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Die Frauen an der Glarner Landsgemeinde: Stimmen «ja», sprechen «jein»?

Marlène Gerber
28th April 2021

Verschiedene Studien jüngeren Datums gehen davon aus, dass sich die Frauen in der Schweiz mittlerweile ähnlich häufig an Urnenabstimmungen beteiligen wie die Männer, oder dass sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede nur noch bei der älteren Bevölkerung zeigen. Doch verschwindet der Gender Gap auch in der Versammlungsdemokratie? Ergebnisse am Beispiel der Landsgemeinde in Glarus zeigen einen abnehmenden Gender Gap hinsichtlich der Teilnahme. Bezüglich Redebereitschaft bleibt er hingegen beständig und gross.

Obwohl die Partizipation an der Landsgemeinde an sich eine schrankenlose Partizipation ermöglicht, die nicht an das Vorhandensein von Netzwerken oder das Innehaben einer gewissen Position geknüpft ist – so kann etwa jeder Stimmbürger und jede Stimmbürgerin an der Landsgemeinde das Wort ergreifen und dort einen Änderungsantrag einbringen, über den in der Folge abgestimmt wird –, liegen der Landsgemeinde auch Mechanismen zu Grunde, die eine gleichberechtigte Teilnahme erschweren könnten. So kann im Kanton Glarus nur stimmen, wer an der am ersten Sonntag im Mai stattfindenden Landsgemeinde anwesend ist. Unter anderem für Personen mit Betreuungspflichten könnte dies eine zusätzliche Hürde darstellen. Weiter erfolgt die Stimmabgabe öffentlich durch Handerheben, was eine Bereitschaft zur Offenlegung der eigenen Position und gegebenenfalls auch der Verteidigung dieser voraussetzt. Ein hohes Mass an (politischem) Selbstvertrauen und sprachlicher Gewandtheit erfordert nicht zuletzt der Entschluss, an der Landsgemeinde eine Rede zu halten. Frauen, deren politische Teilhabe erst seit den 1970er Jahren möglich ist und noch viel länger keine Selbstverständlichkeit war, weisen nach wie vor häufig ein tieferes Wissen über und ein geringeres Interesse an der traditionellen Politik auf – ein Umstand, der sich auch in unseren Daten zeigt. Auch aus diesen Gründen würden wir eine tiefere Redebereitschaft bei den Glarnerinnen erwarten.

Die Ergebnisse unseres Regressionsmodells zeigen, dass Personen mit minderjährigen Kindern tatsächlich signifikant seltener an der Landsgemeinde teilnehmen. Hingegen gilt dieser Effekt sowohl für Frauen als auch für Männer. Kontrollieren wir in unserem Modell für Faktoren der politischen Motivation – neben dem politischen Interesse und Wissen auch für die interne Wirksamkeit und die Parteimitgliedschaft – gleicht sich die Partizipation der Frauen derjenigen der Männer an, wenn es um die Frage der Teilnahme an der Landsgemeinde geht. Unsere Modelle suggerieren jedoch, dass sich der Gender Gap in der Frage der Redebereitschaft auch bei vergleichbaren Werten für die politische Motivation kaum verringert. Auch nach Kontrolle verschiedener sozioökonomischer Charakteristiken, Netzwerkvariablen und Faktoren der politischen Motivation verbleibt eine signifikante Differenz in der Redebereitschaft zwischen Frauen und Männern, die in unseren Modellen für eine durchschnittliche Beobachtung etwas über 30 Prozentpunkte beträgt (vgl. Abbildung 1). Und während sich der Gender Gap bei der Landsgemeinde-Teilnahme analog zur Teilnahme an der Urne vor allem für die jüngere Bevölkerung schliesst, sind auch junge Frauen in unserer Umfrage signifikant weniger oft bereit, an der Landsgemeinde eine Rede zu halten.

