Gleicher Rechtsstatus, aber ungleiche Behandlung: Bürokratische Diskriminierung von mobilen EU-Bürgerinnen und Bürgern

Die Uni­ons­bür­ger­schaft garan­tiert allen EU-Bür­ge­rin­nen und ‑Bür­gern, die in einen ande­ren Mit­glied­staat umzie­hen, die glei­chen Rech­te. Doch wie eine aktu­el­le Stu­die zeigt, wer­den eini­ge EU-Bür­ge­rin­nen und ‑Bür­ger im Umgang mit der öffent­li­chen Ver­wal­tung ihres Gast­lan­des eher dis­kri­mi­niert als ande­re. Bemer­kens­wert ist, dass die Dis­kri­mi­nie­rungs­mus­ter der öffent­li­chen Ver­wal­tun­gen den Mus­tern dis­kri­mi­nie­ren­den Ver­hal­tens in der Gesell­schaft sehr ähn­lich sind.

EU-Bür­ge­rin­nen und EU-Bür­ger, die in einen ande­ren Mit­glied­staat umzie­hen, haben Rech­te, die in den Bestim­mun­gen zur Uni­ons­bür­ger­schaft ver­an­kert sind. Zum einen wer­den ihnen sozia­le Rech­te garan­tiert, da sie — unter bestimm­ten Bedin­gun­gen — Anspruch auf Sozi­al­leis­tun­gen in ihrem Gast­land haben. Dar­über hin­aus genie­ßen sie poli­ti­sche Rech­te, da sie zum Bei­spiel an Kom­mu­nal­wah­len teil­neh­men kön­nen. Die­se Rech­te haben zu erheb­li­chen poli­ti­schen Kon­flik­ten und Kon­tro­ver­sen geführt: Sie wur­den als nicht ver­han­del­ba­re Ele­men­te der EU-Bür­ger­schaft hoch­ge­hal­ten und als Hin­wei­se einer schwin­den­den natio­na­len Sou­ve­rä­ni­tät und einer unkon­trol­lier­ba­ren Ein­wan­de­rung ange­pran­gert, zum Bei­spiel in den Debat­ten über den Brexit.

Unse­re For­schung kon­zen­triert sich auf das Ver­wal­tungs­ver­hal­ten in die­sem stark pola­ri­sier­ten Kon­text. Im Wesent­li­chen stel­len wir zwei Fra­gen: Wer­den alle EU-Bür­ge­rin­nen und ‑Bür­ger in die­sem Kon­text gleich­be­han­delt? Oder sind Ver­wal­tungs­an­ge­stell­te, die im Rah­men der öffent­li­chen Ver­wal­tung sozia­li­siert wur­den und an die Arbeit inner­halb stren­ger recht­li­cher Rah­men­be­din­gun­gen zur Sicher­stel­lung von Fair­ness und Gleich­be­hand­lung gewöhnt sind, genau­so geneigt bestimm­te EU-Bür­ge­rin­nen und ‑Bür­ger zu dis­kri­mi­nie­ren wie die all­ge­mei­ne Bevölkerung?

Ange­sichts der aktu­el­len Kon­tro­ver­sen um Migra­ti­on haben EU-Mit­glied­staa­ten ver­sucht, den Zugang mobi­ler EU-Bür­ge­rin­nen und ‑Bür­ger zu Sozi­al­leis­tun­gen ein­zu­schrän­ken, indem sie das EU-Recht sehr restrik­tiv in der Ver­wal­tungs­pra­xis umsetz­ten. Wäh­rend EU-Bür­ge­rin­nen und ‑Bür­ger nicht damit rech­nen kön­nen, beim Zugang zu Sozi­al­leis­tun­gen genau­so behan­delt zu wer­den wie natio­na­le Staats­bür­ge­rin­nen und ‑bür­ger, soll­te jede EU-Bür­ge­rin und jeder EU-Bür­ger erwar­ten kön­nen, genau­so behan­delt zu wer­den wie alle ande­ren EU-Bür­ge­rin­nen und ‑Bür­ger. Aber ist dies der Fall?

