Warum Migrantenparteien in Westeuropa nicht erfolgreich sind

In den meis­ten west­eu­ro­päi­schen Län­dern sind Migran­ten­par­tei­en bei Par­la­ments­wah­len häu­fig erfolg­los – obwohl beacht­li­che Tei­le der Wäh­ler­schaft einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund auf­wei­sen. Wel­che Erklä­run­gen gibt es dafür? Der Ver­gleich einer der weni­gen erfolg­rei­chen Par­tei­en, der Par­tei «DENK» in den Nie­der­lan­den, mit dem rest­li­chen Euro­pa gibt Aufschluss.

In vie­len west­eu­ro­päi­schen Län­dern erzie­len Migran­ten­par­tei­en jeweils weni­ger als 1% des Wäh­ler­an­teils bei natio­na­len Par­la­ments­wah­len, wenn sie denn über­haupt antre­ten. Ein­zi­ge par­ti­el­le Aus­nah­me bil­det die Par­tei «DENK» in den Nie­der­lan­den, wel­che bei den letz­ten bei­den Par­la­ments­wah­len jeweils 2% Wäh­ler­an­teil und damit drei Sit­ze im 150-köp­fi­gen nie­der­län­di­schen Par­la­ment gewon­nen hat.

Wes­halb gibt es nicht mehr erfolg­rei­che Migran­ten­par­tei­en in West­eu­ro­pa? In der ers­ten kom­pa­ra­ti­ven Ana­ly­se zu die­ser Fra­ge unter­su­che ich den (rela­ti­ven) Erfolg von DENK und den Miss­erfolg ande­rer Migran­ten­par­tei­en. Die­se Erfolg­lo­sig­keit der meis­ten Migran­ten­par­tei­en ist ange­sichts der Tat­sa­che, dass in Län­dern wie Frank­reich, Schwe­den, der Schweiz oder Gross­bri­tan­ni­en mehr als 20% der Wäh­ler­schaft einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund haben, durch­aus erklä­rungs­be­dürf­tig. Die Fra­ge ist auch des­halb rele­vant, weil in vie­len Län­dern lin­ke Par­tei­en und dar­un­ter ins­be­son­de­re die Sozi­al­de­mo­kra­ten einen erheb­li­chen Anteil ihrer Stim­men von Per­so­nen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund erhal­ten und daher Kon­kur­renz von Migran­ten­par­tei­en durch­aus ernst neh­men dürften.

Mus­li­mi­sche Ein­wan­de­rin­nen schlecht repräsentiert

In der Par­tei­en­for­schung gilt der Erfolg neu­er Par­tei­en vor allem dann als wahr­schein­lich, wenn die poli­ti­schen Prä­fe­ren­zen eines sub­stan­ti­el­len Anteils der Wäh­ler­schaft von den eta­blier­ten Par­tei­en nicht reprä­sen­tiert wer­den. Dies kann für die meis­ten Per­so­nen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund nicht gesagt wer­den, fin­den sie doch ihre Prä­fe­ren­zen typi­scher­wei­se von den eta­blier­ten Par­tei­en gut reprä­sen­tiert. Eine Aus­nah­me bil­den die Ein­wan­de­rin­nen, die sozi­al kon­ser­va­tiv sind und gleich­zei­tig ein­wan­de­rungs­freund­li­che Prä­fe­ren­zen haben. Die­se Wäh­le­rin­nen sind weder durch pro­gres­si­ve lin­ke Par­tei­en noch durch sozi­al­kon­ser­va­ti­ve rech­te Par­tei­en gut ver­tre­ten. Die Par­tei­en­fa­mi­lie, die die Prä­fe­ren­zen die­ser Ein­wan­de­rin­nen am bes­ten abdeckt, sind die christ­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en. Auf­grund ihrer Ver­wur­ze­lung im Chris­ten­tum schei­nen sie jedoch für die meis­ten kon­ser­va­ti­ven Mus­li­me kei­ne Wahl­op­ti­on zu sein. Dar­aus folgt, dass gera­de Zuwan­de­rin­nen mus­li­mi­scher Kon­fes­si­on von den eta­blier­ten Par­tei­en nicht gut reprä­sen­tiert wer­den und für eine Alter­na­ti­ve offen sein könnten.

Tabelle 1: Nationale Migrantenparteien, Wahlsysteme und Bevölkerungsanteile in Westeuropa, Teil 1

Varia­ble

Nie­der­land

Bel­gi­en

Frank­reich

Gross­bri­tan­ni­en

Natio­na­le Migrantenpartei

DENK

ISLAM

L’Union des démo­cra­tes musul­mans de Fran­ce (UDMF); Fran­çais & Musul­mans; Par­ti Ega­li­té Jus­ti­ce (PEJ)

Immi­grants Poli­ti­cal Party

Natio­na­ler Wäh­ler­an­teil bei letz­ter Wahl

2.10%

0.20%

<0.1%

nicht teil­ge­nom­men

Anteil natio­na­le Staats­bür­ger mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund (2017)

18.2%

16.7%

24.7%

20.6%

Effek­ti­ve Wahl­hür­de (in gröss­tem Wahlkreis)

0.67% (gan­zes Land)

3% (Ant­wer­pen)

37.5%

37.5%

Anteil Mus­li­me (2016)

7.10%

7.60%

8.80%

6.30%

Quellen: Nationale Statistikämter, Eurostat, OECD, Pew Research Centre.

