Die Gretchenfrage der Schweizer Armee

Bei der schwei­ze­ri­schen Lan­des­ver­tei­di­gung han­delt es sich um einen der weni­gen Poli­tik­be­rei­che, in dem die vol­le Gleich­be­rech­ti­gung von Frau und Mann eine Min­der­pri­vi­le­gie­rung der Frau­en nach sich zie­hen wür­de. Trotz­dem – oder auch gera­de des­we­gen – for­dern ver­schie­de­ne Krei­se ein mehr oder weni­ger radi­ka­les Umden­ken. Ein kürz­lich erschie­ne­nes Buch­ka­pi­tel lie­fert dazu einen his­to­risch-poli­ti­schen Abriss.

Die Gret­chen­fra­ge der Schwei­zer Armee, sie bezieht sich auf den Ein­be­zug der Frau­en. Aktu­ell sind nur gera­de 0.9 Pro­zent aller Armee­an­ge­hö­ri­gen weib­li­chen Geschlechts. Ob die heu­ti­ge Armee zudem im Stan­de wäre, das Land vor neu­en – und wel­chen – Gefah­ren tat­säch­lich zu schüt­zen, feu­ert die­se Fra­ge zusätz­lich an. Seit Über­nah­me des VBS durch Bun­des­rä­tin Vio­la Amherd per 2019 scheint ein Ruck durch die Sache zu gehen. So ist etwa für den 4. März 2022 ein Tag der Frau­en in der Armee geplant. Tat­säch­lich ist die The­ma­tik jedoch viel älter; schon 1957 etwa lehn­te das Volk eine auch für Schwei­zer Frau­en obli­ga­to­ri­sche «Schutz­dienst­pflicht» ab.

Gleiche Rechte, gleiche Pflichten?

Nach dem Grund­satz «Glei­che Rech­te, glei­che Pflich­ten» ist die Dienst­pflicht nur für Schwei­zer Män­ner eigent­lich unhalt­bar. Alt Natio­nal­rat Arthur Loep­fe schrieb dazu in einem Bericht zur Revi­si­on des Dienst­pflicht­sys­tems: «Die Rege­lung ist for­mell […] ver­fas­sungs­kon­form, tat­säch­lich ist die Ungleich­be­hand­lung der Geschlech­ter jedoch offen­sicht­lich; zumal auch in der Armee heu­te eine gros­se Zahl von Spe­zia­lis­ten­funk­tio­nen kei­ne aus­ser­ge­wöhn­li­chen kör­per­li­che Anfor­de­run­gen mehr stel­len.» Damit stellt er fest, dass in der heu­ti­gen Zeit auch Frau­en für die Lan­des­ver­tei­di­gung rele­van­te Auf­ga­ben über­neh­men kön­nen. Da sie es kön­nen, dür­fen sie auch; ob sie es auch wol­len und schliess­lich gar sol­len, sind jedoch ande­re Fragen.

Ein wei­te­rer Aspekt soll­te dabei nicht ver­nach­läs­sigt wer­den. De jure sind Frau­en mit dem Gleich­stel­lungs­ar­ti­kel (Art. 8.3 BV) gleich­be­rech­tigt. De fac­to ist die­se Gleich­stel­lung aller­dings nicht gewähr­leis­tet. Wie Natio­nal­rä­tin Mar­grith von Fel­ten (SP, BS) bereits 1996 verdeutlichte:

«Dienst für die Gemein­schaft wird heu­te schon geleis­tet. Gemäss einer Zeit­bud­get­er­he­bung wer­den in der Schweiz pro Woche rund 130 Mil­lio­nen Stun­den Gra­tis­ar­beit geleis­tet, 130 Mil­lio­nen Stun­den unent­gelt­li­cher Sozi­al­ar­beit und ehren­amt­li­cher Arbeit. Die­se Arbeit wird von vier Fünf­teln von Frau­en erle­digt. […] Frau­en leis­ten also heu­te schon sie­ben Mal mehr Gemein­schafts­dienst als Män­ner, tagtäglich.»

