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Warum Migrantenparteien in Westeuropa nicht erfolgreich sind

Oliver Strijbis
7th Oktober 2021

In den meisten westeuropäischen Ländern sind Migrantenparteien bei Parlamentswahlen häufig erfolglos – obwohl beachtliche Teile der Wählerschaft einen Migrationshintergrund aufweisen. Welche Erklärungen gibt es dafür? Der Vergleich einer der wenigen erfolgreichen Parteien, der Partei «DENK» in den Niederlanden, mit dem restlichen Europa gibt Aufschluss.

In vielen westeuropäischen Ländern erzielen Migrantenparteien jeweils weniger als 1% des Wähleranteils bei nationalen Parlamentswahlen, wenn sie denn überhaupt antreten. Einzige partielle Ausnahme bildet die Partei «DENK» in den Niederlanden, welche bei den letzten beiden Parlamentswahlen jeweils 2% Wähleranteil und damit drei Sitze im 150-köpfigen niederländischen Parlament gewonnen hat.

Weshalb gibt es nicht mehr erfolgreiche Migrantenparteien in Westeuropa? In der ersten komparativen Analyse zu dieser Frage untersuche ich den (relativen) Erfolg von DENK und den Misserfolg anderer Migrantenparteien. Diese Erfolglosigkeit der meisten Migrantenparteien ist angesichts der Tatsache, dass in Ländern wie Frankreich, Schweden, der Schweiz oder Grossbritannien mehr als 20% der Wählerschaft einen Migrationshintergrund haben, durchaus erklärungsbedürftig. Die Frage ist auch deshalb relevant, weil in vielen Ländern linke Parteien und darunter insbesondere die Sozialdemokraten einen erheblichen Anteil ihrer Stimmen von Personen mit Migrationshintergrund erhalten und daher Konkurrenz von Migrantenparteien durchaus ernst nehmen dürften.

Muslimische Einwanderinnen schlecht repräsentiert

In der Parteienforschung gilt der Erfolg neuer Parteien vor allem dann als wahrscheinlich, wenn die politischen Präferenzen eines substantiellen Anteils der Wählerschaft von den etablierten Parteien nicht repräsentiert werden. Dies kann für die meisten Personen mit Migrationshintergrund nicht gesagt werden, finden sie doch ihre Präferenzen typischerweise von den etablierten Parteien gut repräsentiert. Eine Ausnahme bilden die Einwanderinnen, die sozial konservativ sind und gleichzeitig einwanderungsfreundliche Präferenzen haben. Diese Wählerinnen sind weder durch progressive linke Parteien noch durch sozialkonservative rechte Parteien gut vertreten. Die Parteienfamilie, die die Präferenzen dieser Einwanderinnen am besten abdeckt, sind die christdemokratischen Parteien. Aufgrund ihrer Verwurzelung im Christentum scheinen sie jedoch für die meisten konservativen Muslime keine Wahloption zu sein. Daraus folgt, dass gerade Zuwanderinnen muslimischer Konfession von den etablierten Parteien nicht gut repräsentiert werden und für eine Alternative offen sein könnten.

Tabelle 1: Nationale Migrantenparteien, Wahlsysteme und Bevölkerungsanteile in Westeuropa, Teil 1

Variable

Niederland

Belgien

Frankreich

Grossbritannien

Nationale Migrantenpartei

DENK

ISLAM

L’Union des démocrates musulmans de France (UDMF); Français & Musulmans; Parti Egalité Justice (PEJ)

Immigrants Political Party

Nationaler Wähleranteil bei letzter Wahl

2.10%

0.20%

<0.1%

nicht teilgenommen

Anteil nationale Staatsbürger mit Migrationshintergrund (2017)

18.2%

16.7%

24.7%

20.6%

Effektive Wahlhürde (in grösstem Wahlkreis)

0.67% (ganzes Land)

3% (Antwerpen)

37.5%

37.5%

Anteil Muslime (2016)

7.10%

7.60%

8.80%

6.30%

Quellen: Nationale Statistikämter, Eurostat, OECD, Pew Research Centre.

