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Die Gretchenfrage der Schweizer Armee

Sean Mueller, Céline Helfenstein
7th Dezember 2021

Bei der schweizerischen Landesverteidigung handelt es sich um einen der wenigen Politikbereiche, in dem die volle Gleichberechtigung von Frau und Mann eine Minderprivilegierung der Frauen nach sich ziehen würde. Trotzdem – oder auch gerade deswegen – fordern verschiedene Kreise ein mehr oder weniger radikales Umdenken. Ein kürzlich erschienenes Buchkapitel liefert dazu einen historisch-politischen Abriss.

Die Gretchenfrage der Schweizer Armee, sie bezieht sich auf den Einbezug der Frauen. Aktuell sind nur gerade 0.9 Prozent aller Armeeangehörigen weiblichen Geschlechts. Ob die heutige Armee zudem im Stande wäre, das Land vor neuen – und welchen – Gefahren tatsächlich zu schützen, feuert diese Frage zusätzlich an. Seit Übernahme des VBS durch Bundesrätin Viola Amherd per 2019 scheint ein Ruck durch die Sache zu gehen. So ist etwa für den 4. März 2022 ein Tag der Frauen in der Armee geplant. Tatsächlich ist die Thematik jedoch viel älter; schon 1957 etwa lehnte das Volk eine auch für Schweizer Frauen obligatorische «Schutzdienstpflicht» ab.

Gleiche Rechte, gleiche Pflichten?

Nach dem Grundsatz «Gleiche Rechte, gleiche Pflichten» ist die Dienstpflicht nur für Schweizer Männer eigentlich unhaltbar. Alt Nationalrat Arthur Loepfe schrieb dazu in einem Bericht zur Revision des Dienstpflichtsystems: «Die Regelung ist formell […] verfassungskonform, tatsächlich ist die Ungleichbehandlung der Geschlechter jedoch offensichtlich; zumal auch in der Armee heute eine grosse Zahl von Spezialistenfunktionen keine aussergewöhnlichen körperliche Anforderungen mehr stellen.» Damit stellt er fest, dass in der heutigen Zeit auch Frauen für die Landesverteidigung relevante Aufgaben übernehmen können. Da sie es können, dürfen sie auch; ob sie es auch wollen und schliesslich gar sollen, sind jedoch andere Fragen.

Ein weiterer Aspekt sollte dabei nicht vernachlässigt werden. De jure sind Frauen mit dem Gleichstellungsartikel (Art. 8.3 BV) gleichberechtigt. De facto ist diese Gleichstellung allerdings nicht gewährleistet. Wie Nationalrätin Margrith von Felten (SP, BS) bereits 1996 verdeutlichte:

«Dienst für die Gemeinschaft wird heute schon geleistet. Gemäss einer Zeitbudgeterhebung werden in der Schweiz pro Woche rund 130 Millionen Stunden Gratisarbeit geleistet, 130 Millionen Stunden unentgeltlicher Sozialarbeit und ehrenamtlicher Arbeit. Diese Arbeit wird von vier Fünfteln von Frauen erledigt. […] Frauen leisten also heute schon sieben Mal mehr Gemeinschaftsdienst als Männer, tagtäglich.»

In der Frage, ob Frauen auch in Bezug auf die Armee gleiche Rechte und Pflichten zukommen sollen wie Männern, geht es also auch um Definitionen des Begriffs «Dienst». Sollen Frauen armeedienstpflichtig werden, obwohl sie nach wie vor deutlich mehr Care-Arbeit leisten? Genau hier setzt die Idee des «norwegischen Modells» an.

Das norwegische Modell: eine zukunftsorientierte Armee?

Natürlich sind die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte der Politik nicht entgangen; eifrig wurden denn auch verschiedene Vorstösse in den eidgenössischen Räten lanciert und diskutiert. Neben kurz- und mittelfristigen Programmen, welche die Landesverteidigung modernisieren, sticht vor allem der erwähnte Loepfe Bericht über die langfristige Umstrukturierung der Armee heraus. Dem Bericht liegt folgende Frage zu Grunde: «Welchen Herausforderungen steht das Dienstpflichtsystem nach dem Jahr 2030 gegenüber?». Dazu werden erstmals die Wechselwirkungen zwischen Armee, Zivildienst, Zivilschutz, Wehrpflichtersatzabgaben und Erwerbsersatzordnung aufgezeigt. Der Bericht stellt zwei Zielkonflikte im heutigen Dienstpflichtmodell fest: (1) Die Gleichbehandlung von Mann und Frau und damit verbunden die Frage, ob auch Frauen dienstpflichtig sein sollen. (2) Der zweite Konflikt knüpft am ersten an, es handelt sich um die Bedarfsfrage. Die Studiengruppe ist der Ansicht, dass nicht möglichst viele Dienstpflichtige beschäftigt werden sollen, sondern die Rekrutierung auf den Bedarf der Einsatzorganisation ausgerichtet sein soll.

Abbildung 1: Die verschiedenen Dienstpflichtmodelle
Quelle: Loepfe-Bericht 2016, S. 150

In einem Dienstpflichtsystem nach dem norwegischen Vorbild könnten im Prinzip beide Konflikte gelöst werden. Sodann wären zwar alle Schweizer*innen dienstpflichtig, es würden aber nur diejenigen auch tatsächlich einen Dienst leisten, welche man benötigt und welche sich am besten eignen (Abbildung 1). Alle nicht rekrutierten Bürger*innen entrichteten eine Ersatzsteuer. Dadurch würde der Pool der Dienstpflichtigen vergrössert und es ergäben sich höhere Chancen, spezialisiertes Personal zu finden. Auf aktuelle Gefahren für das Land – Terrorismus, Klimawandel, Pandemie – könnte spezifischer und effizienter eingegangen werden. Für die definitive Umsetzung benötigte es allerdings eine Revision der Bundesverfassung und damit eine Zustimmung von Volk und Ständen. Ende dieses Jahres veröffentlicht das VBS dazu seine Überlegungen – wer weiss: vielleicht wird schon bald darüber abgestimmt?


Referenz: 

Bild: unsplash.com