Bürokratische Diskriminierung

Wer schon ein­mal in ein ande­res Land umge­zo­gen ist, weiß, dass der Umgang mit der ört­li­chen Büro­kra­tie dar­über ent­schei­det, ob es sehr müh­sam oder rela­tiv ein­fach ist, sich ein­zu­le­ben. Hilfs­be­rei­te, freund­li­che und ser­vice­ori­en­tier­te Beam­tin­nen und Beam­te kön­nen hel­fen, sich in der Büro­kra­tie zurecht­zu­fin­den. Unfreund­li­che und abwei­sen­de Beam­tin­nen und Beam­te kön­nen jedoch nach eige­nem Ermes­sen War­te­zei­ten ver­län­gern oder ver­kür­zen oder auch dabei hel­fen, admi­nis­tra­ti­ve Hin­der­nis­se zu umschif­fen oder genau dies eben unterlassen.

Die bis­he­ri­ge For­schung — meist auf der Grund­la­ge von Feld­ex­pe­ri­men­ten — hat wie­der­holt gezeigt, dass die Wahr­schein­lich­keit, freund­lich oder unfreund­lich behan­delt zu wer­den, unge­fragt Hil­fe zu erhal­ten oder nicht, oder bevor­zugt behan­delt zu wer­den oder nicht, nicht völ­lig zufäl­lig ist. Viel­mehr beein­flus­sen indi­vi­du­el­le Eigen­schaf­ten wie etwa Natio­na­li­tät, Geschlecht oder Sprach­kennt­nis­se die Wahr­schein­lich­keit, dass jemand bevor­zugt behan­delt wird. So wie Dis­kri­mi­nie­rung ein objek­tiv beob­acht­ba­res Merk­mal gesell­schaft­li­cher Inter­ak­tio­nen ist, ist sie auch in Inter­ak­tio­nen zwi­schen Bür­ge­rin­nen und Bür­gern und der öffent­li­chen Ver­wal­tun­gen allgegenwärtig.

Sys­te­ma­ti­sche Ver­glei­che zwi­schen der all­ge­mei­nen Öffent­lich­keit und den öffent­li­chen Ver­wal­tun­gen feh­len jedoch. Eine opti­mis­ti­sche Sicht­wei­se lies­se erwar­ten, dass die (intrinsi­sche und/oder sozia­li­sier­te) Moti­va­ti­on der Mit­ar­bei­ten­den für die öffent­li­chen Diens­te und die recht­li­chen Zwän­ge das Aus­maß der Dis­kri­mi­nie­rung bei sol­chen Begeg­nun­gen in der Ver­wal­tung ver­rin­gert. Inter­es­san­ter­wei­se wur­de die­se The­se noch nie expli­zit durch einen sys­te­ma­ti­schen Ver­gleich zwi­schen dis­kri­mi­nie­ren­dem Ver­hal­ten in der Öffent­lich­keit und in der öffent­li­chen Ver­wal­tung geprüft.

Daten und Methode
Um die­sen Ver­gleich durch­zu­füh­ren und zu prü­fen, ob es sys­te­ma­ti­sche Unter­schie­de in der Behand­lung von EU-Bür­ge­rin­nen und EU-Bür­gern aus ver­schie­de­nen Mit­glied­staa­ten gibt, haben wir Anfang März 2020 ein Con­joint-Expe­ri­ment in Deutsch­land durch­ge­führt. Unse­re Stu­die stützt sich auf eine all­ge­mei­ne Bevöl­ke­rungs­stich­pro­be von 2.974 Per­so­nen und umfasst eine zusätz­li­che Stich­pro­be von 779 Per­so­nen, die im Kern­be­reich der öffent­li­chen Ver­wal­tung arbei­ten. Indem wir die­se bei­den Grup­pen dem­sel­ben büro­kra­ti­schen Aus­wahl­ex­pe­ri­ment unter­zie­hen, kön­nen wir fest­stel­len, ob Dis­kri­mi­nie­rung in der einen oder der ande­ren Grup­pe mehr oder weni­ger aus­ge­prägt ist, ob Dis­kri­mi­nie­rung in bei­den Grup­pen durch die­sel­ben Merk­ma­le aus­ge­löst wird und ob Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­maß­nah­men in den Grup­pen ähn­lich wirk­sam sind. 
Das Expe­ri­ment
In unse­rem Expe­ri­ment bear­bei­te­ten die Befrag­ten zwei Auf­ga­ben: In einer Auf­ga­be behan­del­ten sie einen hypo­the­ti­schen Antrag auf die umgangs­sprach­lich als “Hartz IV” bezeich­ne­te Sozi­al­leis­tung Arbeits­lo­sen­geld I; eine bedarfs­ab­hän­gi­ge Leis­tung für (langzeit-)arbeitslose Arbeits­su­chen­de. In einer zwei­ten Auf­ga­be ging es um eine Fra­ge zu feh­len­den Wahl­un­ter­la­gen für die Teil­nah­me an der Kom­mu­nal­wahl. Wir baten die Befrag­ten, sich in die Lage von Sach­be­ar­bei­ten­den zu ver­set­zen, die aus Zeit­grün­den die Bear­bei­tung des Antrags eines Bür­gers, einer Bür­ge­rin, prio­ri­sie­ren müss­ten. Wir beschrie­ben die Bear­bei­tungs­auf­ga­be, ein­schließ­lich der Aus­sa­ge, dass die bevor­zug­te Behand­lung einer Per­son die ande­re Per­son nega­tiv beein­flus­sen wird.

