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Covid-19: Weniger Grundrechtsbeschränkungen in Ländern mit hoher Demokratiequalität

Sarah Engler, Romane Loviat, Palmo Brunner, Tarik Abou-Chadi, Lucas Leemann, Andreas Glaser, Daniel Kübler
8th April 2021

Als die Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 Europa erreichte, ergriffen sämtliche Staaten einschneidende Massnahmen und schränkten dabei auch Grundrechte ein. Das Ausmass war aber sehr unterschiedlich. Die länderspezifische Bedrohungslage und die Ressourcen im Gesundheitswesen erklären diese Unterschiede aber nur teilweise. Eine Untersuchung in 34 europäischen Ländern, basierend auf umfassenden und teils tagesaktuellen Datenreihen, zeigt nun auf, dass die Demokratiequalität eines Landes die getroffenen Massnahmen im Kampf gegen Covid-19 ebenfalls stark beeinflusst. 

Weniger gute Demokratien beschneiden Grundrechten überdurchschnittlich

Die Forscherinnen und Forscher konnten einen klaren Zusammenhang zwischen der generellen Qualität der Demokratie in einem Land und der Härte der verhängten Massnahmen nachweisen. Verschiedene ost- und südosteuropäische Staaten mit geringer Demokratiequalität reagierten mit Grundrechtsbeschränkungen, die durch die Anzahl Covid-Todesfälle oder mit dem Zustand des Gesundheitswesens allein nicht erklärbar sind. Umgekehrt hielten sich die skandinavischen Staaten mit Freiheitsbeschränkungen sehr zurück, obschon sie teilweise viele Covid-Tote zu beklagen hatten. Die Studie zeigt auch auf, dass in Ländern mit einer abnehmenden Demokratiequalität die Exekutive dazu tendierte, ihre Macht in der Krise auszuweiten. Beispiele dafür sind Ungarn oder Serbien, wo die Demokratie bereits seit Längerem unter Druck steht. 

Demokratiequalität im Sinne des Demokratiebarometers enthält mehrere Teildimensionen: Schutz der Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung. Nicht alle haben im Zusammenhang mit den Reaktionen auf die Pandemie die gleiche Bedeutung. Den grössten Einfluss hat der Schutz der Grundrechte: Dort, wo diese in normalen Zeiten hochgehalten und geschützt werden, halten sich die Regierungen tendenziell mit einschneidenden, unbefristeten und pauschalen Beschränkungen zurück. Dasselbe gilt, weniger ausgeprägt, auch für die Rechtsstaatlichkeit. Hingegen korreliert die gegenseitige Kontrolle der Staatsgewalten kaum mit den Grundrechtsbeschränkungen.

Die blaue Linie illustriert den durchschnittlichen Zusammenhang zwischen dem Schutz der Grundrechte in den letzten 10 Jahren und der Beschränkung der Grundrechte während der Pandemie. Die graue Fläche zeigt das 95%-Vertrauensintervall für diesen Zusammenhang.

«Unsere Studie zeigt, dass die Reaktion der Regierungen auf eine Pandemie nicht nur zwischen Autokratien und Demokratien variiert, sondern auch feine Unterschiede in der Demokratiequalität innerhalb Europas eine Rolle spielen. Europäische Länder, die Freiheitsrechte in normalen Zeiten hochhalten, tun dies auch in der Krise», sagt die Forscherin Sarah Engler vom Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA). 

Individuelle Freiheiten längerfristig im Vorteil?

Die Zurückhaltung der weit entwickelten Demokratien bei Grundrechtsbeschränkungen kann sich allerdings bei der wirksamen Bekämpfung der Pandemie in akuten Krisenlagen nachteilig auswirken. Staaten mit einer geringen Demokratiequalität tendieren umgekehrt zu überdurchschnittlich strengen Reaktionen und schränken die Freiheit der Bevölkerung und die Wirtschaft vergleichsweise stärker ein. «Wir vermuten, dass die europäischen Länder mit einer höheren Demokratiequalität bei der Bewältigung von Pandemien zumindest langfristig im Vorteil sind. Die Bevölkerung ändert ihr Verhalten eher, wenn sie der Regierung vertraut. Das ist beispielsweise beim Social distancing oder für eine Impfkampagne zentral», sagt Daniel Kübler, Professor für Politikwissenschaft am ZDA und an der Universität Zürich.

Schweizer Sonderfall

Die Schweiz bestätigt zunächst den europäischen Trend: Bestnoten bezüglich Demokratiequalität in normalen Zeiten, relativ geringe Einschränkungen der individuellen Freiheiten in Krisenzeiten. Trotzdem verhielt sich die Schweiz während der ersten Covid-19-Welle in verschiedener Hinsicht atypisch. So schränkte sie die Grundrechte viel weniger ein als der Durchschnitt der europäischen Staaten, trotz vergleichbarer Covid-Fallzahlen und -Todesfällen. Gleichzeitig regierte der Bundesrat während langer Zeit mit Notrecht, das Parlament konnte die Entscheide erst nachträglich pro forma bestätigen. Der Machtkonzentrations-Index, verortet die Schweiz in der Nähe von Albanien, Kroatien oder Rumänien. Die Schweiz ist diesbezüglich in der ersten Welle ein Sonderfall, als sie das einzige Land mit einer Machtballung bei der Regierung ist, welches die Grundrechte vergleichsweise wenig eingeschränkt hat. In der zweiten Welle hingegen wurde auch in der Schweiz nicht mehr mit Notrecht regiert.

Daten und Methoden
Für die statistischen Analysen wurden verschiedene komplexe und teils tagesaktuelle Datensätze verwendet: den am Zentrum für Demokratie Aarau entwickelten Demokratiebarometer und den Oxford COVID-19 Government Response Tracker. Ausserdem wurden Datenreihen aus dem V-Dem Projekt der Universität Göteborg verwendet.
Um herauszufinden, weshalb die einzelnen Länder verschieden auf die Pandemie reagierten, wurden in einem statistischen Verfahren mehrere potenzielle Einflussfaktoren getestet (Querschnittsregression). Die verwendeten Datensätze der Universitäten Oxford (Massnahmen der Länder) und Göteborg (Verschiebung der Machbalance), die Datenreihen mit den Covid-Fällen und den Spitalkapazitäten sowie das Demokratiebarometer mit 98 Teil-Dimensionen stellen eine robuste Datenbasis auch für Messungen in kurzen Zeitabständen dar.



Referenz:

Engler, Sarah, Palmo Brunner, Romane Loviat, Tarik Abou-Chadi, Lucas Leemann, Andreas Glaser und Daniel Kübler (2021): Democracy in times of the pandemic: Explaining the variation of COVID-19 policies across European democracies. West European Politics.

Finanzierung: Universität Zürich, Covid-19 Seed Funds 2020. 

Bild: Freepix