Dies spiegelt sich in den Namen und Parteiprogrammen der in der Tabelle aufgelisteten Einwandererparteien wider, die sich alle mehr oder weniger explizit an die muslimische Wählerschaft richtet. Daraus folgt, dass im westeuropäischen Kontext der Erfolg einer Einwandererpartei mit der Größe der muslimischen Wählerschaft zusammenhängen sollte. Da die Niederlande zu den Ländern mit einer relativ grossen muslimischen Gemeinschaft gehören, ist diese Erklärung plausibel.

Tabelle 2: Nationale Migrantenparteien, Wahlsysteme und Bevölkerungsanteile in Westeuropa, Teil 2

Variable

Deutschland

Schweden

Schweiz

Nationale Migrantenpartei

Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit

Keine

Keine

Nationaler Wähleranteil bei letzter Wahl

nicht teilgenommen

-

-

Anteil nationale Staatsbürger mit Migrationshintergrund (2017)

12.7%

24.0%

22.6%

Effektive Wahlhürde (in grösstem Wahlkreis)

5% (ganzes Land); 37.5% (Wahlkreis)

4% (ganzes Land); 12% (Wahlkreis)

2.1% (Zürich)

Anteil Muslime (2016)

6.10%

8.10%

6.10%

Quellen: Nationale Statistikämter, Eurostat, OECD, Pew Research Centre.
Wahlsystem ist entscheidend

Wichtiger aber noch dürfte das Wahlsystem sein. Denn in Anbetracht der Tatsache, dass die Wählerschaft mit Migrationshintergrund im Allgemeinen und darunter jene mit sozialkonservativen Einstellungen im Spezifischen nur einen Bruchteil der gesamten Wählerschaft ausmacht und territorial verteilt ist, hängt das Potenzial für Migrantenparteien auch stark von der Proportionalität des Wahlsystems ab. Nur wenn es stark proportional ist, haben Parteien, die nur eine Minderheit der Wählerschaft ansprechen, eine realistische Chance, eine Vertretung zu erhalten. Wenn also Personen mit Migrationshintergrund mit einer Erstpräferenz für eine Migrantenpartei strategisch sind, geben sie nur dann eine Stimme für eine solche Partei ab, wenn sie erwarten können, dass diese die effektive Wahlhürde überwindet. Mit 0,67 Prozent der Wählerschaft ist diese effektive Wahlhürde in den Niederlanden sehr klein und sogar deutlich kleiner als in den größten Wahlkreisen anderer Länder. Der Grund dafür ist, dass in den Niederlanden das ganze Land einen einzigen Wahlkreis bildet. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass das hochgradig proportionale Wahlsystem in den Niederlanden bei gleichzeitig recht hohem Anteil von Migrantinnen muslimischen Glaubens der Schlüssel zur Erklärung des relativen Erfolgs von DENK ist.

Aufschlussreich ist auch ein Vergleich mit Israel, der ersten westlichen Demokratie in der Einwandererparteien erfolgreich waren. In Israel erlangten Parteien, welche Personen mit russischem Migrationshintergrund vertreten, bereits in den 1990er Jahren mehr als 5% Wähleranteil. Wie in den Niederlanden kennt auch Israel ein stark proportionales Wahlsystem und wie in den Niederlanden wurden die Präferenzen einer Migrantengruppe von den etablierten Parteien kaum repräsentiert. So ist ein großer Teil der Israelis mit russischem Migrationshintergrund stark säkular und gleichzeitig in Fragen der nationalen Sicherheit rechts orientiert – eine Kombination, die weder zu den religiösen "Falken" der politischen Rechten noch zu den säkularen "Tauben" passte. In Kombination mit dem proportionalen Wahlsystem erlaubte dies neuen Parteien, welche spezifisch russische Migrantinnen mobilisierten, sich zu etablieren.

Insgesamt spricht also vieles dafür, dass nur eine Kombination von stark proportionalem Wahlsystem mit einer relativ grossen Gruppe von Migrantinnen, welche politische Präferenzen haben, die sich systematisch von den anderen Gesellschaftsgruppen unterscheiden, Migrantenparteien einen gewissen Erfolg ermöglichen. Weil diese Kombination in näherer Zukunft kaum in anderen europäischen Ländern gegeben sein wird, dürften erfolgreiche Migrantenparteien wie DENK weiterhin die Ausnahme bleiben.


Referenz: