Die Frauen an der Glarner Landsgemeinde: Stimmen «ja», sprechen «jein»?

Ver­schie­de­ne Stu­di­en jün­ge­ren Datums gehen davon aus, dass sich die Frau­en in der Schweiz mitt­ler­wei­le ähn­lich häu­fig an Urnen­ab­stim­mun­gen betei­li­gen wie die Män­ner, oder dass sich die geschlechts­spe­zi­fi­schen Unter­schie­de nur noch bei der älte­ren Bevöl­ke­rung zei­gen. Doch ver­schwin­det der Gen­der Gap auch in der Ver­samm­lungs­de­mo­kra­tie? Ergeb­nis­se am Bei­spiel der Lands­ge­mein­de in Gla­rus zei­gen einen abneh­men­den Gen­der Gap hin­sicht­lich der Teil­nah­me. Bezüg­lich Rede­be­reit­schaft bleibt er hin­ge­gen bestän­dig und gross.

Obwohl die Par­ti­zi­pa­ti­on an der Lands­ge­mein­de an sich eine schran­ken­lo­se Par­ti­zi­pa­ti­on ermög­licht, die nicht an das Vor­han­den­sein von Netz­wer­ken oder das Inne­ha­ben einer gewis­sen Posi­ti­on geknüpft ist – so kann etwa jeder Stimm­bür­ger und jede Stimm­bür­ge­rin an der Lands­ge­mein­de das Wort ergrei­fen und dort einen Ände­rungs­an­trag ein­brin­gen, über den in der Fol­ge abge­stimmt wird –, lie­gen der Lands­ge­mein­de auch Mecha­nis­men zu Grun­de, die eine gleich­be­rech­tig­te Teil­nah­me erschwe­ren könn­ten. So kann im Kan­ton Gla­rus nur stim­men, wer an der am ers­ten Sonn­tag im Mai statt­fin­den­den Lands­ge­mein­de anwe­send ist. Unter ande­rem für Per­so­nen mit Betreu­ungs­pflich­ten könn­te dies eine zusätz­li­che Hür­de dar­stel­len. Wei­ter erfolgt die Stimm­ab­ga­be öffent­lich durch Hand­er­he­ben, was eine Bereit­schaft zur Offen­le­gung der eige­nen Posi­ti­on und gege­be­nen­falls auch der Ver­tei­di­gung die­ser vor­aus­setzt. Ein hohes Mass an (poli­ti­schem) Selbst­ver­trau­en und sprach­li­cher Gewandt­heit erfor­dert nicht zuletzt der Ent­schluss, an der Lands­ge­mein­de eine Rede zu hal­ten. Frau­en, deren poli­ti­sche Teil­ha­be erst seit den 1970er Jah­ren mög­lich ist und noch viel län­ger kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit war, wei­sen nach wie vor häu­fig ein tie­fe­res Wis­sen über und ein gerin­ge­res Inter­es­se an der tra­di­tio­nel­len Poli­tik auf – ein Umstand, der sich auch in unse­ren Daten zeigt. Auch aus die­sen Grün­den wür­den wir eine tie­fe­re Rede­be­reit­schaft bei den Glar­ne­rin­nen erwarten.