Dies spie­gelt sich in den Namen und Par­tei­pro­gram­men der in der Tabel­le auf­ge­lis­te­ten Ein­wan­de­rer­par­tei­en wider, die sich alle mehr oder weni­ger expli­zit an die mus­li­mi­sche Wäh­ler­schaft rich­tet. Dar­aus folgt, dass im west­eu­ro­päi­schen Kon­text der Erfolg einer Ein­wan­de­rer­par­tei mit der Grö­ße der mus­li­mi­schen Wäh­ler­schaft zusam­men­hän­gen soll­te. Da die Nie­der­lan­de zu den Län­dern mit einer rela­tiv gros­sen mus­li­mi­schen Gemein­schaft gehö­ren, ist die­se Erklä­rung plausibel.

Tabelle 2: Nationale Migrantenparteien, Wahlsysteme und Bevölkerungsanteile in Westeuropa, Teil 2

Varia­ble

Deutsch­land

Schwe­den

Schweiz

Natio­na­le Migrantenpartei

Bünd­nis für Inno­va­ti­on und Gerechtigkeit

Kei­ne

Kei­ne

Natio­na­ler Wäh­ler­an­teil bei letz­ter Wahl

nicht teil­ge­nom­men

-

-

Anteil natio­na­le Staats­bür­ger mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund (2017)

12.7%

24.0%

22.6%

Effek­ti­ve Wahl­hür­de (in gröss­tem Wahlkreis)

5% (gan­zes Land); 37.5% (Wahl­kreis)

4% (gan­zes Land); 12% (Wahl­kreis)

2.1% (Zürich)

Anteil Mus­li­me (2016)

6.10%

8.10%

6.10%

Quellen: Nationale Statistikämter, Eurostat, OECD, Pew Research Centre.
Wahlsystem ist entscheidend

Wich­ti­ger aber noch dürf­te das Wahl­sys­tem sein. Denn in Anbe­tracht der Tat­sa­che, dass die Wäh­ler­schaft mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund im All­ge­mei­nen und dar­un­ter jene mit sozi­al­kon­ser­va­ti­ven Ein­stel­lun­gen im Spe­zi­fi­schen nur einen Bruch­teil der gesam­ten Wäh­ler­schaft aus­macht und ter­ri­to­ri­al ver­teilt ist, hängt das Poten­zi­al für Migran­ten­par­tei­en auch stark von der Pro­por­tio­na­li­tät des Wahl­sys­tems ab. Nur wenn es stark pro­por­tio­nal ist, haben Par­tei­en, die nur eine Min­der­heit der Wäh­ler­schaft anspre­chen, eine rea­lis­ti­sche Chan­ce, eine Ver­tre­tung zu erhal­ten. Wenn also Per­so­nen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund mit einer Erst­prä­fe­renz für eine Migran­ten­par­tei stra­te­gisch sind, geben sie nur dann eine Stim­me für eine sol­che Par­tei ab, wenn sie erwar­ten kön­nen, dass die­se die effek­ti­ve Wahl­hür­de über­win­det. Mit 0,67 Pro­zent der Wäh­ler­schaft ist die­se effek­ti­ve Wahl­hür­de in den Nie­der­lan­den sehr klein und sogar deut­lich klei­ner als in den größ­ten Wahl­krei­sen ande­rer Län­der. Der Grund dafür ist, dass in den Nie­der­lan­den das gan­ze Land einen ein­zi­gen Wahl­kreis bil­det. Daher ist es sehr wahr­schein­lich, dass das hoch­gra­dig pro­por­tio­na­le Wahl­sys­tem in den Nie­der­lan­den bei gleich­zei­tig recht hohem Anteil von Migran­tin­nen mus­li­mi­schen Glau­bens der Schlüs­sel zur Erklä­rung des rela­ti­ven Erfolgs von DENK ist.

Auf­schluss­reich ist auch ein Ver­gleich mit Isra­el, der ers­ten west­li­chen Demo­kra­tie in der Ein­wan­de­rer­par­tei­en erfolg­reich waren. In Isra­el erlang­ten Par­tei­en, wel­che Per­so­nen mit rus­si­schem Migra­ti­ons­hin­ter­grund ver­tre­ten, bereits in den 1990er Jah­ren mehr als 5% Wäh­ler­an­teil. Wie in den Nie­der­lan­den kennt auch Isra­el ein stark pro­por­tio­na­les Wahl­sys­tem und wie in den Nie­der­lan­den wur­den die Prä­fe­ren­zen einer Migran­ten­grup­pe von den eta­blier­ten Par­tei­en kaum reprä­sen­tiert. So ist ein gro­ßer Teil der Israe­lis mit rus­si­schem Migra­ti­ons­hin­ter­grund stark säku­lar und gleich­zei­tig in Fra­gen der natio­na­len Sicher­heit rechts ori­en­tiert – eine Kom­bi­na­ti­on, die weder zu den reli­giö­sen “Fal­ken” der poli­ti­schen Rech­ten noch zu den säku­la­ren “Tau­ben” pass­te. In Kom­bi­na­ti­on mit dem pro­por­tio­na­len Wahl­sys­tem erlaub­te dies neu­en Par­tei­en, wel­che spe­zi­fisch rus­si­sche Migran­tin­nen mobi­li­sier­ten, sich zu etablieren.

Ins­ge­samt spricht also vie­les dafür, dass nur eine Kom­bi­na­ti­on von stark pro­por­tio­na­lem Wahl­sys­tem mit einer rela­tiv gros­sen Grup­pe von Migran­tin­nen, wel­che poli­ti­sche Prä­fe­ren­zen haben, die sich sys­te­ma­tisch von den ande­ren Gesell­schafts­grup­pen unter­schei­den, Migran­ten­par­tei­en einen gewis­sen Erfolg ermög­li­chen. Weil die­se Kom­bi­na­ti­on in nähe­rer Zukunft kaum in ande­ren euro­päi­schen Län­dern gege­ben sein wird, dürf­ten erfolg­rei­che Migran­ten­par­tei­en wie DENK wei­ter­hin die Aus­nah­me bleiben.


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