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Die Erfolgschancen von Asylbeschwerden sind tiefer wenn Asylthemen in der Öffentlichkeit präsenter sind

Judith Spirig
17th Januar 2022

Das Wahlverhalten von Bürger:innen wird durch die Prominenz von Themen, etwa im Parlament, in den Medien und öffentlichen Debatten, beeinflusst – insbesondere bei Asylthemen. Doch trifft dies auch bei Richter:innen zu?

Themen rund um Asylmigration sind vielerorts sehr präsent – im Parlament, in den Medien und öffentlichen Debatten. Studien zeigen[1] dass die Prominenz, also Salienz und Sichtbarkeit, eines Themas Einstellungen und Wahlverhalten von Bürger:innen beeinflusst, besonders wenn es sich beim Thema um Immigration handelt. In Zeiten in denen Asylthemen präsenter sind, sind ausländerfeindliche Einstellungen verbreiteter und finden ein grösseres Gewicht in Wahlentscheidungen.[2] Diese Studie untersucht nun, ob sich die Sichtbarkeit eines Themas auch auf richterliche Entscheide auswirkt. Lassen sich nicht nur Wähler:innen, sondern auch Richter:innen durch die Prominenz von Asyl- und Fluchtthemen beeinflussen?

Um diese Fragestellung zu verdeutlichen, hilft es, sich folgendes Szenario vorzustellen: Unabhängig voneinander ersuchen zwei Personen aus Sri Lanka in der Schweiz um Asyl. Beide erhalten einen negativen Asylentscheid und beide reichen eine Beschwerde dagegen ein. Beide Beschwerden werden demselben vorsitzenden Richter, bzw. derselben vorsitzenden Richterin, zugeteilt und im gleichen Kalenderjahr entschieden. Nebst all diesen Gemeinsamkeiten gibt es einen Unterschied: Während des ersten Beschwerdeverfahrens wird in Zeitungen mehr über Asyl-und Fluchtthemen berichtet als während des zweiten Beschwerdeverfahrens. Führt dies dazu, dass die erste Beschwerde eher abgelehnt wird als die zweite?

Richterliche Entscheidungsfindung und Themensichtbarkeit – Theorie

Es gibt mehrere Gründe anzunehmen, dass die Prominenz eines Themas richterliche Entscheide nicht beeinflusst. Das Prinzip der “Gleichheit vor dem Gesetz” ist durch viele Verfassungen garantiert. Zudem zeigen wissenschaftliche Untersuchungen, dass politische Einstellungen von Personen mit viel Fachwissen und Erfahrung relativ stabil, also wenig beeinflussbar, sind.[3] Studien zur richterlichen Entscheidungsfindung zeigen aber auch, dass das Entscheidungsverhalten von Richter:innen in vielerlei Hinsicht von ähnlichen Faktoren geprägt ist, wie das politische Verhalten von Bürger:innen. So können Wertvorstellungen und (politische) Einstellungen sowohl in Wahl- und Abstimmungsentscheiden von Bürger:innen wie auch in Gerichtsentscheiden von Richter:innen eine Rolle spielen.[4]

Bisher ist nicht geklärt, ob und wie sich die Prominenz eines Themas auf richterliche Entscheide in demselben Themenbereich auswirkt. Gerade für stark politisierte und prominente Themenbereiche wie Asylmigration, wo richterliche Entscheide einschneidende Auswirkungen auf das Leben der Beschwerdeführenden haben, ist dies jedoch wichtig zu verstehen.

Asylbeschwerdeentscheide und Themensichtbarkeit – Empirie

Die vorliegende Studie schliesst diese Lücke und untersucht, ob es zwischen der Prominenz des Asylthemas und den Entscheiden der Asylabteilungen des Schweizerischen Bundesverwaltungsgerichts (im Zeitraum 2007-2015) einen Zusammenhang gibt. Um Veränderungen in der Themensichtbarkeit über Zeit zu messen, stützt sich die Studie auf die Medienberichterstattung zu Asyl- und Fluchtthemen in 19 Schweizer Tages-, Sonntags- und Wochenzeitungen. So lässt sich für jede entschiedene Asylbeschwerde die durchschnittliche Themensichtbarkeit während ihrer Behandlungszeit berechnen – sie ergibt sich aus der durchschnittlichen Anzahl Zeitungsartikel zu Asyl- und Fluchtthemen pro Tag während des Beschwerdeverfahrens. Wenn ansonsten ähnliche Beschwerden, die in Zeiten höherer Themensichtbarkeit entschieden werden, im Durchschnitt eine tiefere Wahrscheinlichkeit haben, gutgeheissen zu werden, deutet dies darauf hin, dass die Themensichtbarkeit eine Rolle in richterlichen Entscheiden spielen kann.