Die Ergeb­nis­se unse­res Regres­si­ons­mo­dells zei­gen, dass Per­so­nen mit min­der­jäh­ri­gen Kin­dern tat­säch­lich signi­fi­kant sel­te­ner an der Lands­ge­mein­de teil­neh­men. Hin­ge­gen gilt die­ser Effekt sowohl für Frau­en als auch für Män­ner. Kon­trol­lie­ren wir in unse­rem Modell für Fak­to­ren der poli­ti­schen Moti­va­ti­on – neben dem poli­ti­schen Inter­es­se und Wis­sen auch für die inter­ne Wirk­sam­keit und die Par­tei­mit­glied­schaft – gleicht sich die Par­ti­zi­pa­ti­on der Frau­en der­je­ni­gen der Män­ner an, wenn es um die Fra­ge der Teil­nah­me an der Lands­ge­mein­de geht. Unse­re Model­le sug­ge­rie­ren jedoch, dass sich der Gen­der Gap in der Fra­ge der Rede­be­reit­schaft auch bei ver­gleich­ba­ren Wer­ten für die poli­ti­sche Moti­va­ti­on kaum ver­rin­gert. Auch nach Kon­trol­le ver­schie­de­ner sozio­öko­no­mi­scher Cha­rak­te­ris­ti­ken, Netz­werk­va­ria­blen und Fak­to­ren der poli­ti­schen Moti­va­ti­on ver­bleibt eine signi­fi­kan­te Dif­fe­renz in der Rede­be­reit­schaft zwi­schen Frau­en und Män­nern, die in unse­ren Model­len für eine durch­schnitt­li­che Beob­ach­tung etwas über 30 Pro­zent­punk­te beträgt (vgl. Abbil­dung 1). Und wäh­rend sich der Gen­der Gap bei der Lands­ge­mein­de-Teil­nah­me ana­log zur Teil­nah­me an der Urne vor allem für die jün­ge­re Bevöl­ke­rung schliesst, sind auch jun­ge Frau­en in unse­rer Umfra­ge signi­fi­kant weni­ger oft bereit, an der Lands­ge­mein­de eine Rede zu halten.

Abbildung 1 — Beteiligung an der Glarner Landsgemeinde nach Geschlecht

Unse­re Stu­die schliesst mit meh­re­ren Fra­ge­zei­chen. Gibt es einen Man­gel an Rol­len­mo­del­len? Mit­te der 1990er Jah­re stamm­te jeder zehn­te Bei­trag an der Glar­ner Lands­ge­mein­de von einer Frau, aktu­ell immer­hin jeder fünf­te, womit die Sicht­bar­keit der Frau­en am Red­ner­pult zwar deut­lich gestie­gen, aber deren Auf­tritt am Red­ner­pult allen­falls noch immer nicht zu einer Selbst­ver­ständ­lich­keit gewor­den ist. Ent­spricht die an der Lands­ge­mein­de geleb­te Art der Poli­tik, die das Öffent­lich­ma­chen der eige­nen Posi­tio­nen vor­aus­setzt und von einer aus­ge­präg­ten Dis­kus­si­ons­kul­tur geprägt ist, den Glar­ner Frau­en (noch) weni­ger? Wei­te­re Aus­wer­tun­gen las­sen zumin­dest dar­auf hin­deu­ten, dass Frau­en an der Lands­ge­mein­de eben­so sach­lich argu­men­tie­ren wie Män­ner und dass Anträ­ge, die auch durch Frau­en ver­tre­ten wer­den, kei­nes­wegs weni­ger erfolg­reich sind als sol­che, die ledig­lich Män­ner ver­tre­ten. Dass das poli­ti­sche Selbst­ver­trau­en von Frau­en, nach­dem sie Jahr­hun­der­te­lang der Lands­ge­mein­de nur als Zuschaue­rin­nen bei­woh­nen konn­ten, im Ring noch weni­ger aus­ge­prägt ist, zeigt sich hin­ge­gen mit unse­ren Daten (vgl. Muel­ler et al. 2021); Wenn Frau­en eine Min­der­hei­ten­po­si­ti­on ver­tre­ten, neh­men sie deut­lich sel­te­ner an der Lands­ge­mein­de teil, wenn sie allei­ne gehen müss­ten und sich nicht in einem «geschütz­ten Rah­men» bewe­gen könn­ten, was etwa durch die Beglei­tung durch Freun­de oder Fami­li­en­mit­glie­der mög­lich wäre. Die Teil­nah­me­wahr­schein­lich­keit für Män­ner in einer Min­der­hei­ten­po­si­ti­on ist in unse­ren Daten deut­lich weni­ger stark abhän­gig von der Fra­ge der Begleitung.

