Gleicher Rechtsstatus, aber ungleiche Behandlung: Bürokratische Diskriminierung von mobilen EU-Bürgerinnen und Bürgern
Christian Adam, Xavier Fernández-i-Marín, Oliver James, Anita Manatschal, Carolin Rapp, Eva Thomann
21st October 2021
Die Unionsbürgerschaft garantiert allen EU-Bürgerinnen und -Bürgern, die in einen anderen Mitgliedstaat umziehen, die gleichen Rechte. Doch wie eine aktuelle Studie zeigt, werden einige EU-Bürgerinnen und -Bürger im Umgang mit der öffentlichen Verwaltung ihres Gastlandes eher diskriminiert als andere. Bemerkenswert ist, dass die Diskriminierungsmuster der öffentlichen Verwaltungen den Mustern diskriminierenden Verhaltens in der Gesellschaft sehr ähnlich sind.
EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, die in einen anderen Mitgliedstaat umziehen, haben Rechte, die in den Bestimmungen zur Unionsbürgerschaft verankert sind. Zum einen werden ihnen soziale Rechte garantiert, da sie – unter bestimmten Bedingungen – Anspruch auf Sozialleistungen in ihrem Gastland haben. Darüber hinaus genießen sie politische Rechte, da sie zum Beispiel an Kommunalwahlen teilnehmen können. Diese Rechte haben zu erheblichen politischen Konflikten und Kontroversen geführt: Sie wurden als nicht verhandelbare Elemente der EU-Bürgerschaft hochgehalten und als Hinweise einer schwindenden nationalen Souveränität und einer unkontrollierbaren Einwanderung angeprangert, zum Beispiel in den Debatten über den Brexit.
Unsere Forschung konzentriert sich auf das Verwaltungsverhalten in diesem stark polarisierten Kontext. Im Wesentlichen stellen wir zwei Fragen: Werden alle EU-Bürgerinnen und -Bürger in diesem Kontext gleichbehandelt? Oder sind Verwaltungsangestellte, die im Rahmen der öffentlichen Verwaltung sozialisiert wurden und an die Arbeit innerhalb strenger rechtlicher Rahmenbedingungen zur Sicherstellung von Fairness und Gleichbehandlung gewöhnt sind, genauso geneigt bestimmte EU-Bürgerinnen und -Bürger zu diskriminieren wie die allgemeine Bevölkerung?
Angesichts der aktuellen Kontroversen um Migration haben EU-Mitgliedstaaten versucht, den Zugang mobiler EU-Bürgerinnen und -Bürger zu Sozialleistungen einzuschränken, indem sie das EU-Recht sehr restriktiv in der Verwaltungspraxis umsetzten. Während EU-Bürgerinnen und -Bürger nicht damit rechnen können, beim Zugang zu Sozialleistungen genauso behandelt zu werden wie nationale Staatsbürgerinnen und -bürger, sollte jede EU-Bürgerin und jeder EU-Bürger erwarten können, genauso behandelt zu werden wie alle anderen EU-Bürgerinnen und -Bürger. Aber ist dies der Fall?
Bürokratische Diskriminierung
Wer schon einmal in ein anderes Land umgezogen ist, weiß, dass der Umgang mit der örtlichen Bürokratie darüber entscheidet, ob es sehr mühsam oder relativ einfach ist, sich einzuleben. Hilfsbereite, freundliche und serviceorientierte Beamtinnen und Beamte können helfen, sich in der Bürokratie zurechtzufinden. Unfreundliche und abweisende Beamtinnen und Beamte können jedoch nach eigenem Ermessen Wartezeiten verlängern oder verkürzen oder auch dabei helfen, administrative Hindernisse zu umschiffen oder genau dies eben unterlassen.
Die bisherige Forschung – meist auf der Grundlage von Feldexperimenten – hat wiederholt gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, freundlich oder unfreundlich behandelt zu werden, ungefragt Hilfe zu erhalten oder nicht, oder bevorzugt behandelt zu werden oder nicht, nicht völlig zufällig ist. Vielmehr beeinflussen individuelle Eigenschaften wie etwa Nationalität, Geschlecht oder Sprachkenntnisse die Wahrscheinlichkeit, dass jemand bevorzugt behandelt wird. So wie Diskriminierung ein objektiv beobachtbares Merkmal gesellschaftlicher Interaktionen ist, ist sie auch in Interaktionen zwischen Bürgerinnen und Bürgern und der öffentlichen Verwaltungen allgegenwärtig.
Systematische Vergleiche zwischen der allgemeinen Öffentlichkeit und den öffentlichen Verwaltungen fehlen jedoch. Eine optimistische Sichtweise liesse erwarten, dass die (intrinsische und/oder sozialisierte) Motivation der Mitarbeitenden für die öffentlichen Dienste und die rechtlichen Zwänge das Ausmaß der Diskriminierung bei solchen Begegnungen in der Verwaltung verringert. Interessanterweise wurde diese These noch nie explizit durch einen systematischen Vergleich zwischen diskriminierendem Verhalten in der Öffentlichkeit und in der öffentlichen Verwaltung geprüft.
