­ban hat­ten zunächst erklärt, dass sie eine “inklu­si­ve” Regie­rung bil­den woll­ten. Nach ihren eige­nen Wor­ten bedeu­te­te “inklu­siv” die Ein­be­zie­hung aller reprä­sen­ta­ti­ven (eth­ni­schen und reli­giö­sen) Grup­pen des Lan­des, ohne auf wei­te­re Ein­zel­hei­ten ein­zu­ge­hen. Die Lis­te der Kabi­netts­mit­glie­der und hoch­ran­gi­gen Beam­ten zeich­ne­te sich jedoch durch die Anwe­sen­heit von Tali­ban- und Haq­qa­ni-Mit­glie­dern der har­ten Linie (z. B. der von den USA sank­tio­nier­te Sira­jud­din Haq­qa­ni) und Loya­lis­ten sowie durch den Aus­schluss von Frau­en von allen Spit­zen­po­si­tio­nen aus. Auch wenn das Regime ver­sucht, sich zu kon­so­li­die­ren, steht es in Bezug auf die Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlech­ter und die Ter­ro­ris­mus­be­kämp­fung unter inner­staat­li­chem und inter­na­tio­na­lem Druck.

Die Verbindungen zum Terrorismus

Was den Ter­ro­ris­mus betrifft, so haben die Tali­ban der Welt­ge­mein­schaft ver­si­chert, dass sie ter­ro­ris­ti­sche Grup­pen, ins­be­son­de­re Al-Qai­da und den IS‑K (Isla­mi­scher Staat im Irak und in der Levan­te — Pro­vinz Cho­ra­san), dar­an hin­dern wer­den, in ande­ren Län­dern Ter­ror­an­schlä­ge zu ver­üben. Vie­le befürch­ten jedoch ein Wie­der­auf­le­ben von Al-Qai­da unter dem Tali­ban-Regime, da die­se immer noch Osa­ma bin Laden ver­tei­di­gen und sei­ne Betei­li­gung an den Anschlä­gen vom 11. Sep­tem­ber bestrei­ten. Dies deu­tet auch dar­auf hin, dass die Tali­ban ein Fai­ble für die Al-Qai­da haben. Die Füh­rung der Al-Qai­da hat vor kur­zem eine Erklä­rung ver­öf­fent­licht, in der sie dem Isla­mi­schen Emi­rat (sprich: den Tali­ban) zu ihrem Sieg in Afgha­ni­stan gra­tu­liert. Sira­jud­din Haq­qa­ni, Anfüh­rer des berüch­tig­ten Haq­qa­ni-Netz­werks und Ver­bün­de­ter der Tali­ban, wur­de zum Innen­mi­nis­ter des Lan­des ernannt, der von der Über­gangs­re­gie­rung ein­ge­setzt wur­de. Haq­qa­ni wird immer noch vom US-FBI gesucht und auf ihn ist wegen sei­ner engen Ver­bin­dun­gen zu den Tali­ban und Al-Qai­da ein Kopf­geld von bis zu 10 Mil­lio­nen US-Dol­lar aus­ge­setzt. Da Siraj für die inne­re Sicher­heit des Lan­des zustän­dig ist, ist ein Vor­ge­hen gegen die Al-Qai­da unwahrscheinlich. 

Was den IS‑K betrifft, so deu­ten die Erklä­run­gen der Tali­ban auf dem Papier dar­auf hin, dass die Grup­pe beab­sich­tigt, gegen den IS‑K vor­zu­ge­hen. Was die prak­ti­sche Umset­zung betrifft, so ist die­se sowohl vage als auch kom­plex. In ihren Gesprä­chen mit den loka­len Medi­en haben Tali­ban-Spre­cher gehofft, dass der Rück­zug der USA aus Afgha­ni­stan, der das Ende der aus­län­di­schen Besat­zung bedeu­tet, die IS-K-Kämp­fer dazu bewe­gen wird, kei­ne Ter­ror­an­schlä­ge mehr zu ver­üben. Sol­che Äuße­run­gen klin­gen eher nach Wunsch­den­ken als nach einem prag­ma­ti­schen Politikentwurf.

Die Politik der Taliban in Bezug auf Frauen

Die Tali­ban haben sich bewusst vage gehal­ten, wenn es um ihre Poli­tik in Bezug auf Frau­en und Geschlech­ter­rech­te geht. Auf die Fra­ge nach ihrer Poli­tik in die­ser Ange­le­gen­heit lau­tet die all­ge­mei­ne Ant­wort der Tali­ban, dass sie “die Rech­te der Frau­en im Rah­men der Scha­ria unter­stüt­zen”; dies ist auch der Grund, war­um das Minis­te­ri­um für Frau­en­an­ge­le­gen­hei­ten sofort auf­ge­löst und das Minis­te­ri­um für Las­ter und Tugen­den wie­der ein­ge­rich­tet wur­de. Was das in der Pra­xis bedeu­tet, wird nicht näher erläutert. 

In einem kürz­lich geführ­ten Inter­view mit der BBC hat­te ein Tali­ban-Spre­cher erklärt, dass “Frau­en nicht im Kabi­nett oder in Spit­zen­po­si­tio­nen [in ihrer Regie­rung] ver­tre­ten sein wer­den.  Aber sie könn­ten auf einer nied­ri­ge­ren Ebe­ne arbei­ten”. Die­se Aus­sa­ge bestä­tigt, dass sich die Sicht­wei­se der Tali­ban auf die Frau­en in Afgha­ni­stan nicht wesent­lich geän­dert hat. Sie sehen Frau­en als “unfä­hig” an, lei­ten­de oder ent­schei­dungs­re­le­van­te Funk­tio­nen zu über­neh­men. Dies ist ein pro­ble­ma­ti­sches, hyper­mas­ku­li­nes Ver­ständ­nis der Rol­le der Frau in der Gesell­schaft, ins­be­son­de­re in Afghanistan. 

Warum Sanktionen eher schaden

Was schließ­lich das Enga­ge­ment in Afgha­ni­stan in einem Post-US/­NA­TO-Sze­na­rio betrifft, so wird die Welt­ge­mein­schaft ihre grund­le­gen­den Annah­men ändern müs­sen, indem sie Afgha­ni­stan nicht mehr unter dem Gesichts­punkt der Sicher­heit, son­dern aus einer huma­ni­tä­ren Per­spek­ti­ve betrach­tet. Die Tali­ban ver­fü­gen über Zehn­tau­sen­de von Mit­glie­dern und Kämp­fern, wäh­rend die Gesamt­be­völ­ke­rung Afgha­ni­stans über 38 Mil­lio­nen beträgt. Das bedeu­tet, dass Embar­gos und Sank­tio­nen zwar den Tali­ban auf admi­nis­tra­ti­ver Ebe­ne scha­den, aber für die afgha­ni­sche Bevöl­ke­rung, die vom Hun­ger­tod bedroht ist, noch schlim­me­re Fol­gen haben werden.

Die US-Regie­rung hat Berich­ten zufol­ge fast 10 Mil­li­ar­den Dol­lar der natio­na­len Reser­ven Afgha­ni­stans ein­ge­fro­ren. Die­ses Ein­frie­ren birgt die Gefahr einer gro­ßen finan­zi­el­len und huma­ni­tä­ren Kri­se in dem Land, da die Ban­ken jüngs­ten Berich­ten zufol­ge immer noch geschlos­sen sind. Da die Afgha­nin­nen und Afgha­nen nur begrenz­ten Zugang zu liqui­den Mit­teln haben, kön­nen sie kei­ne Waren des täg­li­chen Bedarfs kau­fen, um zu über­le­ben. Wenn die­se Situa­ti­on anhält, wer­den in Afgha­ni­stan bald Cha­os und sozio­öko­no­mi­sche Insta­bi­li­tät herr­schen. Anders als in den 1990er Jah­ren kann die Welt­ge­mein­schaft im Jahr 2021 kei­ne Poli­tik für Afgha­ni­stan for­mu­lie­ren, die auf einer binä­ren Sicher­heits­be­trach­tung beruht, bei der Afgha­ni­stan und das afgha­ni­sche Volk unter den ver­gan­ge­nen Ver­bre­chen und der künf­ti­gen Poli­tik der Tali­ban lei­den. Statt­des­sen soll­te jede künf­ti­ge poli­ti­sche Aus­rich­tung die Kos­ten im Auge behal­ten, die die afgha­ni­sche Bevöl­ke­rung, die sich für den Ver­bleib im Land ent­schie­den hat, für alle vor­her­seh­ba­ren Sank­tio­nen gegen das Land zah­len wird.

Kein hartes Regierungsmodell wie in den 1990er Jahren

Seit­dem die Tali­ban offi­zi­ell die Kon­trol­le über Afgha­ni­stan über­nom­men haben, sind die indi­vi­du­el­len Frei­hei­ten und die Rech­te der Geschlech­ter bedroht. Trotz der Gewalt und der Kon­flik­te, die die afgha­ni­sche Gesell­schaft und Wirt­schaft in den letz­ten zwei Jahr­zehn­ten heim­ge­sucht haben, hat­ten die Afgha­nen gelernt, eini­ge die­ser indi­vi­du­el­len Frei­hei­ten zu genie­ßen: in den Medi­en, im Bil­dungs­we­sen und im Arbeits­le­ben. Die Pro­tes­te jun­ger Afgha­nin­nen und Afgha­nen, ins­be­son­de­re von Frau­en, deu­ten dar­auf hin, dass das Tali­ban-Regime im eige­nen Land auf star­ken Wider­stand sto­ßen wird und es daher für die Grup­pe schwie­rig sein wird, an ihrem von den 1990er Jah­ren inspi­rier­ten har­ten Regie­rungs­mo­dell festzuhalten.


Refe­renz:

Bild: unsplash.com

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