Die Analyse von mehr als 30’000 Entscheiden zeigt, dass Richter:innen ähnliche Asylbeschwerden eher ablehnen, wenn während des Beschwerdeverfahrens Asylthemen prominenter in den Medien erscheinen. Ein kleines Zahlenbeispiel kann die Grössenordnung der gemessenen Effekte veranschaulichen. Angenommen die oben beschriebenen Beschwerden von Personen aus Sri Lanka werden beide im ersten Quartal des Jahres 2014 entschieden. Im Monat vor dem Entscheid der ersten Beschwerde erscheinen täglich 23 Zeitungsartikel zu Asylthemen, im Monat vor dem Entscheid der zweiten Beschwerde jedoch lediglich 14 Zeitungsartikel pro Tag. Dieser Unterschied von 9 Artikeln pro Tag führt dazu, dass die erste Beschwerde eine um 3.2 Prozentpunkte tiefere Gutheissungswahrscheinlichkeit hat als die zweite Beschwerde. Abbildung 1 stellt diesen Zusammenhang detaillierter dar.

Abbildung 1: Gutheissungsrate nach Prominenz des Asylthemas

Anmerkung: Die Linie präsentiert modell-basierte Wahrscheinlichkeitsvorhersagen in Abhängigkeit der Themensichtbarkeit. Sie beziehen sich auf eine (hypothetische) Asylbeschwerde einer Person aus Sri Lanka, die im ersten Quartal des Jahres 2014 von einem Spruchkörper, welchem der/die Medianrichter:in der BVGer Abteilungen IV und V vorsitzt, entschieden wird. Lesebeispiel: Bei einer Themensichtbarkeit von 14 im Monat vor dem Beschwerdeentscheid liegt die modell-basierte Gutheissungswahrscheinlichkeit bei ca. 25%. Wenn die Themensichtbarkeit um 9 Artikel pro Tag auf 23 Artikel pro Tag steigt, reduziert sich die Gutheissungswahrscheinlichkeit um 3.2 Prozentpunkte auf ca. 22%. Dies stellt eine Reduktion der Gutheissungswahrscheinlichkeit um ca. 13% dar.

Weitere Analysen deuten darauf hin, dass dieser Effekt eher nicht durch strategisches Verhalten der Richter:innen zustande kommt, und möglicherweise auf einer unbewussten Ebene stattfindet. So gibt es weder Anzeichen dafür, dass ausschliesslich Richter:innen linker oder rechter Parteien auf Themensichtbarkeit reagieren, noch dass Sichtbarkeitseffekte nur zu gewissen Zeitpunkten – z.B. vor den Richter:innenwahlen – existieren. Eine automatisierte Textanalyse der Zeitungsartikel zeigt zudem, dass der Sichtbarkeitseffekt grösser ist, wenn Zeitungen mehr über Asylthemen berichten, die nachweislich generell asylkritische Einstellungen bei Bürgerinnen und Bürgern begünstigen. Zusammengefasst zeigt die Studie, dass Inkonsistenz bei richterlichen Entscheiden nicht nur durch Unterschiede zwischen Richter:innen resultieren kann, sondern auch, wenn dieselben Richter:innen zu verschiedenen Zeitpunkten entscheiden.


[1] Siehe z.B. Weaver (1991); Lavine et al. (1996).

[2] Benesch et al. (2019); Dennison and Geddes (2019); Hopkins (2010); Mader and Schoen (2019); Sniderman et al. (2004)

[3] Jennings (1992); Zaller (1992)

[4] Sunstein et al. (2007)

Referenz: Deutsche Zusammenfassung des wissenschaftlichen Artikels Spirig, Judith (forthcoming) When Issue Salience Affects Adjudication: Evidence from Swiss Asylum Appeal Decisions, American Journal of Political Science, online erschienen am 13. Mai 2021. Judith Spirig ist Lecturer (Assistenzprofessorin) am Department of Political Science, University College London, 29/31 Tavistock Square, London, WC1H 9QU, United Kingdom; und Affiliate, Immigration Policy Lab, ETH Zurich, Leonhardshalde 21, 8090 Zurich, Schweiz ( j.spirig@ucl.ac.uk). Das Forschungsprojekt wurde vom Schweizerischen Nationalfonds mit einem Doc.CH Stipendium unterstützt (Grant No. 159161). Die Autorin bedankt sich bei Expert:innen und Kolleg:innen für hilfreiche Kommentare (cf. Artikel für ausführlichere Danksagung) und beim Schweizerischen Bundesverwaltungsgericht für das Zurverfugungstellen der Daten. (Zusammenfassungsversion 4) 

Bild: unsplash.com