Das Conjoint-Design ermöglichte es uns, fünf Merkmale der Antragstellenden gleichzeitig zu variieren, um herauszufinden, welche Merkmale Diskriminierung auslösen. Hierbei interessieren wir uns besonders für die Unterschiede zwischen den verschiedenen Arten von mobilen EU-Bürgern. Erstens variierten wir die Nationalität der Antragsteller. Insbesondere haben wir zwischen niederländischen und rumänischen Bewerbenden unterschieden, da beide Nationalitäten ein unterschiedliches Maß an sozioökonomischer und kultureller Nähe zum Kontext des deutschen Aufnahmelandes widerspiegeln sollten (wobei die Niederlande Deutschland ähnlicher ist als Rumänien). Ein zweites Attribut, das unterschiedliche Grade kultureller Nähe signalisieren kann, ist die Beherrschung der Sprache des Gastlandes (gebrochen oder fließend). Darüber hinaus haben wir das Geschlecht (männlich vs. weiblich), den Beruf (Krankenpflegende vs. Arzt oder Ärztin) und das Alter (25 vs. 40 vs. 55) der Bewerbenden variiert.
Die Bevorzugung eines Antragsstellenden gegenüber einem anderen ist nicht per se Ausdruck eines diskriminierenden Verhaltens. Die Teilnehmenden mussten in jeder Auswahlsituation einem Antragsstellenden den Vorzug geben. Wenn jedoch niederländische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger viel häufiger bevorzugt werden als rumänische, scheint die Wahl nicht nur zufällig zu sein, sondern von der Nationalität der Bewerbenden beeinflusst zu werden.
Sprache als stärkster Auslöser von Diskriminierung
Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Sprachkenntnisse der stärkste Auslöser für Diskriminierung sind. Ob eine Person die Sprache des Aufnahmelandes fließend beherrscht oder nicht, hat den größten Einfluss darauf, ob sie in der jeweiligen bürokratischen Auswahlsituation bevorzugt wird oder nicht. Der zweitwichtigste Auslöser für die Diskriminierung ist die Staatsangehörigkeit. Rumänische Staatsangehörige wurden im Allgemeinen in beiden bürokratischen Auswahlsituationen deutlich seltener bevorzugt.
Während Männer in beiden Politikbereichen im Allgemeinen seltener bevorzugt werden als Frauen, waren die Probanden systematisch eher bereit Anträge auf Sozialleistungen von Krankenpflegenden vorrangig vor Anträgen von Ärztinnen und Ärzten zu behandeln. Die Ergebnisse für den Einfluss des Alters sind weniger konsistent, aber Antragstellende in der mittleren Altersgruppe werden tendenziell gegenüber älteren und jüngeren Antragstellenden (55 und 25 Jahre) bevorzugt. Diese Muster sind zwischen den beiden Gruppen der Befragten (allgemeine Öffentlichkeit und öffentliche Verwaltung) bemerkenswert ähnlich, was die Erwartung widerlegt, dass Beschäftigte des öffentlichen Sektors seltener diskriminieren als der Rest der Gesellschaft.
Um festzustellen, ob Diskriminierung verringert werden kann, haben wir zudem eine Antidiskriminierungsmaßnahme getestet. Konkret teilten wir einer Behandlungsgruppe mit, dass sie ihre Entscheidungen gegenüber ihrem vermeintlichen Vorgesetzten im Nachhinein rechtfertigen müssten, während die Kontrollgruppe keine solche Information erhielt. Damit sollte ein Element der Rechenschaftspflicht eingeführt werden. Diese Maßnahme erwies sich jedoch als unwirksam – sie verringerte weder Diskriminierung in der Öffentlichkeit noch in der öffentlichen Verwaltung.
Insgesamt untermauern unsere Ergebnisse die bisherige Forschung zur Diskriminierung von Migrantinnen und Migranten, die deutlich macht, dass nicht alle Migrantinnen und Migranten mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert sind, sondern aufgrund bestimmter Merkmale unterschiedlich behandelt werden, wie dies beispielsweise bei der Herkunft oder der religiösen Orientierung festgestellt wurde.
Politische Implikationen unserer Ergebnisse
Schließlich ergeben sich aus unserer Studie bestimmte politische Implikationen: Wenn die Nationalität ein entscheidender Auslöser für Diskriminierung ist, könnte Anonymität bei bürokratischen Begegnungen von Nutzen sein. Dies ist jedoch bei vielen bürokratischen Interaktionen sehr schwierig umzusetzen. Schließlich wird die Berechtigung zur Eintragung in das Wählerverzeichnis und zur Gewährung von Sozialleistungen auf der Grundlage der Staatsangehörigkeit der Personen festgelegt.
Auch wenn Veränderungen hin zu mehr Anonymität in diesem Prozess nicht unmöglich sind, scheinen die Bemühungen, einerseits mobile EU-Bürgerinnen und -Bürger durch schnellen und kompetenten Spracherwerb zu befähigen und andererseits effiziente Antidiskriminierungsmaßnahmen in der Bürokratie zu testen und umzusetzen, die fruchtbarsten Ansätze zur Überwindung von Diskriminierung darzustellen.
Hinweis: Die englischsprachiche Version dieses Beitrags erschien am 7. September auf dem Blog von NCCR on the move, sowie davor am 23. Juli auf dem LSE Blog.
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