Daten und Methode
Die Daten zu die­ser Stu­die ver­dan­ken wir der intrinsisch moti­vier­ten Mit­ar­beit einer Grup­pe von Stu­die­ren­den sowie diver­sen Ange­hö­ri­gen des Insti­tuts für Poli­tik­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Bern und der Unter­stüt­zung des Kan­tons Gla­rus. Für die Umfra­ge, die im Rah­men einer Semi­nar­ar­beit ent­stand, stan­den kei­ne For­schungs­gel­der zur Ver­fü­gung. Die Stu­di­en­teil­neh­men­den wur­den zum einen direkt über eine Email­lis­te, die der Kan­ton für eine vor­gän­gig durch­ge­führ­te Mar­ke­ting­stu­die gesam­melt hat, zur Teil­nah­me an der Online-Umfra­ge ein­ge­la­den und dar­über hin­aus vor allem via Wer­bung in loka­len Medi­en rekru­tiert. Die Daten umfas­sen etwas über 800 Teil­neh­men­de und wei­sen eine aus­ge­wo­ge­ne Ver­tei­lung der links-rechts-Ska­la sowie der Gemein­de­zu­ge­hö­rig­keit aus. Mit Aus­nah­me der ältes­ten Alters­ka­te­go­rie sind alle Alters­grup­pen gut ver­tre­ten. Poli­tisch stark Inter­es­sier­te und Män­ner sind in unse­rer Umfra­ge über- und Per­so­nen mit tie­fem Bil­dungs­stand unter­ver­tre­ten. Die hoch­si­gni­fi­kan­te Dif­fe­renz zwi­schen Frau­en und Män­nern bei der Rede­be­reit­schaft bleibt auch bestehen, wenn die Daten anhand sozio­de­mo­gra­phi­scher Varia­blen gewich­tet werden.

Die Abbil­dung 1 zeigt vor­her­ge­sag­te Wahr­schein­lich­kei­ten für die Teil­nah­me an der Lands­ge­mein­de 2015 sowie für die gene­rel­le Bereit­schaft, ein­mal an der Lands­ge­mein­de eine Rede zu hal­ten (inkl. 95%-Konfidenzintervalle). Die Model­le wur­den unter Kon­trol­le ver­schie­de­ner sozio­öko­no­mi­scher Varia­blen (Alter, Bil­dung, Ein­kom­men, Gemein­de­zu­ge­hö­rig­keit, Arbeits­tä­tig­keit, Kin­der im Haus­halt), der poli­ti­schen Ori­en­tie­rung, ver­schie­de­ner Netz­werk­va­ria­blen (Ein­per­so­nen­haus­halt, Ver­eins- und Par­tei­mit­glied­schaft, Grös­se des Freun­des­krei­ses in Gla­rus) und Fak­to­ren der poli­ti­scher Moti­va­ti­on (poli­ti­sches Inter­es­se und Wis­sen, poli­ti­sches Amt, inter­ne Wirk­sam­keit) erstellt und zei­gen die vor­her­ge­sag­ten Wahr­schein­lich­kei­ten für eine mitt­le­re Beobachtung.

Hin­weis: Die­ser Bei­trag ist die schrift­li­che Kurz­fas­sung des Refe­rats der Autorin, gehal­ten am 18. März 2021 im Rah­men der 13. Aar­gau­er Demo­kra­tietage des Zen­trums für Demo­kra­tie, Aarau. 


Refe­ren­zen:

  • Ger­ber, Mar­lè­ne, Hans-Peter Schaub und Sean Muel­ler (2019). O sis­ter, whe­re art thou? Theo­ry and evi­dence on fema­le par­ti­ci­pa­ti­on at citi­zen assem­blies. Euro­pean Jour­nal of Gen­der and Poli­tics 2(2): 173–195. https://doi.org/10.1332/251510819X15471289106095
  • Muel­ler, Sean, Mar­lè­ne Ger­ber und Hans-Peter Schaub (2021). Demo­cra­cy bey­ond secrecy. Asses­sing the pro­mi­ses and pit­falls of collec­ti­ve voting. Swiss Poli­ti­cal Sci­ence Review 27(1): 61–83. https://doi.org/10.1111/spsr.12422

Bild: landsgemeinde.gl.ch

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