Das Con­joint-Design ermög­lich­te es uns, fünf Merk­ma­le der Antrag­stel­len­den gleich­zei­tig zu vari­ie­ren, um her­aus­zu­fin­den, wel­che Merk­ma­le Dis­kri­mi­nie­rung aus­lö­sen. Hier­bei inter­es­sie­ren wir uns beson­ders für die Unter­schie­de zwi­schen den ver­schie­de­nen Arten von mobi­len EU-Bür­gern. Ers­tens vari­ier­ten wir die Natio­na­li­tät der Antrag­stel­ler. Ins­be­son­de­re haben wir zwi­schen nie­der­län­di­schen und rumä­ni­schen Bewer­ben­den unter­schie­den, da bei­de Natio­na­li­tä­ten ein unter­schied­li­ches Maß an sozio­öko­no­mi­scher und kul­tu­rel­ler Nähe zum Kon­text des deut­schen Auf­nah­me­lan­des wider­spie­geln soll­ten (wobei die Nie­der­lan­de Deutsch­land ähn­li­cher ist als Rumä­ni­en). Ein zwei­tes Attri­but, das unter­schied­li­che Gra­de kul­tu­rel­ler Nähe signa­li­sie­ren kann, ist die Beherr­schung der Spra­che des Gast­lan­des (gebro­chen oder flie­ßend). Dar­über hin­aus haben wir das Geschlecht (männ­lich vs. weib­lich), den Beruf (Kran­ken­pfle­gen­de vs. Arzt oder Ärz­tin) und das Alter (25 vs. 40 vs. 55) der Bewer­ben­den variiert.

Die Bevor­zu­gung eines Antrags­stel­len­den gegen­über einem ande­ren ist nicht per se Aus­druck eines dis­kri­mi­nie­ren­den Ver­hal­tens. Die Teil­neh­men­den muss­ten in jeder Aus­wahl­si­tua­ti­on einem Antrags­stel­len­den den Vor­zug geben. Wenn jedoch nie­der­län­di­sche Staats­bür­ge­rin­nen und Staats­bür­ger viel häu­fi­ger bevor­zugt wer­den als rumä­ni­sche, scheint die Wahl nicht nur zufäl­lig zu sein, son­dern von der Natio­na­li­tät der Bewer­ben­den beein­flusst zu werden.

Sprache als stärkster Auslöser von Diskriminierung

Unse­re Ergeb­nis­se zei­gen, dass die Sprach­kennt­nis­se der stärks­te Aus­lö­ser für Dis­kri­mi­nie­rung sind. Ob eine Per­son die Spra­che des Auf­nah­me­lan­des flie­ßend beherrscht oder nicht, hat den größ­ten Ein­fluss dar­auf, ob sie in der jewei­li­gen büro­kra­ti­schen Aus­wahl­si­tua­ti­on bevor­zugt wird oder nicht. Der zweit­wich­tigs­te Aus­lö­ser für die Dis­kri­mi­nie­rung ist die Staats­an­ge­hö­rig­keit. Rumä­ni­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge wur­den im All­ge­mei­nen in bei­den büro­kra­ti­schen Aus­wahl­si­tua­tio­nen deut­lich sel­te­ner bevorzugt.

Wäh­rend Män­ner in bei­den Poli­tik­be­rei­chen im All­ge­mei­nen sel­te­ner bevor­zugt wer­den als Frau­en, waren die Pro­ban­den sys­te­ma­tisch eher bereit Anträ­ge auf Sozi­al­leis­tun­gen von Kran­ken­pfle­gen­den vor­ran­gig vor Anträ­gen von Ärz­tin­nen und Ärz­ten zu behan­deln. Die Ergeb­nis­se für den Ein­fluss des Alters sind weni­ger kon­sis­tent, aber Antrag­stel­len­de in der mitt­le­ren Alters­grup­pe wer­den ten­den­zi­ell gegen­über älte­ren und jün­ge­ren Antrag­stel­len­den (55 und 25 Jah­re) bevor­zugt. Die­se Mus­ter sind zwi­schen den bei­den Grup­pen der Befrag­ten (all­ge­mei­ne Öffent­lich­keit und öffent­li­che Ver­wal­tung) bemer­kens­wert ähn­lich, was die Erwar­tung wider­legt, dass Beschäf­tig­te des öffent­li­chen Sek­tors sel­te­ner dis­kri­mi­nie­ren als der Rest der Gesellschaft.

Um fest­zu­stel­len, ob Dis­kri­mi­nie­rung ver­rin­gert wer­den kann, haben wir zudem eine Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­maß­nah­me getes­tet. Kon­kret teil­ten wir einer Behand­lungs­grup­pe mit, dass sie ihre Ent­schei­dun­gen gegen­über ihrem ver­meint­li­chen Vor­ge­setz­ten im Nach­hin­ein recht­fer­ti­gen müss­ten, wäh­rend die Kon­troll­grup­pe kei­ne sol­che Infor­ma­ti­on erhielt. Damit soll­te ein Ele­ment der Rechen­schafts­pflicht ein­ge­führt wer­den. Die­se Maß­nah­me erwies sich jedoch als unwirk­sam — sie ver­rin­ger­te weder Dis­kri­mi­nie­rung in der Öffent­lich­keit noch in der öffent­li­chen Verwaltung.

Ins­ge­samt unter­mau­ern unse­re Ergeb­nis­se die bis­he­ri­ge For­schung zur Dis­kri­mi­nie­rung von Migran­tin­nen und Migran­ten, die deut­lich macht, dass nicht alle Migran­tin­nen und Migran­ten mit den glei­chen Her­aus­for­de­run­gen kon­fron­tiert sind, son­dern auf­grund bestimm­ter Merk­ma­le unter­schied­lich behan­delt wer­den, wie dies bei­spiels­wei­se bei der Her­kunft oder der reli­giö­sen Ori­en­tie­rung fest­ge­stellt wurde.

Politische Implikationen unserer Ergebnisse

Schließ­lich erge­ben sich aus unse­rer Stu­die bestimm­te poli­ti­sche Impli­ka­tio­nen: Wenn die Natio­na­li­tät ein ent­schei­den­der Aus­lö­ser für Dis­kri­mi­nie­rung ist, könn­te Anony­mi­tät bei büro­kra­ti­schen Begeg­nun­gen von Nut­zen sein. Dies ist jedoch bei vie­len büro­kra­ti­schen Inter­ak­tio­nen sehr schwie­rig umzu­set­zen. Schließ­lich wird die Berech­ti­gung zur Ein­tra­gung in das Wäh­ler­ver­zeich­nis und zur Gewäh­rung von Sozi­al­leis­tun­gen auf der Grund­la­ge der Staats­an­ge­hö­rig­keit der Per­so­nen festgelegt.

Auch wenn Ver­än­de­run­gen hin zu mehr Anony­mi­tät in die­sem Pro­zess nicht unmög­lich sind, schei­nen die Bemü­hun­gen, einer­seits mobi­le EU-Bür­ge­rin­nen und ‑Bür­ger durch schnel­len und kom­pe­ten­ten Sprach­er­werb zu befä­hi­gen und ande­rer­seits effi­zi­en­te Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­maß­nah­men in der Büro­kra­tie zu tes­ten und umzu­set­zen, die frucht­bars­ten Ansät­ze zur Über­win­dung von Dis­kri­mi­nie­rung darzustellen.

Hin­weis: Die eng­lisch­spra­chi­che Ver­si­on die­ses Bei­trags erschien am 7. Sep­tem­ber auf dem Blog von NCCR on the move, sowie davor am 23. Juli auf dem LSE Blog.


Bild: unsplash.com

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