Covid-19: Weniger Grundrechtsbeschränkungen in Ländern mit hoher Demokratiequalität

Als die Coro­na-Pan­de­mie im Früh­jahr 2020 Euro­pa erreich­te, ergrif­fen sämt­li­che Staa­ten ein­schnei­den­de Mass­nah­men und schränk­ten dabei auch Grund­rech­te ein. Das Aus­mass war aber sehr unter­schied­lich. Die län­der­spe­zi­fi­sche Bedro­hungs­la­ge und die Res­sour­cen im Gesund­heits­we­sen erklä­ren die­se Unter­schie­de aber nur teil­wei­se. Eine Unter­su­chung in 34 euro­päi­schen Län­dern, basie­rend auf umfas­sen­den und teils tages­ak­tu­el­len Daten­rei­hen, zeigt nun auf, dass die Demo­kra­tie­qua­li­tät eines Lan­des die getrof­fe­nen Mass­nah­men im Kampf gegen Covid-19 eben­falls stark beeinflusst. 

Weniger gute Demokratien beschneiden Grundrechten überdurchschnittlich

Die For­sche­rin­nen und For­scher konn­ten einen kla­ren Zusam­men­hang zwi­schen der gene­rel­len Qua­li­tät der Demo­kra­tie in einem Land und der Här­te der ver­häng­ten Mass­nah­men nach­wei­sen. Ver­schie­de­ne ost- und süd­ost­eu­ro­päi­sche Staa­ten mit gerin­ger Demo­kra­tie­qua­li­tät reagier­ten mit Grund­rechts­be­schrän­kun­gen, die durch die Anzahl Covid-Todes­fäl­le oder mit dem Zustand des Gesund­heits­we­sens allein nicht erklär­bar sind. Umge­kehrt hiel­ten sich die skan­di­na­vi­schen Staa­ten mit Frei­heits­be­schrän­kun­gen sehr zurück, obschon sie teil­wei­se vie­le Covid-Tote zu bekla­gen hat­ten. Die Stu­die zeigt auch auf, dass in Län­dern mit einer abneh­men­den Demo­kra­tie­qua­li­tät die Exe­ku­ti­ve dazu ten­dier­te, ihre Macht in der Kri­se aus­zu­wei­ten. Bei­spie­le dafür sind Ungarn oder Ser­bi­en, wo die Demo­kra­tie bereits seit Län­ge­rem unter Druck steht. 

Demo­kra­tie­qua­li­tät im Sin­ne des Demo­kra­tie­ba­ro­me­ters ent­hält meh­re­re Teil­di­men­sio­nen: Schutz der Grund­rech­te, Rechts­staat­lich­keit und Gewal­ten­tei­lung. Nicht alle haben im Zusam­men­hang mit den Reak­tio­nen auf die Pan­de­mie die glei­che Bedeu­tung. Den gröss­ten Ein­fluss hat der Schutz der Grund­rech­te: Dort, wo die­se in nor­ma­len Zei­ten hoch­ge­hal­ten und geschützt wer­den, hal­ten sich die Regie­run­gen ten­den­zi­ell mit ein­schnei­den­den, unbe­fris­te­ten und pau­scha­len Beschrän­kun­gen zurück. Das­sel­be gilt, weni­ger aus­ge­prägt, auch für die Rechts­staat­lich­keit. Hin­ge­gen kor­re­liert die gegen­sei­ti­ge Kon­trol­le der Staats­ge­wal­ten kaum mit den Grundrechtsbeschränkungen.

Die blaue Linie illustriert den durchschnittlichen Zusammenhang zwischen dem Schutz der Grundrechte in den letzten 10 Jahren und der Beschränkung der Grundrechte während der Pandemie. Die graue Fläche zeigt das 95%-Vertrauensintervall für diesen Zusammenhang.

«Unse­re Stu­die zeigt, dass die Reak­ti­on der Regie­run­gen auf eine Pan­de­mie nicht nur zwi­schen Auto­kra­tien und Demo­kra­tien vari­iert, son­dern auch fei­ne Unter­schie­de in der Demo­kra­tie­qua­li­tät inner­halb Euro­pas eine Rol­le spie­len. Euro­päi­sche Län­der, die Frei­heits­rech­te in nor­ma­len Zei­ten hoch­hal­ten, tun dies auch in der Kri­se», sagt die For­sche­rin Sarah Eng­ler vom Zen­trum für Demo­kra­tie Aar­au (ZDA). 

Individuelle Freiheiten längerfristig im Vorteil?