Abbildung 1 - Beteiligung an der Glarner Landsgemeinde nach Geschlecht

Unsere Studie schliesst mit mehreren Fragezeichen. Gibt es einen Mangel an Rollenmodellen? Mitte der 1990er Jahre stammte jeder zehnte Beitrag an der Glarner Landsgemeinde von einer Frau, aktuell immerhin jeder fünfte, womit die Sichtbarkeit der Frauen am Rednerpult zwar deutlich gestiegen, aber deren Auftritt am Rednerpult allenfalls noch immer nicht zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Entspricht die an der Landsgemeinde gelebte Art der Politik, die das Öffentlichmachen der eigenen Positionen voraussetzt und von einer ausgeprägten Diskussionskultur geprägt ist, den Glarner Frauen (noch) weniger? Weitere Auswertungen lassen zumindest darauf hindeuten, dass Frauen an der Landsgemeinde ebenso sachlich argumentieren wie Männer und dass Anträge, die auch durch Frauen vertreten werden, keineswegs weniger erfolgreich sind als solche, die lediglich Männer vertreten. Dass das politische Selbstvertrauen von Frauen, nachdem sie Jahrhundertelang der Landsgemeinde nur als Zuschauerinnen beiwohnen konnten, im Ring noch weniger ausgeprägt ist, zeigt sich hingegen mit unseren Daten (vgl. Mueller et al. 2021); Wenn Frauen eine Minderheitenposition vertreten, nehmen sie deutlich seltener an der Landsgemeinde teil, wenn sie alleine gehen müssten und sich nicht in einem «geschützten Rahmen» bewegen könnten, was etwa durch die Begleitung durch Freunde oder Familienmitglieder möglich wäre. Die Teilnahmewahrscheinlichkeit für Männer in einer Minderheitenposition ist in unseren Daten deutlich weniger stark abhängig von der Frage der Begleitung.

Daten und Methode
Die Daten zu dieser Studie verdanken wir der intrinsisch motivierten Mitarbeit einer Gruppe von Studierenden sowie diversen Angehörigen des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Bern und der Unterstützung des Kantons Glarus. Für die Umfrage, die im Rahmen einer Seminararbeit entstand, standen keine Forschungsgelder zur Verfügung. Die Studienteilnehmenden wurden zum einen direkt über eine Emailliste, die der Kanton für eine vorgängig durchgeführte Marketingstudie gesammelt hat, zur Teilnahme an der Online-Umfrage eingeladen und darüber hinaus vor allem via Werbung in lokalen Medien rekrutiert. Die Daten umfassen etwas über 800 Teilnehmende und weisen eine ausgewogene Verteilung der links-rechts-Skala sowie der Gemeindezugehörigkeit aus. Mit Ausnahme der ältesten Alterskategorie sind alle Altersgruppen gut vertreten. Politisch stark Interessierte und Männer sind in unserer Umfrage über- und Personen mit tiefem Bildungsstand untervertreten. Die hochsignifikante Differenz zwischen Frauen und Männern bei der Redebereitschaft bleibt auch bestehen, wenn die Daten anhand soziodemographischer Variablen gewichtet werden.

Die Abbildung 1 zeigt vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten für die Teilnahme an der Landsgemeinde 2015 sowie für die generelle Bereitschaft, einmal an der Landsgemeinde eine Rede zu halten (inkl. 95%-Konfidenzintervalle). Die Modelle wurden unter Kontrolle verschiedener sozioökonomischer Variablen (Alter, Bildung, Einkommen, Gemeindezugehörigkeit, Arbeitstätigkeit, Kinder im Haushalt), der politischen Orientierung, verschiedener Netzwerkvariablen (Einpersonenhaushalt, Vereins- und Parteimitgliedschaft, Grösse des Freundeskreises in Glarus) und Faktoren der politischer Motivation (politisches Interesse und Wissen, politisches Amt, interne Wirksamkeit) erstellt und zeigen die vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten für eine mittlere Beobachtung.

Hinweis: Dieser Beitrag ist die schriftliche Kurzfassung des Referats der Autorin, gehalten am 18. März 2021 im Rahmen der 13. Aargauer Demokratietage des Zentrums für Demokratie, Aarau. 


Referenzen:

  • Gerber, Marlène, Hans-Peter Schaub und Sean Mueller (2019). O sister, where art thou? Theory and evidence on female participation at citizen assemblies. European Journal of Gender and Politics 2(2): 173–195. https://doi.org/10.1332/251510819X15471289106095
  • Mueller, Sean, Marlène Gerber und Hans-Peter Schaub (2021). Democracy beyond secrecy. Assessing the promises and pitfalls of collective voting. Swiss Political Science Review 27(1): 61–83. https://doi.org/10.1111/spsr.12422

Bild: landsgemeinde.gl.ch