In der Fra­ge, ob Frau­en auch in Bezug auf die Armee glei­che Rech­te und Pflich­ten zukom­men sol­len wie Män­nern, geht es also auch um Defi­ni­tio­nen des Begriffs «Dienst». Sol­len Frau­en armee­dienst­pflich­tig wer­den, obwohl sie nach wie vor deut­lich mehr Care-Arbeit leis­ten? Genau hier setzt die Idee des «nor­we­gi­schen Modells» an.

Das norwegische Modell: eine zukunftsorientierte Armee?

Natür­lich sind die gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lun­gen der letz­ten Jahr­zehn­te der Poli­tik nicht ent­gan­gen; eif­rig wur­den denn auch ver­schie­de­ne Vor­stös­se in den eid­ge­nös­si­schen Räten lan­ciert und dis­ku­tiert. Neben kurz- und mit­tel­fris­ti­gen Pro­gram­men, wel­che die Lan­des­ver­tei­di­gung moder­ni­sie­ren, sticht vor allem der erwähn­te Loep­fe Bericht über die lang­fris­ti­ge Umstruk­tu­rie­rung der Armee her­aus. Dem Bericht liegt fol­gen­de Fra­ge zu Grun­de: «Wel­chen Her­aus­for­de­run­gen steht das Dienst­pflicht­sys­tem nach dem Jahr 2030 gegen­über?». Dazu wer­den erst­mals die Wech­sel­wir­kun­gen zwi­schen Armee, Zivil­dienst, Zivil­schutz, Wehr­pflich­ter­satz­ab­ga­ben und Erwerbs­er­satz­ord­nung auf­ge­zeigt. Der Bericht stellt zwei Ziel­kon­flik­te im heu­ti­gen Dienst­pflicht­mo­dell fest: (1) Die Gleich­be­hand­lung von Mann und Frau und damit ver­bun­den die Fra­ge, ob auch Frau­en dienst­pflich­tig sein sol­len. (2) Der zwei­te Kon­flikt knüpft am ers­ten an, es han­delt sich um die Bedarfs­fra­ge. Die Stu­di­en­grup­pe ist der Ansicht, dass nicht mög­lichst vie­le Dienst­pflich­ti­ge beschäf­tigt wer­den sol­len, son­dern die Rekru­tie­rung auf den Bedarf der Ein­satz­or­ga­ni­sa­ti­on aus­ge­rich­tet sein soll.

Abbildung 1: Die verschiedenen Dienstpflichtmodelle
Quelle: Loepfe-Bericht 2016, S. 150

In einem Dienst­pflicht­sys­tem nach dem nor­we­gi­schen Vor­bild könn­ten im Prin­zip bei­de Kon­flik­te gelöst wer­den. Sodann wären zwar alle Schweizer*innen dienstpflich­tig, es wür­den aber nur die­je­ni­gen auch tat­säch­lich einen Dienst leis­ten, wel­che man benö­tigt und wel­che sich am bes­ten eig­nen (Abbil­dung 1). Alle nicht rekru­tier­ten Bürger*innen ent­rich­te­ten eine Ersatz­steu­er. Dadurch wür­de der Pool der Dienst­pflich­ti­gen ver­grös­sert und es ergä­ben sich höhe­re Chan­cen, spe­zia­li­sier­tes Per­so­nal zu fin­den. Auf aktu­el­le Gefah­ren für das Land – Ter­ro­ris­mus, Kli­ma­wan­del, Pan­de­mie – könn­te spe­zi­fi­scher und effi­zi­en­ter ein­ge­gan­gen wer­den. Für die defi­ni­ti­ve Umset­zung benö­tig­te es aller­dings eine Revi­si­on der Bun­des­ver­fas­sung und damit eine Zustim­mung von Volk und Stän­den. Ende die­ses Jah­res ver­öf­fent­licht das VBS dazu sei­ne Über­le­gun­gen – wer weiss: viel­leicht wird schon bald dar­über abgestimmt?


Refe­renz: 

Bild: unsplash.com

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