Die Zurück­hal­tung der weit ent­wi­ckel­ten Demo­kra­tien bei Grund­rechts­be­schrän­kun­gen kann sich aller­dings bei der wirk­sa­men Bekämp­fung der Pan­de­mie in aku­ten Kri­sen­la­gen nach­tei­lig aus­wir­ken. Staa­ten mit einer gerin­gen Demo­kra­tie­qua­li­tät ten­die­ren umge­kehrt zu über­durch­schnitt­lich stren­gen Reak­tio­nen und schrän­ken die Frei­heit der Bevöl­ke­rung und die Wirt­schaft ver­gleichs­wei­se stär­ker ein. «Wir ver­mu­ten, dass die euro­päi­schen Län­der mit einer höhe­ren Demo­kra­tie­qua­li­tät bei der Bewäl­ti­gung von Pan­de­mien zumin­dest lang­fris­tig im Vor­teil sind. Die Bevöl­ke­rung ändert ihr Ver­hal­ten eher, wenn sie der Regie­rung ver­traut. Das ist bei­spiels­wei­se beim Social distancing oder für eine Impf­kam­pa­gne zen­tral», sagt Dani­el Küb­ler, Pro­fes­sor für Poli­tik­wis­sen­schaft am ZDA und an der Uni­ver­si­tät Zürich.

Schweizer Sonderfall

Die Schweiz bestä­tigt zunächst den euro­päi­schen Trend: Best­no­ten bezüg­lich Demo­kra­tie­qua­li­tät in nor­ma­len Zei­ten, rela­tiv gerin­ge Ein­schrän­kun­gen der indi­vi­du­el­len Frei­hei­ten in Kri­sen­zei­ten. Trotz­dem ver­hielt sich die Schweiz wäh­rend der ers­ten Covid-19-Wel­le in ver­schie­de­ner Hin­sicht aty­pisch. So schränk­te sie die Grund­rech­te viel weni­ger ein als der Durch­schnitt der euro­päi­schen Staa­ten, trotz ver­gleich­ba­rer Covid-Fall­zah­len und ‑Todes­fäl­len. Gleich­zei­tig regier­te der Bun­des­rat wäh­rend lan­ger Zeit mit Not­recht, das Par­la­ment konn­te die Ent­schei­de erst nach­träg­lich pro for­ma bestä­ti­gen. Der Macht­kon­zen­tra­ti­ons-Index, ver­or­tet die Schweiz in der Nähe von Alba­ni­en, Kroa­ti­en oder Rumä­ni­en. Die Schweiz ist dies­be­züg­lich in der ers­ten Wel­le ein Son­der­fall, als sie das ein­zi­ge Land mit einer Macht­bal­lung bei der Regie­rung ist, wel­ches die Grund­rech­te ver­gleichs­wei­se wenig ein­ge­schränkt hat. In der zwei­ten Wel­le hin­ge­gen wur­de auch in der Schweiz nicht mehr mit Not­recht regiert.

Daten und Methoden
Für die sta­tis­ti­schen Ana­ly­sen wur­den ver­schie­de­ne kom­ple­xe und teils tages­ak­tu­el­le Daten­sät­ze ver­wen­det: den am Zen­trum für Demo­kra­tie Aar­au ent­wi­ckel­ten Demo­kra­tie­ba­ro­me­ter und den Oxford COVID-19 Government Respon­se Tra­cker. Aus­ser­dem wur­den Daten­rei­hen aus dem V‑Dem Pro­jekt der Uni­ver­si­tät Göte­borg ver­wen­det.
Um her­aus­zu­fin­den, wes­halb die ein­zel­nen Län­der ver­schie­den auf die Pan­de­mie reagier­ten, wur­den in einem sta­tis­ti­schen Ver­fah­ren meh­re­re poten­zi­el­le Ein­fluss­fak­to­ren getes­tet (Quer­schnitts­re­gres­si­on). Die ver­wen­de­ten Daten­sät­ze der Uni­ver­si­tä­ten Oxford (Mass­nah­men der Län­der) und Göte­borg (Ver­schie­bung der Mach­ba­lan­ce), die Daten­rei­hen mit den Covid-Fäl­len und den Spi­tal­ka­pa­zi­tä­ten sowie das Demo­kra­tie­ba­ro­me­ter mit 98 Teil-Dimen­sio­nen stel­len eine robus­te Daten­ba­sis auch für Mes­sun­gen in kur­zen Zeit­ab­stän­den dar.


Refe­renz:

Eng­ler, Sarah, Palmo Brun­ner, Roma­ne Loviat, Tarik Abou-Cha­di, Lucas Lee­mann, Andre­as Gla­ser und Dani­el Küb­ler (2021): Demo­cra­cy in times of the pan­de­mic: Exp­lai­ning the varia­ti­on of COVID-19 poli­ci­es across Euro­pean demo­cra­ci­es. West Euro­pean Politics.

Finan­zie­rung: Uni­ver­si­tät Zürich, Covid-19 Seed Funds 2020. 

Bild: Freepix

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